Michael Geyer (Hrsg.): Psychotherapie in Ostdeutschland
Rezensiert von Prof. Dr. Eckhard Giese, 21.02.2012

Michael Geyer (Hrsg.): Psychotherapie in Ostdeutschland. Geschichte und Geschichten 1945 - 1995 ; mit 5 Tabellen. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2011. 951 Seiten. ISBN 978-3-525-40177-4. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 66,90 sFr.
Thema
„Das umfassende Überblickswerk schildert die Entwicklungslinien der Psychotherapie in Ostdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Wendezeit hinein. Geschichten aus dem psychotherapeutischen Alltag sowie Interviews und Berichten von Zeitzeugen schließen die übersichtlich strukturierten Kapitel ab. Die Frage, wie es den meisten Psychotherapeuten in der DDR-Diktatur gelang, trotz Stasi und politischer Indoktrination ihre Integrität aufrecht zu erhalten und den Anschluss an internationale Entwicklungen herzustellen, durchzieht alle Beiträge“. Solchermaßen ist der vorliegende Herausgeberband nach Anspruch und Machart auf dem Einband beschrieben.
Herausgeber
Der Herausgeber, Prof. Dr. med. Michael Geyer, war bis zu seiner Emeritierung Direktor der Klinik für Psychotherapie und psychosomatische Medizin der Universität Leipzig und leitet nunmehr die Akademie für Psychotherapie Erfurt. Er hat sich und unzähligen Mitstreitern Zeugnis über 50Jahre Psychotherapieentwicklung in der DDR/ Ostdeutschland abgelegt. Das enorm dokumenten- und faktenreiche Werk ist ein Lesebuch und Nachschlagewerk voller Dokumente, persönlicher Geschichten und vor allem auch zeitgeschichtlicher Rahmenereignisse. Schon vom Umfang her wird es wohl kaum in einem Rutsch verschlungen werden. Das Buch ist nicht zuletzt aufgrund der Vielzahl der Beitragenden heterogen verfasst, ohne auseinanderzufallen: eine Herkulesarbeit! Auf der Basis einer akribischen Archivierung liegt hier ein facettenreicher Forschungsbericht vor, der wesentliche Etappen der Psychotherapieentwicklung umfassend dokumentiert.
Aufbau
Das Buch ist chronologisch gegliedert.
- Kapitel 1: 1945 bis 1949 Nachkriegszeit;
- Kapitel 2: 1950 bis 1959 Pawlow und die Folgen;
- Kapitel 3: 1960 bis 1969 beginnende Institutionalisierung;
- Kapitel 4: 1970 bis 1979 Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung;
- Kapitel 5: 1980 bis 1989 Wege der Emanzipation;
- Kapitel 6: 1990 bis 1995 :Wende und Nachwendezeit.
An den Anfang jedes Kapitels stellt der Herausgeber einen zusammenfassenden Überblick, sodann folgen Einzelbeiträge, die beispielsweise die Psychotherapie in der Sowjetischen Besatzungszone, hier die „Anfänge in Jena 1945 bis 1959“ oder einzelne Pioniere wie bspw. Ehrig Wartegg würdigen. Vielfach werden lokale Entwicklungen („Psychotherapie an der Bezirksnervenklinik Uchtspringe 1964 bis 1981“) nachgezeichnet oder das Wirken einzelner Persönlichkeiten („Kurt Höck- Seine Visionen und seine neoanalytische Sichtweise“) gewürdigt. Protagonisten der jeweiligen Therapierichtungen referieren ihre Erfahrungen im Rückblick.
Die Darstellung wird durch persönliche Erfahrungen/ Anekdoten, aber auch Protokolle von Sektionssitzungen und die Entwicklungen in den Verbänden ergänzt. Durch diese Darstellungsweise ergibt sich ein hoch detailliertes und spezifisches Material, das für den Leser vermutlich in dem Ausmaß interessant ist, wie entweder persönliche Erfahrungen oder persönliche Bekanntschaften oder eine fachliche Nähe zum dargestellten Ereignis vorliegen.
Kapitel 1: 1945 bis 1949 Nachkriegszeit
Obschon kein Lehrbuch der klinischen Psychologie und Psychotherapie, enthält das Buch viele auch paradigmatische Abschnitte. Über den einflussreichen Hypnotismus (33); die Entwicklung der freudianischen Psychoanalyse, der Verhaltenstherapie und der Gesprächspsychotherapie finden sich grundlegende Skizzen. Dies gilt auch für die Entwicklung der Nachkriegspsychotherapie in Ost und West: beide hatten ein historisches Erbe zu bearbeiten.
Wie hoch entwickelt die Psychotherapie gerade auch in Leipzig vor dem Krieg war, zeichnet Michael Geyer am Beispiel der Leipziger Arbeitsgemeinschaft der deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse nach, die einmal ein Kristallisationspunkt gewesen war und nun ab 1933 zunehmend konspirativ tätig wurde. Die Verwicklung damalig prominenter Psychoanalytiker beim „biologischen Schutz der Rasse“ wird im Detail nachgezeichnet. Nach dem Ende des „1.000 jährigen Reiches“ ist in Sachsen wenig von den viel versprechenden Entwicklungen der Weimarer Republik übrig geblieben Der Versuch der Reinstitutionalisierung der Psychoanalyse an der Universität Leipzig durch Alexander Beerholdt wird gewürdigt, Gerhardt Klumbies gilt als ein Pionier der Psychosomatik an der Friedrich-Schiller Universität in Jena.
Kapitel 2: 1950 bis 1959. Pawlow und die Folgen
Im zweiten Kapitel geht es um Pawlow und die Folgen. Wie vielleicht auch manchem westdeutschen Leser geläufig, wurde der St. Petersburger Neurologe und „Reflexologe“ (und Nobelpreisträger) Pawlow zum Kronzeugen einer sowjetisierten Psychologie. Diese mündete unter anderem in eine Schlaftherapie, die aufgrund von Beimedikation gar einige Todesfälle zur Folge hatte. Ausgerechnet die im Osten verbliebenen ausgebildeten Psychoanalytiker (Alexander Mette und Müller-Hegemann) wurden zu Kronzeugen dieses politisierten Pawlowissmus (98) und zur Speerspitze des Kampfes der SED gegen die Psychoanalyse. Dennoch scheitern die Versuche, die medizinische Wissenschaft politisch zu indoktrinieren bzw. sowjetisieren (90). Interessant: Der im Westen später populäre Regimekritiker Robert Havemann (!) veröffentlichte 1951 eine vernichtende ideologische Kritik der Psychoanalyse (91).
Die Einbeziehung von Psychologen in die psychotherapeutische Versorgung begann schon 1959 mit einem Dekret über die „Vergütung für Hochschulkader im Gesundheitswesen“. Der Verhaltenstherapeut Hans Jürgen Eysenk wird bereits 1967 in deutscher Sprache vom VEB deutscher Verlag der Wissenschaft in Berlin verbreitet. Eine Einladung an Eysenk im Jahr 1964 scheiterte aus Krankheitsgründen (104).
3. Kapitel 1960 – 1969 : Beginnende Institutionalisierung
Der Pawlowissmus ist gescheitert, 1966 gibt es ein internationales Symposium in Ostberlin, die erste größere Ost-West-Tagung nach Etablierung der DDR unter internationaler Beteiligung. In Bad Elster wird 1969 eine verbindliche Neurosendefinition diskutiert und verabschiedet. Eine Wiederannäherung an die Psychoanalyse ist zu verzeichnen; diese hatte übrigens zu Lenins Zeiten durchaus als kompatibel mit dem Marxismus gegolten (161). Es wird eine Diskrepanz zwischen der ideologischen Ächtung der Psychoanalyse und der Anerkennung ihrer praktischen Bedeutung selbst durch ihre größten theoretisch ideologischen Feinde konstatiert (163).
Die Intendiert Dynamische Gruppenpsychotherapie (IDG) ) entsteht – ihre theoretischen Wurzeln und zentralen Konzepte werden in dem vorliegenden Buch eingehend dargelegt. Sie gilt als die zentrale und überdauernde Leistung des 2008 erstorbenen Kurt Höck, der ab 1964 seine neoanalytische Sichtweise im Gefolge Schultz-Henckes umsetzte. Das Reizwort Psychoanalyse wurde von ihm vermieden, die zu entwickelnde Therapie sollte mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR kompatibel sein(169).
Immer wieder kam es vor, dass auch prominente Vertreter der DDR-Psychotherapie „in den Westen gingen“, so z. B. der Direktor der Jenaer medizinischen Poliklinik, Kleinsorge, der am Tag des Mauerbaus dem 13. August 1961 ausreiste, um allerdings wenige Monate später über Berlin zurückzukommen, und zwar „mit einem starken Bekenntnis zum Sozialismus“, was in Jena und Berlin jeweils sehr unterschiedliche Reaktionen ausgelöst haben muss (199).
Die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe und ihr Einfluss auf die Psychotherapie der DDR“ werden von Geyer (203 ff) bis in die Gesprächsthemen und gar Fetenverläufe eingehend beschrieben – ein krasser Widerspruch zur offiziell gelebten DDR-Alltäglichkeit. Für Geyer selbst war die Psychotherapie „ein trojanisches Pferd, mit dem wir das Regime von innen her bekämpfen konnten“ (214)“ ; möglicherweise habe man aber Illusionen über die eigenen Möglichkeiten gehegt.
4. Kapitel 1970-1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung
In den siebziger Jahren entstanden landesweit in der gesamten DDR stationäre Psychotherapieabteilungen, wobei die bestehenden Kliniken in Berlin und Leipzig bzw. auch die Kliniken in Freiburg oder Tiefenbrunn bei Göttingen als Vorbilder dienten (243). Trotz aller Schwierigkeiten sei Anfang der siebziger Jahre die psychodynamische Psychotherapie die verbreitetste Therapierichtung in der DDR gewesen (244).
1974 wurde eine thematische Arbeitsgemeinschaft Gesprächspsychotherapie gegründet (249). Im Gefolge hat die Gesprächspsychotherapie (hier vor allem verbunden mit der Person Johannes Helm) eine weite Verbreitung in der DDR gefunden.
Klaus Weise (Leipzig) und Sabine Gollek beschreiben anschaulich, wie ihnen die Gesprächspsychotherapie als besonders kompatibel mit einem psychosozialen Krankheitsverständnis erschien, während „das interpretative Vorgehen in der Intendierten Dynamischen Therapie besonders invasiv, verletzend war, selbst für neurotische Störungen nicht unproblematisch“ (412). Die Umsetzung des Klientenzentrierten Ansatzes in der Leipziger Klinik wird eingehend geschildert und schließlich mit einem Zitat von Eva Jaeggi von 1980 kritisch gerahmt „Sie rief dazu auf, den Patienten nicht mit seinen subjektiven Gefühlen allein zu lassen und ihm bei der Suche nach der subjektiven Bedeutung von Sachverhalten zu helfen. Somit hat der Therapeut auch ein „Stück rationaler Erklärung“ zu leisten“ (419).
Verglichen mit meinem bisherigen Eindruck von der Verbreitung der Verhaltenstherapie in der DDR wird diese verhältnismäßig knapp dargelegt, z. B. durch Ilona Stoiber (509 f), die ihre Erfahrungen in der Suchthilfe beschreibt; weitere Beispiele geben Fröhlich (verhaltenstherapeutische Behandlung von Sexualstörungen; 516 ff) und in der Kinderneuropsychiatrie (Kinze, S.523ff.)
Unter den prominenten Autoren des Buches sticht zweifellos Hans-Joachim Maaz hervor, der seine Beiträge und seinen Werdegang eingehend schildert. So leitete Maaz von 1981 bis 1984 Hypnosekurse. „In der Psychotherapie der DDR war die Hypnotherapie praktisch zum Brennpunkt eines zentralen Konfliktes der DDR-Gesellschaft geworden, der zwischen dem überall vorherrschenden autoritär-repressiven Syndrom und einem beziehungsdynamisch orientierten Verständnis sozialer Strukturen bestand, der aber nicht öffentlich ausgetragen werden konnte“ (338). In der Maaz-typischen Diktion, resp.der Verbindung von Gesellschaftsanalyse und Psychotherapie (338) werden Gruppenprozesse, Einzelereignisse und theoretische Einsichten vermittelt.
Auch die Balint-Arbeit hatte in der DDR ihren Platz (348 f).
Die erste ambulante Psychotherapiestation in Erfurt entstand im Anschluss an die oben erwähnten Erfurter Selbsterfahrungsgruppen ab 1970. Die neu entstandene Einrichtung erlebte einen rasanten Andrang, der vornehmlich gruppentherapeutisch beantwortet wird, eine „Top-Adresse“ für effektive Psychotherapie“, die bis 1988 bestand (398).
Über verschiedene Kapitel des Buches referiert Agathe Israel die Entwicklung der Kinderpsychotherapie in der DDR. Den Auftakt ihrer eigenen beruflichen Sozialisation bildete die Mitwirkung bei der von ihr begeistert aufgenommenen Sozialpsychiatriereform in Leipzig in den 1970iger Jahren. „Der Alltag in der DDR – zumindest in den letzten Jahrzehnten – war kein Jammertal, sondern förderte auch die persönlichen Kräfte, Propaganda und Mängel zu entlarven und in verlässlichen Gruppen sich gegenseitig zu helfen, und machte Lust, kreativ zu sein.“ (117) schreibt sie. „Zu den introjizierten Einwirkungen gehört die Tendenz, aus der Freund-Feind- Perspektive eine „Sache“ verteidigen oder verurteilen zu müssen und damit konfliktgeladene Vieldeutigkeit zu vermeiden.“ Im gesellschaftlichen Bild der DDR der 50iger Jahre sind Kinder einerseits pointiert Produkte ihrer Umwelt , andererseits ist man fachlich dem medizinischen Krankheitsmodell verpflichtet. „Der Glaube an das prinzipiell „Gute“ im Menschenkind, vorausgesetzt die Gesellschaft gibt ihm die Möglichkeit sich zu entfalten, wurde zur offiziellen Wahrheit erhoben“(123), womit man sich bspw. von Stekel, einem Freudschüler, absetzte, der im Kind einen „geborenen Hasser“ sah. (122). Ende der 1970 er Jahre werden neue stationäre kinderpsychotherapeutischen Stationen eröffnet; methodisch wendet man sich vielfach auch hier der Gesprächspsychotherapie nach Rogers zu; systemische Familientherapie findet in Leipzig Verbreitung (440). In den 1980er Jahren ist eine Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen zu beobachten; 1984 erscheint der erste „Leitfaden der Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter“ (572).
„Frauen in der Psychotherapie“ (1970 – 1990) thematisiert Christa Ecke (443 f). Im Umfeld der Intendiert dynamischen Gruppentherapie verortet sie kritisch „eine Atmosphäre, die von Angst, Aggression und Widerstand getragen war, deren Geruch die IDG über Jahre nicht verlor“ (441) „Patriarchales Gehabe und ein kämpferisch dominantes Männerbild“ habe im Vordergrund gestanden.
5. Kapitel 1980 – 1989: Wege der Emanzipation
1987 gab es in Erfurt eine Art „vorgezogene Wiedervereinigung der Psychotherapeuten“ mit mehr als 250 Westdeutschen (und anderen, internationalen, Teilnehmern). Maaz referiert die „psychodynamische Einzeltherapie“ als eine ostdeutsche Entwicklung zur tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapie (481 ff). Diese sei eine originär ostdeutsche Entwicklung mit den Spezifika „begrenzter und fokussierter Psychotherapie in der Therapievereinbarung, im Arbeitsbündnis, in der Widerstandsanalyse und in der regressions- und progressionsgesteuerten Übertragungs-Gegenübertragungsdynamik“(483). Das „Fercher Modell“ schildert er als einen Glücksfall für die Balint-Arbeit in Ostdeutschland in der konkreten Umsetzung. Maaz geht sodann auf die Psychotherapieausbildung in der DDR ein, sie hatte „ihre besonderen Schwierigkeiten und einen subversiven Reiz“ (487 ff). In den 1980er Jahren sei eine Therapie für Therapeuten in der von ihm geleiteten Klinik in Halle möglich gewesen „von der so manche Kollegen in „geordneten“ Ausbildungs- und Selbsterfahrungsgängen nur „träumen“ können“ (489). Die Klinik schildert er als „Freiraum zur Integration von Methoden der Humanistischen Psychologie“(565 ff) allerdings sei das Klausur- und Abstinenzkonzept dort von Kollegen vor allem aus dem Westen manchmal als „autoritäres System“ kritisiert worden, „was aber gut mit dem Hinweis auf die notwendigen halt gebenden Strukturen für eine tief regressive Arbeit bis auf Frühstörungsniveau erklärt und dann auch verstanden werden konnte“ (567).
Die westdeutsche Psychotherapielandschaft und ihre Gesetzlichkeit wurden mit der deutschen Vereinigung nach und nach dominant, wie sich in den Protokollen einer nicht widerspruchsfreien Vereinigungsgeschichte auch im Bereich der Psychotherapie im Detail nachlesen lässt. So ist es neben anderen auch eine Verlustgeschichte: Einrichtungen wurden geschlossen, ambulante Gruppenpsychotherapie im Osten wurde abgewickelt die ganz spezifische Selbsterfahrungsbewegung unter den Bedingungen des „Ostens“ und der damit verbundene Zusammenhalt unter den Mitstreitern gingen zurück. In welcher Form und in welchen Schritten ostdeutsche Gesprächstherapeuten, Verhaltenstherapeuten und Gruppentherapeuten im gesamtdeutschen System Eingang fanden wird, ist in vielen Einzelheiten nachzulesen.
Es entsteht der Eindruck, dass Psychotherapie in der DDR ganz wesentlich Gruppentherapie war, sei es, weil „das Individuum nicht sehr hoch im Kurs steht und Psychoanalyse eher mit der Behandlung des Einzelnen assoziiert wird“ (164), sei es aufgrund der geringen Ressourcen, und hier gelangt als ostdeutsches Eigengewächs die Intendiert dynamische Gruppentherapie umfangreich in die Darstellung. Überraschend ist für mich auch die Betonung der Selbsterfahrung als Ausgangspunkt für die Verbreitung psychotherapeutischer Ansätze, wie sie Geyer, Maaz und andere eindrucksvoll z.B.für die Erfurter Selbsterfahrungsgruppen der 80er Jahre) beschreiben – hatten wir Westdeutsche damals solche subversiven Bewegungen in der DDR vermutet?
6. Kapitel: 1990 bis 1995 Wende und Nachwendezeit.
Die westdeutsche Psychotherapielandschaft und ihre Gesetzlichkeit wurden mit der deutschen Vereinigung nach und nach dominant, wie sich in den Protokollen einer nicht widerspruchsfreien Vereinigungsgeschichte auch im Bereich der Psychotherapie im Detail nachlesen lässt. So ist es neben anderen auch eine Verlustgeschichte: Einrichtungen wurden geschlossen, ambulante Gruppenpsychotherapie im Osten wurde abgewickelt. Die ganz spezifische Selbsterfahrungsbewegung unter den Bedingungen des „Ostens“ und der damit verbundene Zusammenhalt unter den Mitstreitern gingen zurück. In welcher Form und in welchen Schritten ostdeutsche Gesprächstherapeuten, Verhaltenstherapeuten und Gruppentherapeuten im gesamtdeutschen System Eingang fanden, ist in vielen Einzelheiten nachzulesen.
Die Wende wird im Resümee der meisten Autoren dieses Bandes letztendlich als eine Erfolgsgeschichte auch im psychotherapeutischen Bereich verzeichnet. Es mag durchaus sein, das nicht nur eine nachholende Modernisierung vollzogen wurde, sondern auch spezielle Erfahrungen mit der Psychotherapie unter den Bedingungen einer Diktatur tradierungswürdig sind und bleiben. Eine psychotherapeutische Versorgung, die sich auch kritische Bemerkungen zur umgebenden Gesellschaft erlaubt, erscheint mir selbst wünschenswerter den je. Spezielle Pathologien des DDR-Systems sind entfallen. „Dass nach dem Wegfall des Zwangskorsetts „DDR-Systems“ nicht nur ein Mehr an Freiheit, sondern auch ein Wegfall von stützenden Elementen einen Zuwachs an Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ bringen würde, war zu erwarten und ist auch eingetreten“, rubriziert Geyer (804). Eine drastische Abnahme neurotischer Störungen bei Lehrern sei wiederum durch schlagartig zunehmende Essstörungen wettgemacht worden, die in der DDR fast unbekannt waren.
Diskussion
Einerseits vermittelt das Buch den Eindruck, die Entwicklung der Psychotherapie in der DDR sei im Großen und Ganzen im breiten Strom der internationalen Entwicklung und keineswegs von ihr abgehängt verlaufen. Dafür spricht auch sich ein entwickelndes Netz psychotherapeutischer Abteilungen landesweit. Andererseits mangelte es zumindest im psychoanalytischen Bereich an Ausbildung in Theorie und Technik, es fehlt an „Eltern“ als orientierende Leitfiguren einer Therapeutenszene, und auch an entsprechenden Ausbildungsinstitutionen“ (Israel, 439).
Vielleicht hat gar die Kargheit in der Literatur und Personalausstattung spezielle Ressourcen befördert, die in der heutigen medialen Überflussgesellschaft nicht mehr so recht zum Tragen kommen? Deutlich wird, dass an vielen Stellen sogar und auch in der DDR Aufbruchsstimmung herrschte, die nicht auf die Wendezeit beschränkt war, aber hier natürlich besonders zur Entfaltung kam. „Aufbruch“ wird signalisiert noch vor der Wende, und die Dokumente lesen sich recht spannend: Ein reges Tagungs- und Abbildungsgeschehen, so fragt man sich, unter den Augen der Stasi?! Es wurde nach Kräften westdeutsche und andere westliche Literatur rezipiert, um den Anschluss zu halten; unterhalb der Schwelle staatlicher Anerkennung scheint dieses auch vielfach möglich gewesen zu sein. Jedoch, einschränkend: „Die DDR tat sich schwer anzuerkennen, das seelische Not nicht durch ein sozialistisches Staatswesen abzuschaffen ist. Es wurde gelehrt, das Neurosen, Süchte und Suizide ihre Wurzeln im kapitalistischen System hätten und im Sozialismus dafür kein Nährboden sei“ schreibt Irene Misselwitz (Jena) (568).
Tagungen wie hier umfänglich Buch dokumentiert, spielten häufig eine überragende Rolle, und sie werden über Protokolle, Zitate, Sitzungsmitschriften zugänglich gemacht, was für die Beteiligten bis heute starke Befriedigung auslösen mag. Es zeigt sich wie auch sonst im Leben, dass es auf Beziehungen, Kontakte, Erfahrungen; aber eben auch auf Texte; Konzepte und Programme ankommt. Ohne das zähe Engagement gerade unter den Bedingungen einer Nischengesellschaft und eben ohne entwickelte Öffentlichkeit und gegen staatliche Kräfte wäre die Psychotherapie in der DDR erloschen.
An vielen Stellen des Buches wird über die Beteiligung der Staatssicherheit in der psychotherapeutischen Versorgung gemutmaßt. Es gebe nur wenige Beispiele evidenter bzw. Missbrauchsfälle; das Interesse der staatlichen Organe an einer Unterdrückung der Psychotherapie scheint doch eher begrenzt gewesen zu sein. Psychotherapie war eine Nische und sie war auch deshalb für Psychotherapeuten attraktiv (1842). „Wir mussten akzeptieren, dass Patienten uns manche Dinge aus ihrem gesellschaftlichen Alltag nicht mitteilen wollten“ (Misselwitz und Venner, 842).
Die Wende wird im Resümee der meisten Autoren dieses Bandes letztendlich als eine Erfolgsgeschichte auch im psychotherapeutischen Bereich verzeichnet. Es mag durchaus sein, das nicht nur eine nachholende Modernisierung vollzogen wurde, sondern auch spezielle Erfahrungen mit der Psychotherapie unter den Bedingungen einer Diktatur tradierungswürdig sind und bleiben. Eine psychotherapeutische Versorgung, die sich auch kritische Bemerkungen zur umgebenden Gesellschaft erlaubt, erscheint mir selbst wünschenswerter den je. Spezielle Pathologien des DDR-Systems sind entfallen. „Dass nach dem Wegfall des Zwangskorsetts „DDR-Systems“ nicht nur ein Mehr an Freiheit, sondern auch ein Wegfall von stützenden Elementen einen Zuwachs an Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ bringen würde, war zu erwarten und ist auch eingetreten“ rubriziert Geyer (804). Eine drastische Abnahme neurotischer Störungen bei Lehrern sei durch schlagartig zunehmende Essstörungen wettgemacht worden die in der DDR fast unbekannt waren.
„Differenzierte Antworten auf die Frage finden wie Psychotherapie in der DDR funktionierte“, dieses Anliegen des Herausgebers scheint mir erfüllt. Wenn „der Leser bereit ist, ein breiteres und differenzierteres Spektrum ostdeutscher Geschichte zu akzeptieren als gewohnt“ (21) wird er in diesem Buch fündig werden. Mir als westdeutsch sozialisiertem Rezensenten, der seit 1992 in Erfurt lebt, hat sich ein Panorama gezeigt, das ich in dieser Vielfalt nicht vermutet hätte, hatten wir „hüben“ doch eher das Bild einer psychotherapie-freien Zone, zum Teil unheilvoll ergänzt durch Eindrücke aus der sowjetischen Psychiatrie. Die Frage, wie und mit welchen Einschränkungen Psychotherapie unter der Bedingung der damaligen DDR möglich war, wobei diese in sich nicht homogen und vom Stalinismus bis in die Wendezeit stets Entwicklungen unterworfen war, findet in diesem Buch keine einheitliche, aber doch insgesamt überraschende Antworten. „Die Psychotherapeuten in der Wendezeit -und auch die Autoren dieses Buches- bilden diese ostdeutsche Erinnerungslandschaft ab und lassen sich entsprechend unterschiedlichen, in sich gespaltenen Milieugedächtnissen zuordnen“ (21) – entsprechend wurde das vorliegende Buch konzipiert.
Psychotherapie wurde in der DDR unter erschwerten Bedingungen weitergeführt und fortentwickelt; die Psychoanalyse speziell unterlag vor allem staatlicherseits der Ächtung ohne, wie von manchen vermutet, verboten gewesen zu sein. Tiefenpsychologische, vor allem aber auch verhaltenstherapeutische, später auch gesprächstherapeutische Verfahren haben sich relativ früh in der psychotherapeutischen Landschaft verbreitet. Ihre Protagonisten kämpften gegen schlechte Rahmenbedingungen und internationale Isolierung. Auch zu Zeiten des DDR-Sozialismus gab es Phasen auch des psychotherapeutischen Aufbruchs. Der Mauerbau induzierte allerdings einen Exodus vor allem bei psychoanalytisch orientierten Psychotherapeuten. Jedoch markierte die DDR – anders als der Nationalsozialismus- „keinen Zivilisationsbruch“ (Sabrow S. 21). Aus diesen wenigen Anmerkungen dürfte ersichtlich sein, das politische Rahmenbedingungen und historische Entwicklungen in dem vorliegendem Buch immer mitgedacht werden. Das Bild ist facettenreich: „Das Spektrum der Schuld, die unter den Psychotherapeuten zu eruieren ist, reicht vom Verrat und Denunziation bis zum Schweigen über miterlebtes Unrecht…die Stasi Akten zeigen auch, das Pläne der Staatssicherheit oft genug am korrekten Verhalten von Psychotherapeuten scheiterten“ (22) und: „Die DDR als typische Nischengesellschaft stellte auch für Psychotherapeuten viele Nischen bereit, die anderen verborgen waren“ (24).
Fazit
Nicht zuletzt der Systemwechsel hat allen Beteiligten große intellektuelle Anstrengungen abverlangt und Energien erzeugt. Die Euphorie dieser anstrengenden Jahre findet sich an so manchen Stellen in diesem Buch. Der Systemwechsel hat auch ein solches Buch erst hervorbracht – eine analoge umfassende Geschichte der westdeutschen Psychotherapie ist mir nicht bekannt! Wer also eine Genealogie der Psychotherapie mit Schwerpunkt Ostdeutschland, auf das engste verwoben mit Zeitgeschichte und Professionsgeschichte, sucht ist mit diesem Werk gut bedient.
Rezension von
Prof. Dr. Eckhard Giese
Dipl. Psych.
Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften, Fachhochschule Erfurt
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