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Thomas Gabriel, Michael Winkler (Hrsg.): Heimerziehung. Kontexte und Perspektiven

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Tischner, 29.06.2004

Cover Thomas Gabriel, Michael Winkler (Hrsg.): Heimerziehung. Kontexte und Perspektiven ISBN 978-3-497-01672-3

Thomas Gabriel, Michael Winkler (Hrsg.): Heimerziehung. Kontexte und Perspektiven. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2003. 258 Seiten. ISBN 978-3-497-01672-3. 29,80 EUR. CH: 50,10 sFr.

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Einführung in das Thema

Trotz des massiven Ausbaues teilstationärer und ambulanter Hilfeformen wie Tagesgruppe, Erziehungsbeistandschaft und Sozialpädagogische Familienhilfe bildet die Heimerziehung mit all ihren Varianten nach wie vor einen zentralen und zahlenmäßig erheblichen Teil der Erziehungshilfen. Die Diskussion um die Heimerziehung steht nach einer anhaltenden Phase der Professionalisierung des Personals, einer Differenzierung und Dezentralisierung ihres Angebots, einer Hinwendung zu Lebenswelt- und Familienorientierung in den vergangenen etwas mehr als drei Jahrzehnten gegenwärtig unter dem Eindruck der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit, insbesondere der Qualitätsentwicklung, der Entdramatisierung der Geschlossenen Unterbringung sowie einer empirischen Überprüfung ihrer Effekte (JULE, JES, EVAS u.a.).

Erschwerend wirkt sich für die Heimerziehung als der mit Abstand sowohl teuersten als auch aufwendigsten Jugendhilfemaßnahme seit einiger Zeit der zunehmende Kostendruck aufgrund der Finanznot bei den öffentlichen Haushalten aus. Dies wiegt umso schwerer, als vielen Kindern und Jugendlichen und ihren Familien oft nur durch eine - in der Regel nur vorübergehende - Herausnahme aus der Familie wirksam geholfen werden kann. Insofern ist zu befürchten und entgegen den Leitlinien des Kinder- und Jugendhilfegesetzes bereits vielfach geübte Praxis, dass die zuständigen Jugendämter als Kostenträger auch dann eine andere weil billigere Maßnahme bevorzugen, wenn eine Heimunterbringung von den Betroffenen gewünscht wird und nach Lage der Dinge die am besten geeignete und notwendige Hilfeform darstellt. Absehbar ist, dass die Heimerziehung auch in Zukunft ein unverzichtbarer Bestandteil der Angebotspalette der Kinder- und Jugendhilfe bleiben wird. Die Frage ist nur, ob sie bezahlbar bleibt.

Hintergrund der Entstehung des Buches

Wie es im Vorwort des Buches heißt, wurde sein Entstehen angeregt durch den 60. Geburtstag des Lüneburger Erziehungswissenschaftlers Herbert E. Colla, der die Diskussion um die Heimerziehung durch eine Reihe bedeutsamer Beiträge bereichert hat. Um den festlichen Charakter der Schrift (es handelt sich nicht um eine Festschrift im üblichen Sinne) zu unterstreichen, wurde sie bewusst international und interdisziplinär angelegt. So kommen in dem Buch neben Fachvertretern Orthopädagogen, Kunsthistoriker, Anthropologen und Psychologen zu Wort.

Aufbau und Inhalte

Die insgesamt neunzehn Einzelbeiträge des Buches, von denen im folgenden nur auf wenige eingegangen werden kann, wurden unter fünf Hauptthemenstellungen aufgeteilt.

  1. Der erste Teil steht unter einem historischen Blickwinkel und beleuchtet sozialhistorische Kontexte der Heimerziehung. So beschreibt Michael Winkler unter der Überschrift "Zukunft der Erziehungshilfen" sechs zentrale Problembereiche moderner Gesellschaften, nämlich Armut, demographischer Wandel, Ethnizität, Familialisierung, Privatisierung und Pädagogik, welche aus seiner Sicht die künftige Entwicklung der Jugendhilfe bestimmen. Dabei geißelt er in pauschaler Weise ohne nähere Erläuterungen - ebenso abstrakt wie wohlfeil - den "Wirtschaftsliberalismus", die Idee einer Leitkultur sowie die Disziplinierung straffälliger Jugendlicher. Die strafrechtliche Ahndung von Gesetzesübertretungen Jugendlicher muss jedoch den Ideen von Erziehung und Bildung - so ist dem Verfasser entgegenzuhalten - keineswegs widersprechen, soweit sie um der Willens- und Charakterbildung des jungen Menschen willen erfolgt. Im zweiten Beitrag betreibt Wolfgang Trede eine interessante Spurensuche integrierter Erziehungshilfen am Beispiel des "Hauses auf der Hufe" in Göttingen. Danach weist Peter Hansbauer in nachvollziehbarer Weise auf den Zusammenhang neuerer Entwicklungen wie des Ausbaues der ambulanten Einzelbetreuung junger Menschen mit Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt für soziale Berufe hin. Dabei preist der Autor das betreute Einzelwohnen einseitig als wünschenswerte Errungenschaft für die Adressaten dieser Hilfeform, ohne allerdings auch auf deren Schattenseiten wie oftmalige Überforderung und Vereinsamung hinzuweisen.
  2. Der zweite Teil des Buches hat die strukturellen, situativen und persönlichen Voraussetzungen der Heimerziehung zum Gegenstand. Während der eher idealistisch und theoretisch gehaltene Beitrag von Dieter Neumann, anknüpfend an Sprangers These vom "geborenen Erzieher", versucht, die Idee der "Erziehernaturen" wieder zu beleben und diese inhaltlich zu füllen, bleibt Bernhard Sieland in seinem Beitrag zum "Problem der Eignung in der Aus- und Fortbildung von Pädagogen" mit seiner Forderung nach einer Art "Berufs-TÜV" für Pädagogen den Erfordernissen der Praxis dicht auf der Spur.
  3. Teil drei dreht sich um "Fragen der Qualitätsentwicklung". In seinem sehr anschaulichen Beitrag "Leistungsvereinbarungen und Kontraktmanagement - Instrumente zur Qualifizierung?" meldet Karl Späth vor dem Hintergrund der Darstellung einer gescheiterten Heimunterbringung (Fall "Timo") erhebliche Zweifel bei der Beantwortung seiner Frage an. Einen besser geeigneten Garanten von Fachlichkeit und Professionalität in der Heimerziehung sieht der Autor zum einen in der Institution Landesjugendamt, zum anderen in einer systematischeren Nutzung des Instruments "Hilfeplan". Thomas Gabriel plädiert in seinem Beitrag "Die Looking-after-Children-Initiative und ihr Beitrag zur Qualitätsentwicklung in der deutschen Jugendhilfe" überzeugend für eine Übernahme dieses in England langjährig erprobten Evaluations- und Planungskonzepts in Deutschland. Mit Hilfe dieses überaus hilfreichen Instruments - so seine Argumentation - können die Entwicklungsfortschritte von in Heimen untergebrachten Kindern und Jugendlichen erheblich zuverlässiger und systematischer beurteilt werden als bisher.
  4. "Forschung und Evaluation" sind Generalthema des vierten Teils des Buches. Darin listet Winkler "übersehene Aufgaben der Heimerziehungsforschung" auf, wobei er - dem Gegenstand entsprechend - sehr pragmatisch wie auch detailliert und überzeugend begründet für einen "liberalen und weiten Forschungsbegriff" plädiert. Zu Recht weist der Verfasser auf einen mangelnden Informationsaustausch in der Heimerziehungsforschung hin. Die von Thomas Gabriel gezogene "Bilanz deutschsprachiger Forschung" unter der Überschrift "Was leistet Heimerziehung?" bietet im Anschluss daran eine ganz hervorragende systematische Übersicht über den derzeitigen Stand der Heimerziehungsforschung. Kritisch merkt Gabriel in seiner Zusammenfassung an, dass bislang kein Forschungsinstitut in Deutschland existiere, welches sich ausdrücklich und ausschließlich mit empirischer Forschung zur Jugendhilfe befasst, dass es darüber hinaus keine gebündelte Forschungsförderung ebenso wenig wie einen "eigenständigen sozialpädagogischen Forschungsdiskurs und damit verbunden eine Bilanzierung der vorliegenden Forschung" gebe.
  5. Den letzten Teil des Buches, überschrieben mit "Reflexionen", eröffnet ein Beitrag Winklers mit dem Titel "Ansätze einer Theorie kollektiver Erziehung", den der Verfasser ausdrücklich als den "Versuch einer pädagogischen Kritik an den Glen Mills Schools" deklariert. Es ist allerdings festzustellen, dass Winklers pädagogisch durchaus anspruchs- wie auch gehaltvolle Erörterung kollektiver Erziehung im Zuge der intendierten Kritik lebensfremd, zu akademisch und praxisfern bleibt und dadurch der beachtlichen sozialpädagogischen Leistung der US-amerikanischen Einrichtung in ihrer Arbeit mit jugendlichen Straftätern aus dem Gang-Milieu nicht gerecht wird. Ergebnis: Bei der "pädagogischen Kritik" zerschellt die Theorie an der Praxis - Versuch somit misslungen! Der fingierte Dialog zum Thema "Grenzensetzen" in der Erziehung von Hans und Renate Thiersch erleidet ein ähnliches Schicksal. Die fiktiven Diskutanten begreifen augenscheinlich nicht den Ernst des allenthalben zu Tage tretenden Erziehungsnotstands in Deutschland mit seinen Auswüchsen einer zunehmenden Rücksichtslosigkeit und Brutalität unter Kindern und Jugendlichen und empfehlen anstelle einer notwendigen Kurskorrektur hin zu mehr Verbindlichkeit von Grenzen, Normen und Werten in der Erziehung eine "Kultur des Verhandelns". In beiden Fällen lässt die pädagogische Theorie die auf Unterstützung hoffende pädagogische Praxis ratlos zurück.

Zielgruppen

Das Buch eignet sich für Leser, die sich zu einzelnen Fragen der Heimerziehung informieren möchten. Als Standardwerk im Sinne einer Einführung oder eines Überblicks ist es sicherlich nicht geeignet. Es richtet sich aufgrund seiner überwiegend theoretischen Ausrichtung weniger an den praktisch interessierten Leser, sondern eher beispielsweise an Wissenschaftler, Hochschullehrer und Verbandsfunktionäre.

Fazit

Das Buch bietet zu ausgewählten Themen und Fragen wertvolle Informationen und Anregungen. Besonders interessante Schwerpunkte bilden dabei sicherlich die Teile zu den Fragen sozialhistorischer Kontexte der Heimerziehung sowie zum Thema "Forschung und Evaluation". Der letzte Teil "Reflexionen" muss dagegen leider als missraten bezeichnet werden.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Tischner
Hochschullehrer (i.R.) an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm, Fakultät Sozialwissenschaften. Lehr- und Arbeitsgebiete: Pädagogik, Sozialpädagogik, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialpädagogik, Konfrontative Pädagogik, Jungen- und Geschlechterpädagogik.
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Zitiervorschlag
Wolfgang Tischner. Rezension vom 29.06.2004 zu: Thomas Gabriel, Michael Winkler (Hrsg.): Heimerziehung. Kontexte und Perspektiven. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2003. ISBN 978-3-497-01672-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/1226.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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