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Andreas J. Obrecht: Zeitreichtum - Zeitarmut

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 11.11.2003

Cover Andreas J. Obrecht: Zeitreichtum - Zeitarmut ISBN 978-3-86099-780-2

Andreas J. Obrecht: Zeitreichtum - Zeitarmut. Von der Ordnung der Sterblichkeit zum Mythos der Machbarkeit. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2003. 397 Seiten. ISBN 978-3-86099-780-2. 22,90 EUR.

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Einführung: Die Zeit als Teil unserer Vorstellung von uns selbst

In der Zeit der "kulturellen Globalisierung", die von den Soziologen, Anthropologen und Ethnografen als "Akkulturation" bezeichnet wurde - bevor die Interdependenz zwischen den Ländern, Kontinenten und Völkern die Richtung bestimmte - geht es um Entgrenzung: wirtschaftlicher, kultureller, politischer, geografischer Art; und um die Veränderung des Bewusstseins, dass wir Menschen auf der Erde, die wir manchmal etwas sehr leichtfertig als "Eine Welt" bezeichnen, aufeinander angewiesen sind. Dieses existenzielle Bezogensein auf den Mitmenschen, lokal, regional und global, erfordert eine interkulturelle Auseinandersetzung über das Sosein der Nächsten und der Fernen. Diese Konfrontation mit dem Dasein und Anderssein der Menschen auf der Erde beginnt mit der eigenen Aufmerksamkeit über den Anderen; dem anderen Aussehen, Verhalten, Denken und Handeln.

Autor und Entstehungshintergrund

Der Wiener Soziologe und Kulturanthropologe Andreas J. Olbrecht hat sich für diese Auseinandersetzung die Zeit-Auffassungen der Menschen aus verschiedenen Kulturen vor genommen. Die Grundlage seiner Reflexion besteht in einem interessanten Experiment: 2001 ließ er sich für mehrere Wochen auf einer menschenleeren Südseeinsel aussetzen. Aus den hier erlebten Zeit-Erfahrungen zwischen dem "Uhrzeitmenschen" und dem "Ereigniszeitmenschen" entstand sein interessantes Buch.

Inhalte und Diskussion

Die Erkenntnis des Uhrzeitmenschen - "Der Baum ist ein Baum" - wird von Obrecht konfrontiert mit der des Ereignismenschen, etwa aus Papua-Neuguinea: "Der Baum spricht, weil ich ihn höre". Diese Gegenüberstellung konfrontiert ethnozentrisches Denken mit mythologischem: "Der Uhrzeitmensch knüpft die Rationalität seines Denkens und Handelns ... an die gemessene Zeit" (S. 68).

Der moderne Mensch der "Weltzeit" ist dem Diktat der Zeit unterworfen. In der vermeintlichen Beherrschung der Zeit unterliegt er ständig dem Problem, sich in "Zeitlosigkeit" zu verlieren. Der Mensch heute müht sich ständig darum, sich via Internet, E-Mail und Überlandflug allseitig und allzeitig präsent zu machen; und doch erfährt er immer wieder, dass er dadurch nicht zu einem intensiveren Erleben und einer befriedigenderen Kommunikation kommt, sondern nur zur Befriedigung seiner individualistischen Bedürfnisse, sich zeit- und raumungebunden zu verorten. So hat sich in unseren Sehnsüchten und Wünschen eine Unzufriedenheit eingenistet: "Da, wo man nicht ist, ist es besser" (97).

Das Skandalon der ungerechten und inhumanen unterschiedlichen Lebensbedingungen der Menschen auf der Erde führt, wie die Entwicklungsprognosen und -statistiken der Vereinten Nationen zeigen, zu mehr Ungerechtigkeit: Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer, das ist die mittlerweile kaum mehr in Frage gestellte Perspektive der Entwicklung der Menschheit. Im Sinne von Obrecht könnte man anstelle der "Reichen" auch den Begriff "Uhrzeitmensch" und der "Armen" den "Ereigniszeitmensch" setzen. Es mutet allerdings illusionär an, wenn der Autor in diesem Zusammenhang zur "Entkoppelung" der wirtschaftenden Gesellschaften der Länder des Südens, den so genannten Entwicklungsländern, vom globalisierten Welthandelssystem rät; diese an die Diskussion um die "Dependenztheorie" erinnernden Ratschläge dürften kaum geeignet sein, zur notwendigen (Zeit)Begrenzung bei der menschlichen Entwicklung beizutragen. Der zweite, von ihm eingebrachte Lösungsansatz, ist diskussionsfähiger: "Zeit-räumliche Entgrenzung bedeutet massive Begrenzung" (179). Diese "illusionären Zukunfts"-Perspektiven, die ja nichts anderes heißen als: Armut als Lebensform und Lebenszeit akzeptieren und praktizieren. Der Makel "Armut" müsste jedoch hier in unseren Köpfen und unserem Bewusstsein verändert werden hin zu einer "Ethik der Genügsamkeit". Die Rufe danach, das zeigen die Entwürfe etwa von Erich Fromm, Neil Postman und anderen, aber auch die antiken eines Epikur, sind nicht neu; sie zu verwirklichen erfordert also immer wieder neu ein stetiges, aktives Bemühen.

In der Auseinandersetzung mit dem Buch wollen wir jedoch nicht in die vom Autor angekündigte "Falle der Empörungen" gelangen, indem wir so tun, als ob eine gerechtere, humanere Welt geschaffen werden könne, wenn wir in unseren "Entwicklungs"-Vorstellungen so weiter machen wie bisher und die heilige Kuh des "Immer-weiter-immer-höher-immer-schneller-immer-mehr" weiterhin mästen; auch nicht, indem wir den "Anderen" glauben machen wollen, ihre Lebensmisere würde dadurch aufgehoben, indem sie so werden wie wir! Was bleibt dann übrig? Vielleicht ein bisschen so werden wie die anderen Menschen? "Wenn sich die Weltbevölkerung als Ethnos begreift, um ihre Grenzen Bescheid weiß, Individualität relativiert, die Natur und sich selbst lebendig wahrnimmt, heute noch oder schon wieder Unsichtbares gegenüber Sichtbarem anerkannt wird, wenn es viele Welten, Räume, Zeiten innerhalb dieser einen Welt geben darf...", vielleicht das!

Die Sehnsucht nach dem "richtigen Leben" ist eine Falle dann, wenn wir dies mit dem Bild des "edlen Wilden" verbinden. Ethnologen unterliegen dieser Gefahr schon ein bisschen. Obrecht auch! Die Neo-Realisten auf andere Weise ebenso! Die Herrschaft des Menschen über den Menschen und seine Zeit, das unsere Zeit charakterisierende Skandalon, kann nicht aufgehoben werden, indem wir die "Zeit zurückdenken". Vielmehr gilt es, in unserer Eigenzeit "Zeit zu sein... Zeit fühlen zu können".

Fazit

So ist Obrechts Buch kein Rezept für "Zeit haben"; es ist eine spannende, anregende Zeithilfe, als Reflexion über die eigenen Einstellungen und Handhabungen der Zeit, um in der Kenntnis und Anerkennung der Zeit des Anderen eine "Ethik der Zeit" zu entwickeln.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245