Verein Flüchtlingsbetreuung nach dem Münchener Modell e.V. (Hrsg.): Flüchtlingsbetreuung im Sammellager "mit Sonderaufgaben" [...]
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 23.03.2004
Verein Flüchtlingsbetreuung nach dem Münchener Modell e.V. (Hrsg.): Flüchtlingsbetreuung im Sammellager "mit Sonderaufgaben" : eine Dokumentation über den Werdegang des Münchener Betreuungsmodells. 16 Jahre Erfahrung in der Betreuung von Flüchtlingen in sogenannten Gemeinschaftsunterkünften. Schardt Verlag (Oldenburg) 2003. 104 Seiten. ISBN 978-3-89841-092-2. 12,00 EUR.
Einführung in das Thema
"Flüchtling ist jemand nicht freiwillig geworden". Das vielfach geäußerte Argument, das für Verständnis bei MigrantInnen-Schicksalen und deren Lebenswegen werben will, unterliegt in unserer Gesellschaft leider viel zu oft der anderen, fremdenfeindlichen und rassistischen Einstellung, dass Flüchtlinge "Schmarotzer" seien, die auf Kosten der Menschen in der Mehrheitsgesellschaft lebten. Wussten Sie, dass München die größte Stadt des damaligen Jugoslawiens außerhalb des Staatenbundes war? Vor allem mit Beginn des Bürgerkrieges kamen viele Flüchtlinge aus der Region nach München. Die Unterbringung der Menschen in Notunterkünften und Lagern schaffte in der Stadt viele Probleme und Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung. In der Situation entwickelte die Stadtverwaltung ein Modell, das mittlerweile als das "Münchener Betreuungsmodell" bezeichnet wird: Es wurden Studentinnen und Studenten angeworben, die in den Flüchtlingsunterkünften als so genannte "Pförtner mit Sonderaufgaben" tätig waren. Diese "Betreuungsprofis mit ’unordentlicher’ Qualifikation" wirkten offensichtlich positiv auf die Situation, so dass es in der Stadt und in den betroffenen Stadtteilvierteln keine größeren Konflikte zwischen den Flüchtlingen und der Mehrheitsbevölkerung gab. Das jedenfalls ist die Einschätzung des "Vereins Flüchtlingsbetreuung nach dem Münchener Modell e.V.", der die 16jährige Erfahrung ihrer Arbeit in dieser Dokumentation vorlegt:
Absicht und Inhalte der Veröffentlichung
Die Dokumentation soll keine "Grabrede" sein, wie das Autorenteam ihre Schrift kennzeichnen, sondern allen politisch im Flüchtlingsbereich engagierten Menschen "Stoff zum Nachdenken und Argumente für Forderungen zum künftigen Umgang mit Flüchtlingen" liefern. Denn die Münchener Stadtverwaltung hat 1998 in der Praxis der Flüchtlingsbetreuung grundlegende Veränderungen vorgenommen, mit denen, so der Verein, der ganzheitliche Ansatz des Betreuungsmodells verschwand und ein "Flüchtlingsverwaltungsmodell" entstand. Die Praxis der Flüchtlingsbetreuung ist in den einzelnen Bundesländern, ja sogar in den verschiedenen Städten und Orten des Landes, unterschiedlich: "Menschen, die in Deutschland Schutz vor Verfolgung, Krieg und Elend suchen, finden sich in einem Dschungel von Paragraphen und Gesetzen auf völkerrechtlicher sowie auf nationaler Ebene wieder, der sich selbst von den professionell in der Flüchtlingsarbeit Tätigen nur schwer durchschauen lässt". Die Autorinnen und Autoren, SozialpädagogInnen und -arbeiterInnen, StudentInnen, PsychologInnen, LehrerInnen und Journalisten, gehen in der Dokumentation auf die vielfältigen Aspekte ihrer Mitarbeit beim Betreuungsmodell (MB), etwa, indem sie über ihre Erfahrungen mit der "Rund-um-die-Uhr-Präsenz" reflektieren, über die Zusammenarbeit im Team und mit den Flüchtlingen nachdenken, die Konflikte darstellen und über spezielle Angebote, etwa mit Kindern, Frauen, Männern und Familien berichten.
Die Darstellung zeigt eine Möglichkeit in der Flüchtlingsbetreuung auf, "dem anderen als Anderem Raum zu geben, das Andere der Anderen zuzulassen". So kann die Dokumentation als ein gelungenes Beispiel genannt werden, das Problem "Flucht" anders als von der individualistischen Fingerzeig-Argumentation aus zu betrachten; denn "solange Politik und Wirtschaft Flüchtlinge produziert, solange werden diese z. B. nach Deutschland kommen und hier für kurz oder länger leben".
Fazit
Das Büchlein gehört nicht nur auf die Schreibtische von "Flüchtlingsverwaltern", sondern auch in die Bücherregale und Handapparate der Schulen und Hochschulen. Den Verein "Flüchtlingsbetreuung nach dem Münchener Modell e.V." gibt es noch. Er arbeitet mit dem Münchener Flüchtlingsrat (MFR) und dem Bayerischen Flüchtlingsrat (BFR), Pro Asyl und anderen Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen zusammen. Eine tiefe Verbeugung des Rezensenten vor deren Arbeit!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 23.03.2004 zu:
Verein Flüchtlingsbetreuung nach dem Münchener Modell e.V. (Hrsg.): Flüchtlingsbetreuung im Sammellager "mit Sonderaufgaben" : eine Dokumentation über den Werdegang des Münchener Betreuungsmodells. 16 Jahre Erfahrung in der Betreuung von Flüchtlingen in sogenannten Gemeinschaftsunterkünften. Schardt Verlag
(Oldenburg) 2003.
ISBN 978-3-89841-092-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/1228.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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