Angélique Bruns: Demokratie und soziale Gerechtigkeit
Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Hansen, 07.11.2011

Angélique Bruns: Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Die pädagogischen Konzepte von Célestin Freinet und Paulo Freire.
Paulo Freire Verlag
(Oldenburg) 2011.
134 Seiten.
ISBN 978-3-86585-206-9.
22,90 EUR.
Pädagogische Reihe - Band 6.
Buch und Autorin
Bei dem vorliegenden Taschenbuch handelt sich um eine überarbeitete akademische Abschlussarbeit. Von welcher Universität die Magisterarbeit angenommen wurde, wird nicht verraten. Über die Verfasserin liegen keine bio-bibliografischen Daten vor, und dass die Arbeit erstmals im Jahr 2002 erschienen ist, wird auch nicht erwähnt. Worin die „Überarbeitung“ der vorliegenden Fassung besteht, ist schwer zu ermessen, da ein Exemplar der Erstauflage nicht greifbar war.
Aufbau
Im wesentlichen besteht das Buch aus drei Abschnitten: In zwei je 40seitigen Hauptkapiteln werden Person, Werk und Schaffen des französischen „Reformpädagogen“ Célestin Freinet (1896-1966) und des brasilianischen „Befreiungspädagogen“ Paulo Freire (1921-1997) dargestellt. Ein abschließendes Kapitel vergleicht deren pädagogische Konzepte für die Erziehung zur mündigen Persönlichkeit.
Freinet-Pädagogik
Eine demokratische Staats- und Gesellschaftsform hat die Mündigkeit ihrer Bürger zur Voraussetzung. Aufgabe von Erziehung und Schule ist es, ihren Beitrag zu deren Entstehung zu leisten, indem sie die Heranwachsenden zu Toleranz und Offenheit, zu kundiger Kritikfähigkeit und engagierter Partizipationsbereitschaft befähigt. „Wir bemühen uns, aus unseren Schülern wissende und verantwortungsbewusste Erwachsene zu machen“, sagt der basisdemokratische Sozialist Freinet. (Vgl. S. 30f)
Für den Lehrer Freinet ist die Regelschule seiner Zeit, der 1920er Jahre, eine „école-caserne“ (S. 23), die Kinder verdummt und jede Eigeninitiative unterdrückt, so dass die Schüler krank werden und unter „scolatismus“ (ebd.) leiden. Freinet schwebt als Alternative eine „école active“ vor, eine „Tatschule“. Vorbilder findet er in den nach Hermann Lietz benannten Reformschulen in Deutschland und ihrer „Pädagogik vom Kinde aus“. (Vgl. S. 24)
Vier grundlegende Prinzipien, vgl. S. 33, prägen die Freinet-Pädagogik:
- Freie Entfaltung der Persönlichkeit über den freien Ausdruck und Kommunikation;
- Kritische Auseinandersetzung mit der Umwelt über Erkundungen und Praxisbezug;
- Selbstverantwortlichkeit über die Art und Weise, wie in den Klassen gearbeitet wird;
- Kooperation und gegenseitige Verantwortlichkeit in der Organisation des Schullebens.
Alles Lernen ist nach Freinet ein „tastendes Versuchen“, lebenslang, denn das Leben ist „nicht ein Zustand, sondern ein Werden“ (S. 40); dem haben Schule und Unterricht Rechnung zu tragen. Freinet entwickelte das Konzept der „Arbeitspädagogik“ und machte aus den Schulklassen selbstverwaltete „Werkstatt-Klassen“, in denen gearbeitet und hergestellt wurde, um aus den dabei gemachten Erfahrungen zu lernen: über die Welt, über sich und über die Zusammenarbeit mit anderen.
Freire-Andragogik
Paulo Freire ist primär Erwachsenenbildner, also nicht Pädagoge wie Freinet, sondern Andragoge. Mit Freinet verbindet ihn die antiautoritäre, antikapitalistische und radikaldemokratische Ausrichtung seiner Praxis. Bekannt geworden ist Freire einerseits durch seine Verurteilung der „Bankiers-Methode“ in der herkömmlichen Erziehung: „Der Schüler wird dazu angehalten, die vom Lehrer übermittelten Inhalte aufzunehmen und zu rezitieren, ohne sich der Bedeutung des Inhalts klar zu werden. Die Schüler sind … ‚Behälter?, die es zu füllen gilt, je williger sie dabei sind, desto bessere Schüler sind sie.“ (S. 90) Andererseits ist Freire bekannt geworden für seine dialogischen und weitgehend hierarchiefreien Methoden der Erwachsenen-Alphabetisierung vermittels „generativer Themen“, so dass die „Zöglinge“ zugleich mit dem Lesen und Schreiben lernen, ihre soziale Lage kritisch zu reflektieren. Der Begriff „conscientizacao“, ins Deutsche als Bewusstwerdung übersetzt, wird von Freire definiert als „der Lernvorgang, der nötig ist, um soziale, politische und wirtschaftliche Widersprüche zu begreifen und um Maßnahmen gegen die unterdrückerischen Verhältnisse zu ergreifen.“ (S. 91) Freire will den Betroffenen die „Furcht vor der Freiheit“ nehmen, das heißt die Furcht vor nie gelernter Selbstständigkeit und Verantwortung. „Sie hören so oft, dass sie zu nichts nutze sind, nichts wissen und unfähig sind, etwas zu lernen“, dass sie faul und unproduktiv sind, so dass sie schließlich von ihrer eigenen Unfähigkeit überzeugt sind. (vgl. S. 89) Freire möchte bewirken, dass die Menschen ihre Lebenswirklichkeit als „gemacht“ und oktroyiert (und nicht fatalistisch) wahrnehmen; er leitet dazu an, dass die Unterdrückten und Marginalisierten sich in der „Realisierung unerprobter Möglichkeiten üben.“ (S. 92)
Freinet und Freire im Vergleich
Freinet und Freire eint mehr als sie trennt.
Zwei pädagogische Konzepte, die „Demokratie als Lebensform“ anstreben und Erziehung immer auch als „politische Erziehung“ verstehen. (Vgl. S. 61) Freinet wandte sich als Lehrer mit dem Selbstverständnis eines „Gärtners“ (S. 38) der Erziehung von Kindern in Frankreich zu, Freire verschrieb sich der Mündigkeitserziehung Erwachsener in südamerikanischen Armutsregionen. Beide verstanden sich als sozialistische „Volkspädagogen“ mit der Vision einer wahrhaften und nicht kapitalistisch halbierten Demokratie.
Gewiss teilt Freinet den Gedanken Freires, dass die Voraussetzung jeglicher Mündigkeit die Alphabetisierung ist. Gewiss stimmen Freire und Freinet auch darin überein, dass die Demokratie zu Hause und in der Schule beginnt, im Umgang von Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern: „Bevor Demokratie eine politische Form wird, ist sie eine Form des Lebens.“ (S. 81)
Fazit
Am Ende bleiben einige Desiderate: Warum geht eine 2011 publizierte Arbeit nicht auf die Herausforderungen der Freinet-Pädagogik durch „Globalisierung“ und „Individualisierung“ ein? Was hat uns die Alphabetisierungsmethode Paulo Freires im Internet-Zeitalter zu sagen? Befinden wir uns, was den Umgang mit dem world wide web angeht, nicht alle mehr oder weniger auf der Stufe funktionaler Analphabeten?
Rezension von
Prof. Dr. Klaus Hansen
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Zitiervorschlag
Klaus Hansen. Rezension vom 07.11.2011 zu:
Angélique Bruns: Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Die pädagogischen Konzepte von Célestin Freinet und Paulo Freire. Paulo Freire Verlag
(Oldenburg) 2011.
ISBN 978-3-86585-206-9.
Pädagogische Reihe - Band 6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12270.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.
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