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Lars P. Feld, Peter M. Huber et al.: Jahrbuch für direkte Demokratie 2010

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 16.12.2011

Cover Lars P. Feld, Peter M. Huber et al.: Jahrbuch für direkte Demokratie 2010 ISBN 978-3-8329-6612-6

Lars P. Feld, Peter M. Huber, Otmar Jung, Christian Welzel, Fabian Wittreck: Jahrbuch für direkte Demokratie 2010. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2011. 429 Seiten. ISBN 978-3-8329-6612-6. 59,00 EUR.

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Direkte oder indirekte Demokratie?

In der politischen Bildung ist die Frage umstritten, ob Demokratiebewusstsein besser als bisher gefördert und der zunehmenden Politikverdrossenheit deutlicher entgegengewirkt werden könne, wenn die Bürger über gesellschaftliche und politische Themen nicht indirekt, also über die Volksvertreter in den Gemeinden, Kreis- und Landtagen und im Bundestag, sondern direkt entscheiden würden. Der bundesweit agierende Verein „Mehr Demokratie“, mit Sitz in Berlin, hat sich zum Motto gewählt: „Wenn wir aufhören, die Demokratie zu entwickeln, fängt die Demokratie an aufzuhören“. Während noch vor ein paar Jahren die Aktivitäten der Vereinsmitglieder von der Mehrheit der Bevölkerung belächelt und als Verfassungsfeinde verdächtigt wurden, gibt es in der Bundesrepublik heute immer mehr Menschen, die „vor Ort“ bei Volksbegehren mitmachen, in Deutschland mittlerweile mehr als 5000 Aktivitäten. Und wenn am 27. November 2011 in Baden-Württemberg per landesweitem Volksentscheid über das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ abgestimmt wird, werden alle politischen Augen in Deutschland auf das Ländle gerichtet sein. Scheitert der Volksentscheid, befürchten die Befürworter von mehr Demokratie und Volksbeteiligung einen Rückschlag bei ihren Bemühungen, während die Gegner triumphieren könnten.

Im Für und Wider von direkter oder indirekter Demokratie gibt es ohne Zweifel ernst zu nehmende Argumente.

In der Schweiz, so sagen Politikwissenschaftler, wäre der Konflikt um das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ nicht möglich; weil die Bürger bereits in der Planungsphase des Vorhabens ihre Meinung direkt eingebracht hätten. Es ist also notwendig, auch in der Bundesrepublik Bürgerbefragungen zu Großprojekten durchzuführen, genau so, wie die Bürger zu Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen aufzurufen, über die jeweiligen gesellschaftspolitischen Programme der Parteien abzustimmen. Dies könnte dazu führen, dass sich zum einen der Souverän Ernst genommen fühlt in seinem demokratischen Recht auf Mitbestimmung, zum anderen aber auch die Möglichkeit erfährt, ein Staatsbürger zu sein.

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

Als die Herausgeber, Mitglieder des Kuratoriums „Mehr Demokratie e.V.“ und Hochschullehrer, 2009 das erste Jahrbuch für direkte Demokratie vorlegten und damit dem Diskurs um das Für und Wider von direkter und indirekter politischer Partizipation einen wissenschaftlichen Ort zuwiesen (vgl. dazu: Olaf Winkel, Rezension vom 12.05.2010 zu: Lars P. Feld, Peter M. Huber, Otmar Jung u.a., Hrsg.: Jahrbuch für direkte Demokratie 2009, www.socialnet.de/rezensionen/9203.php), eröffnete sich für die Auseinandersetzungen um die Weiterentwicklung des politischen Systems in der Bundesrepublik Deutschland ein neues Feld theoretischen Denkens und praktischen Handelns. Es sind insbesondere die interdisziplinären Zugänge, die den fächerbezogenen Ansatz politischen Fragens ergänzen und erweitern durch den Blick über den nationalen Gartenzaun.

Das überparteilich, sich unabhängig verstehende Bündnis „Mehr Demokratie“ tritt für eine Ausweitung und Intensivierung von bürgerschaftlichen Teilhabemöglichkeiten ein, um nicht weniger, sondern mehr Demokratie durch plebiszitäres und aktives Bewusstsein zu erreichen und damit Demokratie zu bereichern; angesichts der zunehmenden Politikverdrossenheit und des (nach)hinkenden und passiven Verhaltens der Bürgerinnen und Bürger in der Zivilgesellschaft eine ungemein wichtige und dringliche Aufgabe. Die Herausgeber des Jahrbuchs – Prof. Dr. Lars P. Feld, Lehrstuhlinhaber für Wirtschaftspolitik und Ordnungsökonomik und Direktor des Walter Eucken Instituts an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; Prof. Dr. Peter M. Huber, Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der Münchner Ludwig-Maximillians-Universität; PD Dr. Otmar Jung vom Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin; Prof. Dr. Christian Welzel vom Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Jacobs-University in Bremen; sowie Prof. Dr. Fabian Wittreck von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster – legen das zweite Jahrbuch vor, dem weitere im jeweils jährlichen Abstand und bei Änderung des Herausgeberteams (anstelle von Christian Welzel wird künftig der Würzburger Politologe Hans-Joachim Lauth dabei sein) folgen sollen.

Aufbau und Inhalt

Das Jahrbuch wird in sieben Kapitel gegliedert.

Im ersten Teil „Abhandlungen“ wird die Entwicklung von Fragen direktdemokratischen Handelns aufgezeigt und auf Erfahrungen mit den Instrumenten für direkte Demokratie verwiesen. Im zweiten Kapitel werden die statistischen Daten zu stattgefundenen Volksbegehren, Volksentscheide, Bürgerbegehren und Bürgerentscheide dokumentiert. Im dritten Teil werden Berichte über direkte Demokratieformen und -aktivitäten in mehreren Ländern und in der Bundesrepublik gegeben. Das vierte Kapitel befasst sich mit Beispielen aus der Rechtsprechung; im fünften wird das Gutachten zu „Stuttgart 21“ analysiert; im sechsten Teil werden Rezensionsabhandlungen abgedruckt; und im siebten Kapitel wird die neuere Literatur zur Thematik vorgestellt.

Der Bozener Sozialwissenschaftler Thomas Benedikter verweist in seinem Vergleich „Direkte Demokratie und Sprachminderheiten in der Schweiz und in Südtirol“ auf politische, Rechts- und gesellschaftliche Grundlagen und diskutiert die Probleme und Erfahrungen bei direktdemokratischen Mitentscheidungsrechten und dem „ethnischen Hausfrieden“.

Der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker stellt in seinem Beitrag „Volksgesetzgebung oder Volksveto?“ Überlegungen zur institutionellen Ausgestaltung der Direktdemokratie in der Bundesrepublik an. Thesenförmig verweist er darauf, dass „direktdemokratische und parlamentarische Repräsentation ( ) nicht an unterschiedlichen Prinzipien gemessen werden (dürfen)“, weil dadurch die Gefahr besteht, dass die parlamentarische Parteiendemokratie ihre legitimierte, gesetzgebende, aber auch ihre oppositionelle Kraft einbüßt.

Der Dresdner Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt diskutiert einige systematische Überlegungen: „Welche plebiszitären Instrumente könnten wir brauchen?“. Im Spannungsverhältnis von Repräsentation und Demokratie werden die Mehrwerte (und Probleme) der repräsentativen Demokratie und der Nutzung von plebiszitären Instrumenten (oder Elementen) verdeutlicht und Wege aufgezeigt, die vielfach vorherrschende Paralyse zwischen Staat und Volk aufzulösen.

Lars P. Feld, die Konstanzer Volkswirtschaftlerin Zohal Hessami und die Darmstädter Volkswirtin Lisa Reil stellen die Ergebnisse einer Umfrage zur Einführung direkter Volksrechte auf Bundesebene im Jahr 2008 vor. Ein bemerkenswertes und gleichzeitig bezeichnendes Ergebnis: Bezüglich der Aussicht auf eine geringere Politikverdrossenheit bei den Bürgern zeigte sich, dass diese „keinen signifikanten Einfluss auf die Einstellungen der Politiker hat, während sich … die Vorstellung von mehr politischer Teilhabe positiv auf die Einstellung der Bevölkerung zur direkten Demokratie auswirkt“.

Der Rechtswissenschaftler (em.) von der Universität Bremen, Dian Schefold, setzt sich in seinem Beitrag mit der Neuregelung des Volksentscheids in Bremen vom 1. September 2009 auseinander. Er verdeutlicht, „wie langwierig, harzig und oft auch widersprüchlich die Implementation einer im Grundsatz gewollten Volksgesetzgebung ist“.

Im zweiten Kapitel dokumentiert Otmar Jung Daten zu Volksbegehren und Volksentscheiden in Schleswig-Holstein (Juli – Dez. 2009), Hamburg (Okt. – Nov. 2009 und Juli 2010), Bayern (Nov. – Dez. 2009 und Juli 2010), sowie zum Bürgerentscheid in Berlin-Lichtenberg (März2010).

Das dritte Kapitel gibt einen Überblick über Aktivitäten zur direkten Demokratie. Hermann K. Heußner von der Fachhochschule Osnabrück informiert über Volksentscheide in den US-Gliedstaaten im Jahr 2009. Dabei zeigt sich ein äußerst differenziertes Bild, das jedoch eher die Wirksamkeit als die Fragwürdigkeit von Formen der direkten Demokratie unterstreicht. Axel Tschentscher und Dominika Blonski von der Universität Bern geben einen Länderbericht über die Praxis von direkter Demokratie in der Schweiz (2009 / 2010). Sie stellen fest, dass sich die (traditionelle) „Instrumentenvielfalt der schweizerischen direkten Demokratie“ durch die Abschaffung der allgemeinen Volksinitiative verringert hat. National und international Aufsehen haben die völkerrechtswidrige Volksinitiative zum Minarettverbot und zur Todesstrafe bei Mord mit sexuellem Missbrauch. Der Marburger Politikwissenschaftler, Konfliktforscher und Journalist Bruno Kaufmann, gleichzeitig Stadtrat im schwedischen Falun, stellt mit seinem Beitrag „Direkte Demokratie auf der transnationalen Ebene“ die Entstehungsgeschichte der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) vor, die 2010 auf den Weg gebracht wurde und ab Januar 2012 in der Europäischen Union wirksam werden soll. Die Verwaltungswissenschaftlerin Sabine Kuhlmann und Philipp Richter von der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer fragen nach einer „neue(n) Machtbalance im Lokalpräsidentialismus?“, indem sie das Scheitern der kommunalen Direktdemokratie in Frankreich thematisieren. Im Vergleich zu deutschen Initiativen fokussieren die französischen Referenden eher auf Sachthemen und bilden ein Protestpotential gegen zentralstaatliche Macht. Die Greifswalder Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin Meike Stommer setzt sich auseinander mit „Icesave, Finanzkrise und Demokratie“ in Island und beleuchtet die Situation vor der Finanzkrise (2008) und beschreibt die sich daraus entwickelnde erstarkte Demokratiebewegung. Die Penzberger Politikwissenschaftlerin, Lehrerin und Münchner Lehrbeauftragte Bärbel Martina Weixner zeichnet in ihrem Beitrag „Nichtraucherschutz in Bayern“ den Weg eines erfolgreichen Volksbegehrens und Volksentscheids nach und verdeutlicht die sich daraus ergebenden politischen Bewusstseinsveränderungen. Die Soziologen von der Universität Bamberg, Harald Schoen, Alexander Glantz und Rebecca Teusch analysieren „Abstimmungskampf, Informationsvermittlung und Stimmenentscheid beim Volksentscheid über den Nichtraucherschutz in Bayern“. Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass „der Abstimmungskampf eine mäßige Reichweite erzielte und ein moderates Echo in den Medien und bei den Bürgern fand“.

Im vierten Kapitel „Rechtsprechung“ stellt Fabian Wittreck ausgewählte Entscheidungen zur direkten Demokratie vor und kommentiert sie.

Im fünften Kapitel berichten der Frankfurter Rechtswissenschaftler Georg Hermes und Joachim Wieland von der Speyrer Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften über das von ihnen im Auftrag der SPD-Fraktion des Baden-Württemberger Landtags erstellte Gutachten „Rechtliche Möglichkeiten des Landes Baden-Württemberg, die aus dem Finanzierungsvertrag „Stuttgart 21“ folgenden Verpflichtungen durch Kündigung oder gesetzliche Aufhebung auf der Grundlage eines Volksentscheides zu beseitigen“. Die Ergebnisse machen deutlich, dass die beabsichtigte Volksabstimmung nicht gegen verfassungsgemäße Bestimmungen verstößt und somit dem Land Baden-Württemberg Optionen für ein Ausstiegsszenario offen lässt.

Im sechsten Kapitel stellen die Herausgeber ausgewählte Rezensionen zur thematisierten Literatur vor. Im siebten Kapitel schließlich listet Otmar Jung bei Beteiligung des Herausgeberteams die mittlerweile umfangreiche neuere Literatur zum Themenkomplex auf und verdeutlicht damit, dass die Fragestellung im wissenschaftlichen Diskurs eine breite und differenzierte Grundlage einnimmt.

Fazit

Niemand von den demokratisch denkenden Bürgern ist dagegen, die politischen Instrumente des Demokratiedenkens und -handelns zu verbessern. Inwieweit jedoch unsere parlamentarisch verfasste demokratische Ordnung durch Elemente der direkten Demokratie ergänzt werden sollte und kann, ist umstritten; nicht zuletzt auch deshalb, weil die Vorstellungen über die Instrumente der direkten Demokratie unterschiedlich sind und nicht selten falsch wahr genommen werden. Es bedarf also der Information und Aufklärung darüber, was direkte Demokratie bedeutet und welche Möglichkeiten darin stecken, die ohne Zweifel fragwürdigen Entwicklungen der repräsentativen Demokratie, wie Manipulierbarkeit, Ohnmachtsempfinden und Politik(er)verdrossenheit, stoppen zu können und Demokratie als Herrschaft des Volkes wirksam werden zu lassen. Das „Jahrbuch für direkte Demokratie 2010“ liefert eine Reihe von Argumenten und Belege dafür.

Wegen der Preisgestaltung des Verlags dürfte das Buch eher nicht auf den privaten Lesetischen von politisch Interessierten landen. Vielmehr sollte das Werk in keiner Hochschul- und Fachbibliothek fehlen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1683 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 16.12.2011 zu: Lars P. Feld, Peter M. Huber, Otmar Jung, Christian Welzel, Fabian Wittreck: Jahrbuch für direkte Demokratie 2010. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2011. ISBN 978-3-8329-6612-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12329.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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