Stephanie Lummerich: Väter dürfen auch trauern!
Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 27.08.2012
Stephanie Lummerich: Väter dürfen auch trauern! Sozialpädagogische Perspektiven für die Gruppenarbeit mit trauernden Vätern. ibidem-Verlag (Hannover) 2011. 120 Seiten. ISBN 978-3-8382-0218-1. 22,00 EUR.
Väter trauern anders
Auch wenn statistisch gesehen seit 1998 eine deutliche Abnahme zu verzeichnen ist, starben im Jahr 2008 noch 2414 Kinder vor Vollendung des ersten Lebensjahrs1 , viele davon um den Zeitpunkt der Geburt. Hinter jeder einzelnen Zahl verbirgt sich ein Schicksal, das mit viel Leid für Eltern und weitere Angehörige verbunden ist. Wie können insbesondere die betroffenen Väter – Männern wird ja landläufig ein, gelinde gesagt, "problematischer" Umgang mit der eigenen Gefühlswelt nachgesagt –, bei ihrer Trauerarbeit unterstützt werden? Dieser Fragestellung geht die Sozialpädagogin Stephanie Lummerich nach, die eine Gruppe von Vätern interviewte, die ihre Kinder durch Früh-, Fehl- oder Totgeburt oder durch plötzlichen Kindstod verloren haben.
Autorin
Stephanie Lummerich ist Diplom-Sozialpädagogin und studierte von 2004 bis 2008 Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule in Aachen. Zurzeit arbeitet Stephanie Lummerich als Streetworkerin. Die Autorin lebt in Aachen.
Entstehungshintergrund
Über den Entstehungshintergrund äußert sich die Autorin nicht explizit. Lummerich bezeichnet ihre Veröffentlichung als Studie, vermutlich handelt es sich um eine überarbeitete Fassung ihrer Diplomarbeit.
Aufbau und Inhalt
Das Buch untergliedert sich in sechs Kapitel, die durch das Vorwort und einen Anhangteil gerahmt werden.
In der Einleitung umreißt Stephanie Lummerich die Zielsetzung ihrer Arbeit, die sich in etwa wie folgt skizzieren lässt: Sozialisationsbedingt tun sich Männer – sprich: Väter – schwerer, den Verlust eines Kindes zu bewältigen. Die Autorin geht von der Hypothese aus, dass eine Väter-Trauergruppe hilfreich für die Trauerarbeit ist und will dies anhand von fünf Interviews mit betroffenen Männern illustrieren. Über die Anregung zur Gründung einer Selbsthilfegruppe (gerichtet an die Adresse betroffener Väter) hinaus möchte die Autorin Rolle und Aufgaben der Sozialpädagogik bei der Begleitung einer solchen Trauergruppe skizzieren.
Das erste Kapitel, „Trauer ist ein weites Wort“, befasst sich mit dem Wesen dieser Emotion, ihrer gesellschaftlichen Tabuisierung und den Folgen nicht ausgelebter Trauer. Insgesamt favorisiert Lummerich nicht das bedingungslose Ausleben, sondern eine Balance zwischen gelebtem und kontrolliertem Trauerverhalten.
„Die Trauer um ein Kind“ bildet die Thematik des zweiten Kapitels: Neben der allgemeinen Einführung in die Terminologie von Geburtskomplikationen und der Vaterrolle arbeitet die Autorin ihre Interviews mit verwaisten Vätern ein, die ihr Kind durch Fehl-, Totgeburt oder plötzlichen Säuglingstod verloren haben. Dabei kommen verschiedene Biografien zur Sprache, repräsentiert durch die individuellen Schicksale von fünf Vätern, die von ihren Erfahrungen berichten. Die Schilderungen werden durch inhaltliche Schwerpunkte in Form von Zwischenüberschriften systematisiert, z.B., welche Symbole den Vätern bei der Trauerarbeit hilfreich waren, wie die Reaktionen des Umfeldes ausfielen oder die Beerdigung erlebt wurde.
„Die Vätertrauer“ bildet dann den Schwerpunkt des dritten Kapitels. Hier charakterisiert die Autorin das Trauerverhalten im Großen und Ganzen als defizitär, geprägt durch Sprachlosigkeit und Rückzug, Vernunftbetontheit oder mangelnde Sensibilität für die Reaktionen des Körpers. Das Kapitel wird durch einen Exkurs über die Männergruppe, ihre sozio-emotionale Dynamik und mögliche Interpretationsmodelle beendet.
Im vierten Kapitel mit dem Titel: „Die Trauergruppe“ möchte Lummerich „ergründen, was nötig und hilfreich ist, um selber eine Trauergruppe zu gründen“ (Seite 69) und dazu die Prozesse darstellen, die in dieser Gruppe ablaufen können. Ist es doch das eingangs erklärte, übergeordnete Ziels der Autorin, mit der vorliegenden Arbeit „trauernde Väter zu motivieren, diesen großen Schritt zu gehen und selber eine Trauergruppe zu gründen“ (Seite 5). Im Zuge ihrer Ausführungen streift die Autorin unterschiedliche Aspekte wie Öffentlichkeitsarbeit, Gruppenstrukturen und Organisationsformen, um kurioserweise zu der Feststellung zu gelangen, dass zumindest keiner der interviewten „Väter eine Trauergruppe ausschließlich für Väter wünscht[e]“ (Seite 81). Die Gründe für diese Haltung werden danach erörtert und liegen hauptsächlich darin begründet, dass die Befragten die Teilnahme an einer geschlechtergemischten Gesprächsgruppe betroffener Eltern als ausreichend empfanden. Wobei anzumerken ist, dass die Betroffenen einen sehr offenen Umgang mit ihrer Trauer pflegten (Seite 84). Dennoch wurde die Vätertrauer von den Interviewpartnern als generell zu wenig beachtet empfunden.
Das abschließende fünfte Kapitel kreist dann um die „Sozialpädagogische Begleitung von Trauergruppen für Väter“. Dabei skizziert die Autorin Prinzipien der Begleitung und beschreibt, welche Kompetenzen notwendig sind, eine Väter-Trauergruppe professionell zu unterstützen. Dazu gehört insbesondere die Fähigkeit, pathologische – d.h. destruktive Formen – von regulären Verläufen der Trauer zu unterscheiden.
In der "Schlussbetrachtung" im letzten und sechsten Kapitel zieht die Autorin ein eher persönliches Resümee ihrer Beschäftigung mit dem Thema, welches sich ihrzufolge zwischen mangelnder gesellschaftlicher Akzeptanz und subjektiver Bedeutsamkeit für die Betroffenen bewegt und bei dessen Erforschung Stephanie Lummerich persönlich bewegende Erfahrungen machen konnte.
Ein Anhang umfasst die Darstellung der qualitativen Interviewmethode, den Interviewleitfaden, eine kurze Liste mit Kontaktadressen der wichtigsten Selbsthilfegruppen sowie das Literaturverzeichnis.
Diskussion
Mit ihrer Arbeit über Männer-Trauergruppen greift Stephanie Lummerich ein wichtiges Thema für die Sozialpädagogik auf. Richtig aus meiner Sicht ist, dass die Autorin Trauer – hier folgt sie wahrscheinlich Jorgos Canacakis – grundsätzlich nicht als pathologisches Symptom, sondern als potentielle Kraftquelle und Entwicklungschance auffasst, die bearbeitet und verarbeitet sein will. Ebenso richtig ist, dass die Autorin im nächsten Schritt ihrer Arbeit von den Erfahrungen der betroffenen Väter ausgeht und diese gut strukturiert darstellt. Im empirischen Teil der Arbeit herrscht ein qualitativer Ansatz (leitfadengestütztes Interview) vor, und wenn Lummerich in der Einleitung (Seite 3) ihre wissenschaftliche Forschungsfrage als Hypothese formuliert, dann sollte dies ausdrücklich als qualitativer Fokus verstanden werden.
Dennoch lässt mich die Lektüre etwas ratlos zurück: Zum einen, weil die propagierte reine Väter-Trauergruppe (deren Existenz den Betroffenen eine Hilfe sein solle, s. Hypothese auf Seite 3) von keinem der interviewten Väter (Seite 81) über das bestehende Angebot hinaus als notwendig erkannt wird. Dies mag daran liegen, dass die Autorin implizit mit zwei Väter-Typen arbeitet. Erstens den Interviewpartnern, die einen recht offenen Umgang mit ihrer Trauer pflegen (Seite 84), und jenem Typ Vater, dessen Trauererhalten teilweise klischeehaft-verallgemeinernd als defizitär dargestellt wird (vgl. Kapitel 3: "Vätertrauer").
Zweitens, weil sich mir nicht ganz erschlossen hat, an wessen Adresse sich die Arbeit richtet: Sind es die betroffenen Väter, die zur Selbsthilfe motiviert werden sollen oder sind es Sozialarbeiter/innen, die für die Begleitung entsprechender Gruppen vorbereitet werden sollen? Möglicherweise beides, und das wäre auch gar nicht schlimm, wenn es stärker thematisiert, bzw. zusammengeführt worden wäre. Drittens ist es die Gruppe der Interviewpersonen: Der Kreis der Väter, die ihr Kind zum Zeitpunkt der Geburt oder durch plötzlichen Kindstod verloren haben, scheint sich durch einen zufälligen Kontakt zu ergeben (Seite 108) und weniger aus methodischen Vorüberlegungen. Ich denke, dass gerade diese Zielgruppe mit ihrer besonderen Problematik (z.B. der verwehrten Möglichkeit, eine Beziehung zu ihrem Kind außerhalb des Mutterleibes aufzubauen) einen interessanten Aspekt in der vorliegenden Arbeit hätte ausmachen können.
Diese Kritik – jedoch nicht die störenden Konjunktions- und Zeichensetzungsfehler – möchte ich vor dem Hintergrund der Tatsache etwas relativieren, dass es sich vermutlich um eine Diplomarbeit handelt. Legt man etwas weniger strenge Regeln an, würde ich sagen, dass die Stärke der Veröffentlichung vor allem in der Interviewarbeit besteht, die einen Einblick in das Gefühlsleben von trauernden Vätern vermittelt hat. Die folgenden Kapitel bieten, für sich genommen, einige Anregungen für die Gründung und die Begleitung von Selbsthilfegruppen. Und nicht zuletzt der persönliche, authentische Bezug der Autorin zu diesem wichtigen Thema lässt diese Arbeit lesenswert erscheinen. Schade nur, dass die oben genannten losen Enden nicht verbunden werden.
Fazit
Stephanie Lummerich arbeitet mit ihrem Buch über die Unterstützung trauernder Väter ein wichtiges Thema aus der Perspektive der sozialen Arbeit auf. Dem authentischen Zugang sowie vielen interessanten Aspekten und Anregungen stehen Schwächen bei der Konzeption der Arbeit gegenüber.
1 https://www.destatis.de/DE/Publikationen
Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 27.08.2012 zu:
Stephanie Lummerich: Väter dürfen auch trauern! Sozialpädagogische Perspektiven für die Gruppenarbeit mit trauernden Vätern. ibidem-Verlag
(Hannover) 2011.
ISBN 978-3-8382-0218-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12345.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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