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Krassimir Stojanov: Bildungsgerechtigkeit

Rezensiert von Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann, 09.07.2012

Cover Krassimir Stojanov: Bildungsgerechtigkeit ISBN 978-3-531-18056-4

Krassimir Stojanov: Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktion eines umkämpften Begriffs. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2011. 176 Seiten. ISBN 978-3-531-18056-4. 24,95 EUR.

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Thema

Der Begriff „Bildungsgerechtigkeit“ fungiert als ein Sammelbegriff, der sehr unterschiedliche Themen miteinander verbindet; der Begriff ist so eine Art Containerbegriff, dessen Bedeutungen vielfältig und dessen Beziehungsnetze komplex sind. Krassimir Stojanov nähert sich in seinem Buch von mehreren Seiten diesem Begriff an und rekurriert dabei auf die politische Philosophie mit ihren Gerechtigkeitstheorien. Einen Schwerpunkt legt der Autor dabei auf die Ansätze von John Rawls und Martha Nussbaum. Grundsätzlich wird der Begriff Bildungsgerechtigkeit vom Autor anders gedeutet, als in manchen Teilen des Diskurses üblich, nämlich als Offenheit von Bildungsprozessen. Stojanov wehrt sich vor allem gegen den Begriff der Begabung und die Vorstellung, als erschöpfe sich Bildungsgerechtigkeit in Leistungsnormen bzw. Leistungsfähigkeit. Bildungsgerechtigkeit, so die These Stojanovs, setze Formen der Anerkennung, der Empathie, des Respekts und der sozialen Wertschätzung voraus.

Autor

Dr. Krassimir Stojanov ist seit April 2012 Professor für systematische Pädagogik an der Philosophisch-Pädagogischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Aufbau

Das Buch gliedert sich, wie folgt:

Vorwort

I. Zum Begriff der Bildungsgerechtigkeit

1. Bildungsgerechtigkeit: Bedeutungsdimensionen und normative Implikationen

2. Bildungsgerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Verteilungs-, Teilhabe- und

Anerkennungsgerechtigkeit

3. Bildungsgerechtigkeit als Freiheitseinschränkung?

II. Anerkennungstheoretische Grundlagen

4. Bildungsprozesse als soziale Geschehnisse

5. Kognitive Entwicklung und intersubjektive Anerkennung

6. Respekt und Bildung

III. Praktiken der Ungerechtigkeit im Bildungswesen

7. Die Kategorie der Bildungsgerechtigkeit in der bildungspolitischen Diskussion nach PISA

8. Der Migrationshintergrund als Topos in gegenwärtigen Diskursen über Bildungsgerechtigkeit

9. Sprachlich-kulturelle Differenz als Ideologiekonstrukt

10. Darf und soll die Schule selektieren?

Textnachweise

Ad I. Zum Begriff der Bildungsgerechtigkeit

1. Bildungsgerechtigkeit: Bedeutungsdimensionen und normative Implikationen. Stojanov versucht in diesem Abschnitt eine stringente Begriffsanalyse des Begriffs Bildungsgerechtigkeit zu bieten und verortet die Kategorie Bildungsgerechtigkeit zwischen Philosophie, Bildungstheorie und Erziehungswissenschaft (S. 16). Gerechtigkeit ist für Stojanov nicht „gleiche Belohnung für gleiche Leistung„: „Vielmehr besteht die Aufgabe der schulischen Bildung gerade darin, Kinder und Jugendliche zur Subjektautonomie und somit zur Verantwortungsfähigkeit erst einmal hinzuführen.“ (S. 16) Bildungsgerechtigkeit soll Bildung und humane Existenz ermöglichen, denn Bildung ist kein Besitz, sondern ein Entwicklungsprozess der Person. Es geht in Anlehnung an Nussbaum und Sen nicht um die Verteilung von Gütern, sondern um das Bereitstellen von Ressourcen bzw. Capabilities, die aber wieder auch von der Qualität lebensweltlicher und institutionell arrangierter Sozialbeziehungen abhängen. Stojanov wirft der PISA-Diskussion eine problematische Ausrichtung vor, denn hier werde von der Quantität und von der Verteilungsproblematik her diskutiert. Im Ansatz John Rawls‘ stehe aber Gerechtigkeit für Fairness, was ein Maximum an Freiheit zu verwirklichen impliziere (S. 21). Stojanov entwickelt jedoch einen sich dazu unterscheidenden Begriff, „denn Bildungsinstitutionen können die Vernunftautonomie der an ihnen Beteiligten nicht voraussetzen; vielmehr besteht ihre Aufgabe gerade darin, diese Autonomie zur Entwicklung zu bringen.“ (S. 22) Die Vorstellung fairer Verteilung kann gerade nicht auf den Schul- und Bildungsbereich übertragen werden, denn Kinder und Jugendliche müssen ja erst dazu befähigt werden, ihre Freiheit als Bürger_innen zu entwickeln und zu verwirklichen und ihre Ressourcen für die Lebensgestaltung zu nutzen (S. 23). Es geht also in erster Linie um die Befähigung zur individuellen Autonomie. Stojanov geht über den Chicagoer Capability-Ansatz insofern hinaus, als er danach fragt, wie Bildungsinstitutionen beschaffen sein müssen, um diesem Ziel zu dienen. Erscheinungen von Ungerechtigkeit im Bildungssystem sind grundsätzlich als mangelnde Wertschätzung dem Einzelnen gegenüber zu interpretieren und damit als Erscheinung von Bildungsungerechtigkeit. Wenn man jedoch im System des Bildungswesens Ungerechtigkeiten als systemzugehörig verankert, wird die Befähigung des Einzelnen zur Freiheit und zur Autonomie grundsätzlich in Frage gestellt.

2. Bildungsgerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Verteilungs-, Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit. Die Herkunftsabhängigkeit von Schulleistungen interpretiert der Autor als Ausdruck von Ungerechtigkeit (S. 27); also müssten auf dem Hintergrund des Konzepts von Harry Bringhouse Herkunftsungleichheiten ausgeglichen werden. Anerkennungstheoretisch, so argumentiert Stojanov weiter, dürfen aber nicht nur allein Herkunftsabhängigkeiten von Schülerleistungen kompensiert werden, sondern Bildungsinstitutionen dürfen gerade nicht marktgerecht funktionieren (S. 31). Bildungsgerechtigkeit sei eben mehr als nur die Gewährung von Chancengleichheit, die letztlich ja nur durch Bildung selbst gewährleistet werden könne. Aus diesem Grund verschöben Kompensationen das eigentliche Problem: „Als Fazit können wir festhalten, dass der Slogan „Chancengleichheit“ insgesamt ein unzureichendes und eher verwirrendes semantisches Mittel für die Explikation des propositionalen Gehalts von „Bildungsgerechtigkeit“ ist…“. (S. 34) Das Problem der Güterverteilung wird in dem Moment fokussiert, wenn man Kants Votum über Aufklärung als „Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ hinzunimmt, was bedeutet, „dass der Einzelne für seine Herkunftseigenschaften nicht verantwortlich ist, da diese Eigenschaften nicht aufgrund einer Wahlentscheidung des Individuums zustande gekommen sind…“. (S. 36) Auch Martha Nussbaum argumentiert gegen diese Vorstellung und fragt nach dem Minimum von Eigenschaften, die ein Mensch benötigt, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Das bedeutet aber, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft so auszustatten sind, dass sie an allen gesellschaftlichen Diskursen teilhabefähig sind. Unter der Perspektive der Anerkennung besitzen alle Menschen das Potenzial zur individuellen Autonomie. Es geht also nicht primär um die Verteilung von freiheitsverbürgenden Gütern, sondern um eine qualitative Verbesserung von Sozialbeziehungen. Um das zu erreichen, müssen aber z.B. in der Schule alle Schüler_innen befähigt werden, die Grenzen der eigenen Identität zu überschreiten und sich in den Anderen empathisch hineinversetzen zu können. „Diese Wahrnehmung erfordert aber die propositional-transformierende Artikulation der eigenen Anliegen und Wertevorstellungen aus der Perspektive der universalistisch-entgrenzten posttraditionellen Gemeinschaft.“ (S. 44)

3. Bildungsgerechtigkeit als Freiheitseinschränkung? Freiheit gegen Gerechtigkeit auszuspielen, sei nicht Stand gerechtigkeitstheoretischer Diskurse der Gegenwart. Nach Meinung des Autors sei die Bildungsforschung gegenwärtig vom Verständnis der Chancengleichheit geprägt, was dazu führe, Gerechtigkeit als Freiheitsbeschränkung zu sehen, wogegen der Autor wie folgt argumentiert: „Die Überwindung dieser Ungerechtigkeitsformen erfordert primär keine governementalistischen, freiheitseinschränkenden Umverteilungsmaßnahmen von Ressourcen und Lehrvolumen zugunsten dieser Kinder und Jugendlichen, sondern letztlich die Entlastung des Schulbildungssystems von der Aufgabe sozialer Selektion.“ (S. 48) Kognitive Begabung und kognitive Ausgangsvoraussetzungen von Schulleistungen werden in eins gesetzt, was den Eindruck verstärke, dass es in der Bildungsforschung nicht darum gehe, tatsächlich Gerechtigkeit herzustellen, sondern die Schule als Auslesemechanismus zu sehen. Stojanov problematisiert in diesem Zusammenhang Übergangsempfehlungen von der Grundschule in weiterführende Schulen und bezieht sich in seinem Diskurs von Bildungsgerechtigkeit nun seinerseits vor allem auf die Ansätze von John Rawls und Ronald Dworkin, die für eine Umverteilungspolitik plädieren, zugunsten der Benachteiligten durch Herkunft (S. 52) Nach Ansicht des Autors widersprechen sich Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit, vielmehr komme es darauf an, dass die Schule daraufhin wirke, Menschen zu autonomer Lebensgestaltung und zu gesellschaftlicher Partizipation zu befähigen. Zur Bildungsgerechtigkeit passe auch nicht, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund per se als vorgeprägt durch bestimmte, benachteiligende Familienstrukturen gelten. Bildungsgerechtigkeit werde durch eine spezifische Qualität von schulischen Sozialbeziehungen hergestellt. Selektion sei Bildungsungerechtigkeit, d.h., die Schule müsse von Selektions-und Allokationsaufgaben entlastet werden.

Ad II. Anerkennungstheoretische Grundlagen

4. Bildungsprozesse als soziale Geschehnisse. Stojanov diskutiert ausführlich in diesem Aufsatz den anerkennungstheoretischen Ansatz aus der Sozialphilosophie (Axel Honneth). Anerkennungsansprüche anzuerkennen gehöre zur Voraussetzung gelingender schulischer Bildungsarbeit: „Demnach empfinden die Betroffenen gesellschaftliche Verhältnisse und Institutionen dann als ungerecht und unterdrückend, wenn diese Verhältnisse und Institutionen Missachtung in Bezug auf sie generieren – etwa in den Formen der Vernachlässigung, Diskriminierung oder Geringschätzung.“ (S. 69) Anerkennung und Würde gehören zu den identitätsstiftenden Merkmalen von Subjektivität bzw. zur praktischen Selbstbeziehung des Einzelnen. Bildungsprozesse sind in sozialen Verhältnissen verankert; deswegen ist grundsätzlich danach zu fragen, welchen Normen diese Verhältnisse entsprechen sollen, „damit sie als bildungs- bzw. subjektivitätsfördernd fungieren können.“ (S. 70) Nur wenn in sozialen Beziehungen, zu denen unterrichtliche und schulische Interaktionen zweifellos gehören, wertschätzend und achtsam mit dem Einzelnen umgehen, können sich überhaupt Fähigkeiten, Kompetenzen, Potenzialitäten usw. entfalten. Anerkennung, so der Autor, werde als Verhältnis reziproker Intersubjektivität interpretiert: „Dabei ist Respekt in pädagogischen Kontexten … als die Anerkennung der Heranwachsenden als distinktive Zentren von Bewusstsein, von Intentionen, Idealen, Bedürfnissen, und als distinktive Ausgangspunkte von Perspektiven auf die Welt zu verstehen…“. (S. 72) Die asymmetrische Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden wird dadurch aufgehoben, dass Ermöglichung von Freiheit Voraussetzung dieser Beziehung ist: „Nicht nur die Selbst-Entwicklung des Individuums, sondern auch seine Welterschließungsprozesse setzen die Anerkennungsformen der Empathie, des Respekts und der sozialen Wertschätzung voraus. Soziale Verhältnisse, Funktionsweisen von Bildungsinstitutionen und pädagogische Praktiken, die den Normen widersprechen, welche in diesen Anerkennungsformen impliziert sind, stellen bildungsbezogene Exklusionsmechanismen dar. Solche Mechanismen aufzuzeigen und zu bekämpfen ist zentrale Aufgabe jeder kritischen Bildungstheorie.“ (S. 79)

5. Kognitive Entwicklung und intersubjektive Anerkennung. Stojanov kritisiert hier den Begriff der „kognitiven Ausgangsvoraussetzungen“, d.i. die kognitive Leistungsfähigkeit oder auch „Grundintelligenz“ bzw. „Begabung“. Seiner Meinung nach konstituieren diese Begrifflichkeiten unangemessene Sachverhalte und Wirklichkeitsperspektiven, die einem Gerechtigkeits- und Anerkennungsverständnis schulischer Interaktionen entgegengesetzt seien. Weiter kritisiert Stojanov, dass der Begriff der „kognitiven Entwicklung“ nicht diagnostisch, sondern statisch interpretiert werde. „Kognitive Entwicklung“ ist – auf den Kontext sozialer Beziehungen bezogen – von diesem im Sinn des meaning-making nicht ablösbar (S. 87). So argumentiert Stojanov: „Die entscheidende Frage an dieser Stelle ist, wie soziale Interaktionen beschaffen sein müssen, damit kognitive Entwicklung ermöglicht, angeregt und unterstützt wird.“ (S. 87) Die Anfrage an den Bildungsbereich lautet also: Wie werden Kinder und Jugendliche dazu befähigt, erfolgreiche Teilnehmende am „sozialen Spiel“ der diskursiven Bedeutungsfestlegungen zu sein oder sich dazu entwickeln können? Erst in der sozialen Gemeinschaft der Akteur_innen bzw. der anerkennenden und anerkannten Subjekte, in der gleiche Normen anerkannt werden, werden Kinder und Jugendliche überhaupt teilhabefähig und auch fähig, Bedeutungen hervorzubringen: „Vielmehr hängt die Hervorbringungs- und die Entwicklungsdynamik dieses Potenzials im Wesentlichen von zwei Formen von Sozialbeziehungen ab: Erstens, von der Anerkennung der vor-begrifflichen Ideale des Einzelnen durch seine Bezugspersonen; Ideale, die in der Form von vor-kognitiven Wertungen und Vorstellungen eines guten und glücklichen Lebens zum Ausdruck kommen. Und zweitens – von der Anerkennung des Fähigkeitspotenzials des Einzelnen, seine Ideale propositional zu artikulieren, d.h. sie modifizierend unter der Einnahme der Perspektiven der Anderen zu begrifflichen Inhalten auszubauen, wobei diese Inhalte mit Gründen zu versehen und als Prämissen für weitere propositionale Behauptungen auszuweisen sind.“ (S. 94)

6. Respekt und Bildung. Stojanov bezieht sich im sechsten Aufsatz auf Richard S. Peters‘ bildungsbezogenen Respektbegriff, den er im Licht der Anerkennungspädagogik reflektiert (S. 97). Nach Honneth wäre Respektlosigkeit kognitive Missachtung und so für soziale Beziehungen folgenschwer. Soziale Schieflagen werden in Form subjektiver Leiden von Akteuren und Akteurinnen erfahrbar: Emotionale Vernachlässigung bzw. Empathiemangel stellt, da die intersubjektive Anerkennung fehlt, gerade bei Jugendlichen eine massive Beschädigung dar; zudem wird das Kind bzw. der Jugendliche nicht als vernünftiges Wesen behandelt, das zur Mündigkeit fähig ist. Nur unter der Bedingung sozialer Wertschätzung ist es dem Kind oder dem Jugendlichen möglich, spezifische Fähigkeitspotenziale zu entwickeln. In Lern- und Bildungsprozessen heißt das folglich: „Demnach sollten Lehrer und Eltern das Potential der Kinder vorausgreifend anerkennen, rationale, mit moralischer Autonomie ausgestattete Personen zu werden, auch wenn sie aktuell noch nicht als vernunftautonom betrachtet werden können. In der Tat ist diese vorausgreifende Anerkennung eine Grundvoraussetzung für die kognitive Entwicklung der Heranwachsenden.“ (S. 101) Respekt bzw. Anerkennung der Würde einer Person haben demnach sowohl eine moralisch-intrinsische als auch eine pädagogisch-extrinsische Bedeutungsdimension

Ad III. Praktiken der Ungerechtigkeit im Bildungswesen

7. Die Kategorie der Bildungsgerechtigkeit in der bildungspolitischen Diskussion nach PISA. Stojanov untersucht den Widerstreit dreier Gerechtigkeitsmodelle: Verteilungs- Teilhabe-Anerkennungsgerechtigkeit (S. 113). In seiner Studie analysiert der Autor nun im Folgenden die Stellungnahmen der politischen Parteien zu Fragen der Bildung in Bezug auf Gerechtigkeit und ordnet hier der Verteilungsgerechtigkeit die Formen Leistungsgerechtigkeit und Chancengleichheit zu; der Teilhabegerechtigkeit Grundkompetenzen und politische Partizipation; der Anerkennungsgerechtigkeit moralischen Respekt und soziale Wertschätzung. Vor allem die Codes auf S. 121 zeigen die innere Differenzierung der Gerechtigkeitsmodelle. Problematisch, so der Autor, sei in den Äußerungen der Parteien, dass Schule als Modellzone des „fairen Wettbewerbs“ gesehen werde, „bei dem Zeugnisse entsprechen den jeweiligen Leistungen verteilt werden, in welchen sich die unterschiedlichen Fähigkeitspotenziale der Schüler realisieren.“ (S. 128) Bildungsgerechtigkeit, als Teilhabegerechtigkeit verstanden, fördere hingegen die Ausbildung von sozialen Grundfähigkeiten zur menschenwürdigen Lebensführung und politischen Partizipation. Schule müsse so aufgestellt werden, „damit sie die Entwicklung der individuellen Autonomie und die Befähigung zur Selbstverwirklichung der darin beteiligten Kinder und Jugendlichen ermöglichen kann. Die negative Umformulierung und Zuspitzung dieser Frage lautet: Welche Missachtungserfahrungen in Bezug auf welche Schülerinnen und Schüler werden wie durch die Institution Schule strukturell generiert und wie behindern diese Erfahrungen ihre Bildungsprozesse?“ (S. 136)

8. Der Migrationshintergrund als Topos in gegenwärtigen Diskursen über Bildungsgerechtigkeit. Der Autor kritisiert wiederum den Begriff „Begabungsgerechtigkeit“ als dominanten Terminus der gegenwärtigen Bildungsdiskussion und -politik, wie auch der Bildungsforschung insgesamt. Dieser Bestimmung folgend, „wäre ein Zustand von Bildungsgerechtigkeit dann erreicht, wenn die Verteilung von Bildungsgütern in der Form von Ressourcen und Zeugnissen anstatt nach Herkunft, nach Begabungen bzw. nach kognitiven Ausgangsvoraussetzungen vollzogen wird.“ (S. 141) Das Hauptproblem für die deutsche Wirtschaft liege aber darin, dass „Begabungsressourcen junger Menschen“ brach liegen würden und nicht vernutzbar seien.

9. Sprachlich-kulturelle Differenz als Ideologiekonstrukt. Das Verhältnis zwischen Bildung und Migration sei mit dem Begriff der „institutionellen Diskriminierung“ (S. 151) zu umschreiben. „Migration“ sei aber nicht per se für eine negative Verständnissituation verantwortlich, denn diese Haltung (als negativer Verstehenshorizont) stigmatisiere Kinder und Jugendliche. Es gehe vielmehr darum, dass das Bildungswesen in seiner institutionellen Struktur soziale Ungleichheiten produziere. Institutionelle Diskriminierung entstehe nach Gomolla & Radte (2002)  [1] dann, wenn das System auf Komplexitätsreduktion angewiesen sei: „Bildungsinstitutionen vermeiden die Komplexitätserhöhung für Unterricht und pädagogischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die sich durch eine Abweichung vom Postulat des in einer Mittelschichtfamilie monolingual und im Einklang mit der „Leitkultur“ sozialisierten „Normalschülers“ ergeben würde, indem sie „Argumentationshaushalte“ produzieren, welche „kulturellen“ Ursachen für Bildungsmisserfolge von Kindern und Jugendlichen „mit Migrationshintergrund“ behaupten.“ (S. 153) Selbstverständlich sei dies abzulehnen, was aber in neue Aporien bezüglich des Bezugssystems führe. Denn Systeme müssen Komplexitäten reduzieren, sollen sie funktionsfähig bleiben. Wenn jedoch die Reduktion der Komplexität zu Dialogunfähigkeit führe, entstehe Ideologie, die sich durch argumentative Ignoranz auszeichne (S. 158). Wenn man sich auf die üblichen medialen Projektionen einlässt, dann kommt so eine verquere Rede von der sog. „kulturellen Basispersönlichkeit“ heraus, eine Worthülse ohne Sinn, die dann aber als objektive Erkenntnis verkauft wird. Es könnte jedoch sein, dass ein vorhandener Migrationshintergrund (mit z.B. zweisprachiger Sozialisation) auch zu Sozialisationsvorteilen führen könnte.

10. Darf und soll die Schule selektieren? Stojanov nimmt am Schluss noch einmal seine Grundthese auf, dass Schule von Allokations- und Selektionsaufgaben entlastet werden müsse. Schule soll in ihrer Qualifizierungsfunktion gestärkt werden, d.h., sie soll für jedes Kind und jeden Jugendlichen das Maximum an Kompetenzentwicklung erreichen. Stojanov macht sich z.B. für ein Modell stark, das Aufnahmeprüfungen in den Bereich der Universität verlegt, ähnlich den amerikanischen High Schools und Universitäten. Nach Ansicht des Autors reduziere dieses Modell Ungerechtigkeiten im Bereich des Systems Schule. Bildung ist für Krassimir Stojanov weitaus mehr als nur Enkulturation oder soziale Platzierung oder Formung sozialer Identität – Bildung sei vielmehr als Entwicklung einer autonomen Persönlichkeit zu charakterisieren.

Fazit

Die verschiedenen Grundthesen des Buches verhalten sich zueinander komplementär und geben ein buntes Bild von Bildungsgerechtigkeit ab. Etwas störend dabei sind Wiederholungen von Gedankengängen, die aus vorangegangenen Aufsätzen bzw. Buchkapiteln bereits bekannt sind. Im bildungstheoretischen Teil kommt m.E. die Auseinandersetzung mit einer spezifischen Bildungstradition angefangen bei MelanchthonComeniusKantHerbartSchleiermacherRothKlafki zu kurz, was möglicherweise dem Diskurs über Bildungsgerechtigkeit förderlich gewesen wäre. Insgesamt ist das Buch jedoch zur Lektüre zu empfehlen und man liest es mit großem Gewinn.


[1]   Gomolla, Mechthild & Radtke, Frank-Olaf (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethischer Differenz in der Schule. Opladen: Leske + Budrich.

Rezension von
Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann
Professor für Evangelische Theologie, Schulpädagogik und Religionsdidaktik an der Evangelischen Hochschule Freiburg im Fachbereich II (Theologische Bildungs- und Diakoniewissenschaft)
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Es gibt 71 Rezensionen von Wilhelm Schwendemann.

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ISSN 2190-9245