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Werner Bergmann, Ulrich Wyrwa: Antisemitismus in Zentraleuropa

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 25.01.2012

Cover Werner Bergmann, Ulrich Wyrwa: Antisemitismus in Zentraleuropa ISBN 978-3-534-22053-3

Werner Bergmann, Ulrich Wyrwa: Antisemitismus in Zentraleuropa. Deutschland, Österreich und die Schweiz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. wbg Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Darmstadt) 2011. 144 Seiten. ISBN 978-3-534-22053-3. 14,90 EUR.
Reihe: Geschichte kompakt.

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Thema

Wer jenseits alarmistischer Übertreibungen und falscher Verharmlosungen zu einer differenzierten Einschätzung der aktuellen Formen des Antisemitismus kommen will, sollte sich einen Überblick über die Geschichte des Antisemitismus verschaffen. An Publikationen dazu mangelt es nicht. Werner Bergmann und Ulrich Wyrwa haben diesen nun eine kompakte, gleichwohl gut lesbare Monographie zum Antisemitismus in Zentraleuropa hinzugefügt.

Autoren

Werner Bergmann ist Professor für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, Ulrich Wyrwa Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. Gemeinsam leiten sie das Forschungskolleg „Antisemitismus in Europa 1879 – 1914“ am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin.

Aufbau

Die Autoren legen den Schwerpunkt auf die Entwicklung des Antisemitismus als sozialer und politischer Bewegung in der Zeit von 1879 bis 1945 (Kapitel IV bis VII). Dem voraus geht die begriffliche Abgrenzung des modernen Antisemitismus vom traditionellen Judenhass (Kapitel I), der unter dem Begriff „Vorgeschichte“ knapp abgehandelt wird (Kapitel II). Etwas ausführlicher werden die Konstitutionsphase des modernen Antisemitismus in der Zeit von 1781 bis 1878 (Kapitel III), sowie der Antisemitismus nach Auschwitz (Kapitel VIII) dargestellt. Eine kapitelbezogene Auswahlbiographie rundet den Band ab.

Inhalt

Bergmann und Wyrwa interpretieren Antisemitismus als spezifisch modernes Phänomen, das vom traditionellen, religiösen Antijudaismus zu unterscheiden ist. Sie sehen das Spezifikum des modernen Antisemitismus aber nicht, wie so häufig, in seiner rassistischen Ausprägung. Das Neue des Antisemitismus erschließe sich vielmehr aus der „Erkenntnis der Gesellschaft, aus der er hervorgegangen ist“ (S. 5). Vergegenwärtigt man sich die fundamentalen gesellschaftlichen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts, die zugleich die politische Emanzipation der Juden wie auch den sozialen Aufstieg eines großen Teils der jüdischen Bevölkerung mit sich brachten, so könne der Antisemitismus „als eine grundlegende Anti-Haltung definiert werden, die sich gegen die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse sträubte, den Juden die Schuld daran gab und sie für die Misere der Gegenwart verantwortlich machte“ (S. 8). Es hing von der jeweiligen politischen und ökonomischen Konstellation ab, wie offen und gewaltsam diese neue Form von Judenfeindschaft auftrat. Im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipation kam sie vor allem in den erbittert geführten Debatten über die rechtliche Gleichstellung der Juden in Staat und Gesellschaft zum Vorschein, äußerte sich aber auch immer wieder in brachialen Gewaltexzessen, wie z. B. in den wie ein Flächenbrand sich ausbreitenden „Hep-Hep“-Unruhen des Jahres 1819, deren symptomatisches Motiv die Identifizierung der Juden mit Geld und Handel war. Die Juden wurden als Personifikation der neuen, kapitalistischen Wirtschaftsordnung angegriffen.

In vergleichender Perspektive zeichnen Bergmann und Wyrwa die Konjunkturen des Antisemitismus für die Schweizer Republik, die Habsburgermonarchie und Preußen im langen 19. Jahrhundert nach. Das Jahr 1879 stellt dabei in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur in der Geschichte des zentraleuropäischen Antisemitismus dar. Mit der damals aufkommenden Selbstbezeichnung „Antisemitismus“ formierte sich die neue, säkulare Form der Judenfeindschaft als soziale und als politische Bewegung. Gleichwohl es den untereinander zerstrittenen Antisemitenparteien in keinem der zentraleuropäischen Länder gelang, nennenswerten politischen Einfluss zu gewinnen, hatte sich am Ende des 19. Jahrhunderts ein ideologisches Syndrom aus völkischem Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus herausgebildet, dessen strukturierende Kraft weit in das Alltagsleben großer Bevölkerungsteile hineinreichte. Antisemitische Deutungsmuster und Stereotype wie die vom „Börsenjuden“, der „Judenpresse“ oder auch der „Juden als fremdartiges Volk“ gewannen nach und nach die Qualität eines „kulturellen Codes“ (Shulamit Volkov), über den sich – so die Darstellung Bergmanns und Wyrwas – vor allem die Milieuzugehörigkeiten mittelständischer und bürgerlicher Bevölkerungsgruppen organisierten. Für die jüdische Bevölkerung wurde Antisemitismus zu einer alltäglichen Erfahrung in allen Bereichen des sozialen Lebens.

Einen weiteren Wendepunkt in der Geschichte des Antisemitismus markiert der Erste Weltkrieg, in dessen Folge sich ein Prozess der Radikalisierung des völkisch-antisemitischen Syndroms vollzog. Anders als in der Schweiz, wo sich der Antisemitismus auf die Abwehr jüdischer Immigranten sowie auf die sogenannte „Schächtfrage“ – das Verbot des jüdisch-traditionellen Schlachtens von Tieren – konzentrierte, rückte er in Deutschland und Österreich zunehmend ins politische Zentrum des Kampfes gegen die als „Judenrepubliken“ denunzierten demokratischen Regierungen. Mit der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Nazis in Deutschland wurde schließlich ein Antisemitismus in seiner extremsten völkisch-rassistischen Variante zur Staatsideologie, die in der „Lösung der Judenfrage“ den Schlüssel zur Errettung nicht nur des „deutschen Volkes“, sondern der Menschheit insgesamt sah. Der Umschlag von der Verfolgung in die Vernichtung der europäischen Juden erfolgte dann im Schatten des Zweiten Weltkriegs, der von Hitler bereits 1939 als „reiner Weltanschauungskrieg“ deklariert worden war.

Nach Auschwitz war der Antisemitismus öffentlich tabu, aber im Alltagsleben keineswegs verschwunden. Wenn auch kontextuell unterschiedlich, nahm er in allen mitteleuropäischen Ländern die Form eines Antisemitismus ohne Antisemiten an, der sich neben den bekannten Varianten sekundär-antisemitischer Schuldabwehr und Schuldentlastung als Antizionismus – so etwa in der neugegründeten DDR – darstellte und sich heute länderübergreifend vor allem auf das Feindbild „Israel“ bezieht.

Diskussion

Völlig zu Recht betonen Bergmann und Wyrwa, dass der Antisemitismus ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war und nicht einfach als Fortsetzung des traditionellen Judenhasses verstanden werden kann. Dieser erreichte Zentraleuropa im Zuge einer äußerst gewaltförmigen Christianisierung. In den mittelalterlichen Herrschaftsordnungen bildete sich ein „Konglomerat religiöser Judenfeindschaft“ (S. 12) heraus, das dem modernen Antisemitismus gleichermaßen als Legitimation und als Motivrepertoire diente. Fraglich allerdings ist, ob der Rückgriff auf uralte Motive der Judenfeindschaft, wie er übrigens auch in den aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus immer wieder zu beobachten ist, nicht doch mehr und anderes ist als nur „invention of tradition“, wie Bergmann und Wyrwa andeuten (vgl. S. 15). So richtig es ist, zwischen traditionellem Judenhass und modernem Antisemitismus deutlich zu unterscheiden, so wichtig ist es zugleich, den gesellschaftsgeschichtlichen Zusammenhang wahrzunehmen, ohne den die ungeheure Destruktionskraft, die der Antisemitismus in Zentraleuropa annahm, nicht zu verstehen wäre. Adorno und Horkheimer haben dies treffend auf den Punkt gebracht: „Schwerlich aber ist die religiöse Feindschaft, die für zweitausend Jahre zur Judenverfolgung antrieb, ganz erloschen. Eher bezeugt der Eifer, mit dem der Antisemitismus seine religiöse Tradition verleugnet, dass sie ihm insgeheim nicht weniger tief innewohnt als dem Glaubenseifer früher einmal die profane Idiosynkrasie.“ (dies. 1947, S. 205f.) Nicht auszuschließen ist, dass Ursprungselemente des Judenhasses, wie sie etwa Freud im Angesicht des nationalsozialistischen Terrors in „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ herausarbeitete (vgl. Claussen 1987, S. 19), in der affektiven Substanz des modernen Antisemitismus fortexistieren. Über die Mechanismen der Tradierung antisemitischer Mythen im Alltag aber ist nach wie vor wenig bekannt. Für die Arbeit gegen Antisemitismus wäre es wichtig, diese zu erforschen.

Etwas irreführend ist zudem der Titel des Buches. Tatsächlich handelt es sich um eine vergleichende Darstellung der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Da der Forschungsstand für diese drei Länder sehr ungleich ist – insbesondere für die Schweiz steht die Forschung noch am Anfang –, fällt die Darstellung entsprechend ungleichgewichtig aus. Mit Abstand am ausführlichsten gehen die Autoren auf die Entwicklung in Deutschland ein. Eine transnationale Antisemitismusforschung ist das noch nicht.

Fazit

Wer verstehen will, warum sich trotz der öffentlichen Ächtung des Antisemitismus nach 1945 antisemitische Stereotype hartnäckig in den Alltagskulturen moderner europäischer Gesellschaften halten, kommt an der Geschichte des „Longest Hatred“ (R. Wistrich) nicht vorbei. Das Buch von Werner Bergmann und Ulrich Wyrwa gibt dazu erstmalig einen vergleichenden Überblick für Deutschland, Österreich und die Schweiz. Es vermittelt historisches Wissen auf dem neuesten Stand der Forschung und ist Studierenden, Lehrenden und historisch Interessierten gleichermaßen zu empfehlen.

Literatur

  • Claussen, Detlev (1987): Vom Judenhass zum Antisemitismus. Materialien einer verleugneten Geschichte, Darmstadt/Neuwied, 1987.
  • Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno (1947): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 5, Frankfurt/M, 1987.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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Es gibt 23 Rezensionen von Wolfram Stender.

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ISSN 2190-9245