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Claudia Equit: Gewaltkarrieren von Mädchen

Rezensiert von Hannelore Güntner, 09.02.2012

Cover Claudia Equit: Gewaltkarrieren von Mädchen ISBN 978-3-531-18390-9

Claudia Equit: Gewaltkarrieren von Mädchen. Der "Kampf um Anerkennung" in biografischen Lebensverläufen. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2011. 286 Seiten. ISBN 978-3-531-18390-9. 34,95 EUR.

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Thema

Gewaltkarrieren von Mädchen in deren biografischem Kontext sind das Thema des besprochenen Buchs.

Entstehungshintergrund

Die Autorin gibt an, dass mehrere Irritationen sie zum Thema ihrer Doktorarbeit, die mit diesem Buch veröffentlicht wird, führten. Bereits im Studium bei der Vorbereitung zu einem Referat stellte sie fest, dass in der existierenden Literatur zu Forschungen über Mädchen oder über Mädchenarbeit das Gewalthandeln von Mädchen deutlich von dem der Jungen unterschieden wurde. Bei späteren Untersuchungen fällt ihr auf, dass überwiegend biografischen Faktoren als Hintergrund von Gewaltkarrieren Erwähnung finden, aber nicht Missachtungserfahrungen in Institutionen wie Schule oder Jugendhilfe. Zudem bemerkt sie, dass deutlich weniger Untersuchungen zu gewaltaktiven Mädchen existieren und so keine Vergleichbarkeit Mädchen – Jungen gegeben ist. Die Verfasserin begibt sich auf die Spurensuche nach der Wirksamkeit von Geschlechterdifferenz in der Sozialisation von Mädchen und Jungen mit der These, dass Gewalt die durch Mädchen ausgeübt wird ein grundsätzlich anderes Phänomen als Gewalt durch Jungen darstellt. Dazu untersucht sie weibliche gewaltaktive Jugendliche im Sinne der Grounded Theory. Ihre Fragestellung dazu befasst sich mit den Bedingungen unter denen Mädchen und junge Frauen Gewalt ausüben, wie sich gewaltaktive und gewalthandlungsarme Mädchen unterscheiden und wie sich die Unterschiede unter ihnen erklären lassen.

Aufbau

Zu Beginn stellt die Autorin ihr bekannte Untersuchungen vor. Im 2. Kapitel befindet sich eine Diskussion zu Theorien und Phänomenen zum Thema Gewalt sowie die Vorstellung statistischen Materials im Bereich weiblicher Jugendgewalt allgemein und im schulischen und familiären Kontext. Das 3. Kapitel stellt theoretische Erklärungen weiblicher Jugendgewalt inklusive der methodischen Zugänge dar. Strukturmerkmale der Jugendphase in westlichen Industrieländern, Adoleszenz, Pubertät und Geschlecht sind Inhalt des 4. Kapitels. Kapitel 5 enthält eine Zusammenfassung der vorangegangenen Inhalte und macht mit anerkennungstheoretischen Grundlagen u.a. von Friedrich Hegel bekannt. Die der Untersuchung zu Grunde liegenden Forschungstheorien und Methoden werden im Kapitel 7 erörtert. Im Kapitel 8 werden auszugsweise Interviews mit Mädchen und jungen Frauen und daraus gezogener Begründungstheorien erläutert. Das 9. Kapitel enthält die Zusammenfassung der Arbeit und einen Hinweis auf die erziehungswissenschaftliche Perspektive und auf die praxispädagogische Dimension.

Inhalt

Im ersten Kapitel legt die Autorin Claudia Equit den Zugang zur Thematik ihrer Doktorarbeit und damit der Untersuchung, die Inhalt des vorliegenden Buches ist dar, um sich dann Schritt für Schritt dem direkten Untersuchungsthema zu nähern. Dazu grenzt sie zuerst den von ihr verwendeten Gewaltbegriff zu Aggression und struktureller oder symbolischer Gewalt ab. Mit der Entscheidung die Definition, die Gewalt als eine „zielgerichtete, direkte physische Schädigung von Menschen durch Menschen“ (S. 27 zitiert nach Schwind/Baumann u.a. 1990 S. 36) bezeichnet möchte sie besonders auch die mit dem Gewalthandeln verbundene Körperlichkeit fokussieren.

Im Folgenden beschäftigt sie sich mit Untersuchungen zu jugendlicher Gewaltkriminalität und deren geschlechtstypischen Verteilungen bei TäterInnen und Opfern und insbesondere auch mit dem schulischen Kontext sowie mit einer Korrelation zu erfahrener familiärer Gewalt.

Vorgefundene quantitative Studien mit einem desintegrationstheoretischen Erklärungsansatz (Heitmeyer u.a.) sowie triangulierende Untersuchungen werden von ihr kritisiert, da zu wenig auf gewaltausübende Mädchen eingegangen wird.

Spezifische qualitative Studien zur weiblichen Jugendgewalt (Bruhns/Wittmann, Silkenbeumer) und solche mit anerkennungstheoretischen Ansätzen (Sutterlüty, Helsper) werden ebenfalls erläutert und bewertet.

Eingehend beschäftigt sich die Autorin mit der weiblichen Adoleszenz und Pubertät, der Bedeutung des Körpers und der Entwicklung von Geschlechtsidentität.

Als Fazit ihrer Auswertungen kommt Claudia Equit zu der Erkenntnis, dass die Zusammenhänge von Anerkennungsverlusten und Opfererfahrung einerseits und den gewaltsamen Kampf um Respekt und Anerkennung andererseits insbesondere auch in den Instanzen Schule und Jugendhilfe noch zu wenig berücksichtigt wurden. Dies und die Beachtung der leiblichen Dimension sowie der weiblichen Identitätsentwicklung legt sie ihrer eigenen Untersuchung zu Grunde und fokussiert dabei gewaltaktive Mädchen und deren Gewaltkarrieren im biografischen Verlauf aus anerkennungstheoretischer Perspektive.

Der Begriff der Anerkennung nach Hegel und Weiterentwicklungen von Honneth und Siep werden auch als sensibilisierende Konzepte für die Analyse des empirischen Materials vorgestellt.

Ein ganzes Kapitel widmet sich den methodologischen Grundlagen der Untersuchung und dem Forschungsdesign. Die mikroskopische Gewaltanalyse als methodischer Zugang zum Gewalthandeln, die Grounded Theory und die Arbeit mit sensibilisierenden Konzepten gehören zu den Methoden der Forschungsarbeit. Es wurden 20 problemzentrierte Interviews mit weiblichen Jugendlichen von 13- 21 Jahren geführt, davon waren 11 Mädchen aktuell gewaltaktiv.

Die Auswertung der Interviews gibt einen Überblick über die wichtigsten Erkenntnisse über die Gewaltkarrieren, die Entwicklung des Gewalthandelns zum Kampf um Ehre, zum Selbstbild und zur Dynamik im Verlauf der Gewaltkarriere sowie zu Ausstiegsszenarien. Dazu werden einzelne Interviews bzw. Passagen ausführlich vorgestellt und analysiert. Eine Besonderheit bildet dabei die Beachtung der Leiblichkeit im Zusammenhang mit dem Kampfgeschehen. Dargestellt wird ebenfalls der biografische Abwärtsschub, der nach Meinung der Autorin als Anerkennungsverlusterfahrung zu Gewalthandlungen führen kann. Die Autorin schließt eine eigene Gütebewertung ihrer Arbeit an.

In der Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick auf pädagogische Aspekte zu Prävention und Intervention geht sie kurz auf Möglichkeiten für Jugendhilfemaßnahmen ein.

Diskussion

Claudia Equit führt in ihrem Buch die LeserIn von der ersten Idee zu ihrer Doktorarbeit, die theoretischen Vorarbeiten und Vorüberlegungen über die ausführliche Erläuterung theoretischer und praktischer Grundlagen zur Forschungsarbeit hin zu ihren Ergebnissen. Verdeutlicht werden diese durch einzelne Auszüge aus Interviews mit den Mädchen und auch durch die gründliche Durchleuchtung und Verknüpfung mit der zugrunde liegenden Theorie. Dies ist ein durchaus spannender Prozess mit vielen erhellenden Momenten.

Für Praktikerinnen, die sich einen schnellen praktischen Erkenntnisgewinn wünschen, könnte dies zu Enttäuschungen führen. Das Fazit birgt nicht besondere neue Erkenntnisse für Jugendhilfemaßnahmen. Orte der Anerkennung und der Mitbestimmung zu schaffen ist seit vielen Jahren ein Ziel. Für dezidiert mit gewaltaktiven und -bereiten Mädchen arbeitende Kolleginnen kann die Arbeit aber durchaus neue Aspekte beinhalten bzw. dazu helfen, eigene Erfahrungen in der Arbeit mit den Mädchen einzuordnen und zu benennen.

Fazit

Ein durchaus spannender Inhalt, da es sich auch um ein noch wenig erforschtes Phänomen handelt und auch eine besondere These der Forschung zu Grunde liegt. Allerdings führt die komplexe Darstellung zu einer erschwerten Lesbarkeit und das versprochene Ergebnis für die Alltagspädagogik birgt keine großen neuen Erkenntnisse. Diese verstecken sich eher im Gesamtwerk und sind aufzuspüren. Daher auf jeden Fall eine wichtige Lektüre für Studierende und für PraktikerInnen, die direkt und gezielt mit gewaltausübenden Mädchen arbeiten.

Rezension von
Hannelore Güntner
Dipl. Sozialpädagogin (FH), Erzieherin, Supervisorin (DGSv), Bildungsreferentin. Fortbildungen und Trainings in den Bereichen der Mädchenarbeit, Genderpädagogik, Gender Mainstreaming und geschlechtersensiblen Cross Work
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Es gibt 10 Rezensionen von Hannelore Güntner.

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Zitiervorschlag
Hannelore Güntner. Rezension vom 09.02.2012 zu: Claudia Equit: Gewaltkarrieren von Mädchen. Der "Kampf um Anerkennung" in biografischen Lebensverläufen. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2011. ISBN 978-3-531-18390-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12330.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.


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