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Uwe Janatzek: Case management, Software und Soziale Arbeit

Rezensiert von Prof. Helmut Kreidenweis, 30.01.2012

Cover Uwe Janatzek: Case management, Software und Soziale Arbeit ISBN 978-3-86924-063-3

Uwe Janatzek: Case management, Software und Soziale Arbeit. Ein kurzer Versuch einer kritischen Übersicht. AVM - Akademische Verlagsgemeinschaft München (München) 2011. 149 Seiten. ISBN 978-3-86924-063-3. 39,90 EUR.

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Thema

Branchenspezifische Software für soziale Organisationen existiert seit Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Zunächst waren die Systeme stark verwaltungsorientiert, Fachkräfte kamen bestenfalls mit Stammdatenverwaltung in Berührung. Seit der Jahrhundertwende kann eine zwar langsame, doch stetig steigende Software-Durchdringung der fachlichen Praxis Sozialer Arbeit beobachtet werden. Für Prozesse der Anamnese und Diagnostik, der Planung von Hilfen und Maßnahmen, der Dokumentation von Fallverläufen sowie deren Evaluation wird zunehmend hoch spezialisierte Software entwickelt und eingesetzt. Das wirft eine Reihe von Fragen auf: Wie bildet die Software fachliche Konzepte der Sozialen Arbeit ab? Unter welchen Denk- und Handlungsmustern eignen sich die Fachkräfte diese Software an? Wie ist die praktische Nutzung der Programme tatsächliche ausgeprägt? Und auf welche Weise beeinflusst ihr Einsatz das fachliche Handeln der Praktiker und den Outcome Sozialer Arbeit? Diese Fragen sind Gegenstand der noch jungen Disziplin der Sozialinformatik, die sich ebenso mit der Sozialen Arbeit wie mit Theorie- und Methodenkonzepten aus Techniksoziologie, Angewandter Informatik sowie anderen Fachinformatiken verbunden weiß.

Im Methodenpool der Sozialen Arbeit hat sich das Case Management als einer von wenigen Ansätzen arbeitsfeldübergreifend Bedeutung verschafft und fand – teils in gebrochener Form – Eingang in eine Reihe von Sozialleistungsgesetzen und fachliche Konzepte. Insofern liegt es nahe, das Case Managements als exemplarischen Maßstab für die Prüfung der fachlichen Eignung von Software für die Soziale Arbeit zu nutzen. Dies zumal nicht wenige Anbieter dieses Label mehr oder minder plakativ auf ihre Software kleben.

Autor

Uwe Janatzek ist M.A. Sozialmanagement, Diplom-Sozialarbeiter (FH), zert. Case Manager (EFH-RWL), Systementwickler und Programmierer

Aufbau und Inhalt

Der Klappentext bezeichnet es als Ziel des Buches, „zuerst einmal die Möglichkeit, Informationen über verfügbare Anwendungen“ zum Case Management zu erhalten.

Zu Beginn stellt der Autor verschiedene einschlägige Definitionen von Case- oder Fallmanagement gegenüber. Dem folgt eine Auflistung verschiedener Phasenmodelle dieser Methode. Beides verbunden mit der Feststellung, dass es weder in der Theorie, noch in der Praxis ein einheitliches Klassifikationsschema für das Case Management gibt, was unter anderem auch arbeitsfeldspezifischen Ausprägungen der Methodik geschuldet ist. Die anschließende kritische Diskussion fokussiert vor allem den Zusammenhang zwischen dem Case Management und der Ökonomisierung Sozialer Arbeit.

Im Abschnitt zum Wesen von Algorithmen und Software stimmt Janatzek explizit einem Zitat von Bernhard Meyer aus dem Jahr 1991 auch für die heutige Form der Computernutzung in der Sozialen Arbeit zu, wonach Computerprogramme dem Benutzer keine Entscheidungsspielräume lassen würden (S. 23). Anschließend beklagt er die zunehmende Entkoppelung von Basistechnologien wie Hardware und Programmierung von der Anwendungsebene sowie das nach seiner Ansicht weiter schwindende Wissen der Anwendern über technische Zusammenhänge. Im Anschluss wird versucht, einen Theorie-Bogen von der Programmiertechnik über die Techniksoziologie bis hin zu den Neurowissenschaften zu spannen. Dieser mündet im Wesentlichen im Paradigma des Technikdeterminismus, wonach technische Systeme primär prägend auf die sozialen Systeme wirken, in denen sie eingesetzt werden. Im Transfer dieser Annahme auf die Methode des Case Managements wird postuliert, dass diese an sich bereits „technisch orientierte Methode“ (S. 34) durch den Software-Einsatz einer weiteren Mechanisierung zugeführt wird. Belegt wird dies mit Zitaten aus den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts.

Den Hauptteil des Buches bildet eine Auflistung von Eigenschaften und Funktionen von neun Software-Systemen für das Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen, die für sehr unterschiedliche Arbeitsfelder konzipiert sind. Ein wesentliches Auswahlkriterium für die Aufnahme der Programme in die Analyse war, in wie weit der Autor auf öffentlich verfügbare Informationen zu den Programmen zurückgreifen konnte. Tabellarisch werden zu jedem Programm folgende Angaben gelistet: Einsatzbereich, Art der Applikation, Aufbau und Skalierbarkeit, Herkunft, Preis, Anbieter, Service, Website des Anbieters und Anmerkungen. Weiterhin werden pro Programm auf ein bis zwei Seiten die Angaben der Hersteller auf Informations- und Werbemedien sowie Daten aus der Sekundärquelle eines Sonderheftes der Zeitschrift Case Management zusammenfassend dargestellt. Nur einem Fall liegt der Darstellung eine Sichtung der Software selbst zu Grunde.

In der abschließenden Auswertung befasst sich der Autor teils textgestützt, teils in Tabellenform mit einer vergleichenden Gegenüberstellung der Programme nach folgenden Kriterien: Anpassbarkeit (Customizing), Funktionen, Schnittstellen, Support und Lizenzen, Usability, Hardware- und Betriebssystem-Anforderungen sowie Preise. Ebenso enthalten ist eine Analyse der Unterstützung der Case Management-Phasen sowie eine Arbeitsfeld-Zuordnung der einzelnen Programme.

Diskussion

Im Eingangskapitel zum Case Management verbirgt der Autor nicht seine grundlegend kritische Haltung gegen über allem, was mit ökonomischen Kategorien im Feld Sozialer Arbeit in Verbindung gebracht werden kann. So stimmt er etwa vorbehaltlos einem Zitat zu, das Case Management unhinterfragt als „neoliberales Instrumentarium“ bezeichnet (S. 21). Dieser Haltung entspringt auch die anschließende kritische Auseinandersetzung mit dem Kundenbegriff in der Sozialen Arbeit, hinter der er ebenfalls neoliberale Tendenzen vermutet. Eine fundierte Auseinandersetzung etwa mit dienstleistungstheoretischen Konzepten unterbleibt, vieles wirkt apodiktisch und ideologisch gefärbt.

In seinem Theorieteil zum Wesen von Algorithmen sitzt Janatzek auf weite Strecken dem längst überwundenen Ansatz des Technik-Determinismus auf. Damit übersieht er, dass Software in soziotechnischen Systemen immer auch einem Selektions-, Gestaltungs- und Aneignungsprozess menschlicher Akteure unterliegt und eine Wechselwirkung mit organisationalen Regelungen und Prozessen existiert. Derartig komplexe Systeme entziehen sich einfachen Erklärungsmustern, zumal wenn sie zu ihrem Gegenstand komplexe Lebenswelten von Adressaten und daran anknüpfende Hilfeprozesse haben.

Zu einem zentralen Punkt im Kontext des Einsatzes formalisierter Systeme wie Software in der Sozialen Arbeit stößt der Autor in seinen theoretischen Überlegungen leider nicht vor: Das Dilemma zwischen notwendiger Einzelfallorientierung und sinnvoller Standardisierung in den unterschiedlichen Settings Sozialer Arbeit, das sich in methodischen Verfahren wie Case Management, in anamnestischen und diagnostischen Instrumenten und eben auch in Fachsoftware widerspiegelt. Entlang dieses Dilemmas hätte sich eine fruchtbare Diskussion darüber entfalten können, welche spezifischen Chancen und Risiken mit diesen beiden Polen verbunden sind und welche Wege der fachlich-methodischen Gestaltung und modernen softwaretechnischen Abbildung sich hier zeigen.

Ein fundamentales methodisches Manko des deskriptiv-analytischen Hauptteils des Buches ist, dass seiner Untersuchung der Software-Angebote keine direkte Analyse der Funktionalität und Usability der Programme zu Grunde liegt. Im Sinne einer reinen Marktübersicht kann die hier praktizierte Auswertung von Sekundärangaben durchaus genügen. Für eine fundierte Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen zwischen Sozialer Arbeit, Case Management und Software ist das empirische Eis einer Auswertung von Hersteller-Werbetexten deutlich zu dünn. Der Autor selbst beschreibt dies so, dass die ihm vorliegenden Informationen „zumindest eine oberflächliche Darstellung und Beurteilung zuließen“. Für eine Masterarbeit mag dies noch ausreichend sein. Ob es jedoch den Erwartungen der Leser eines Fachbuchs entspricht, darf bezweifelt werden. Dies gilt insbesondere für die Frage, auf die der Titel des Buches implizit eine Antwort verspricht: Mit welcher fachlichen Qualität unterstützt die hier analysierte Software das Case Management und welcher Nutzen ist für Organisationen, Fachkräfte und Adressaten zu erwarten? Der Autor bemerkt dazu lakonisch: „Da für die meisten Anwendungen keine Test-Versionen zur Verfügung standen, lässt sich die Frage nach der Unterstützung der CM-Phasen durch die hier besprochene Case Management-Software nicht detailliert beantworten, zumindest nicht so, daß ein Vergleich möglich wäre.“

Um sich einen ersten Überblick zu verschaffen, ist die Analyse der Programmsysteme dennoch nutzbar. Die Art der Darstellung ist zumeist übersichtlich, die Auswertungen des vorhandenen Datenmaterials wirken in sich schlüssig. Allerding krankt sie an einer willkürlichen Auswahl der Systeme, die am Informationsbedarf der Praxis vorbei geht. Ebenso fehlen wichtige Auswahlkriterien wie etwa die Entwicklungspotenziale und Zukunftssicherheit der Anbieter, die Support-Qualität oder die Laufsicherheit der Software. Unverständlich ist auch, dass der Autor dem Fachpublikum weitere branchentypische Informationsquellen wie etwa social-software.de oder den jährlich erscheinenden IT-Report für die Sozialwirtschaft verschweigt.

Mit dem oben genannten methodischen Defizit gehen auch eine Reihe von Fehleinschätzungen des Autors bezüglich moderner Formen der Software-Nutzung in sozialen Organisationen einher. Wenn er etwa mit einem 20 Jahre alten Zitat versucht zu belegen, dass Software keine Entscheidungsspielräume zulassen würde und gleichzeitig mangelnde Programmierkenntnisse in der Sozialen Arbeit beklagt, so übersieht er völlig, dass sich moderne Programme längst in eine andere Richtung entwickeln: Zur Anpassung an fachliche oder institutionelle Bedarfe stehen mittlerweile programmtechnische Zwischenschichten zur Verfügung, die ohne Kenntnis von Programmiersprachen eine teils sehr weitgehende individuelle Programmkonfiguration erlauben.

Wenig vorteilhaft ist auch, dass der Autor offensichtlich nur über wenig Erfahrungen mit dem praktischen Einsatz branchenüblicher Fachsoftware in sozialen Organisationen verfügt. So drückt er etwa immer wieder seine Verwunderung über fehlende Preisangaben aus. Dabei übersieht er jedoch, dass bei den oft komplexen Programmsystemen mit zahlreichen Modulen sowie bei unterschiedlichen Anwendungskonfigurationen keine einfachen Preisangaben möglich sind und die Anbieter für eine fundierte Preisfindung detaillierte Informationen über die einsetzende Einrichtung benötigen.

Nicht zuletzt sind die hier geschilderten Defizite auch der Tatsache geschuldet, dass der Autor wie schon bei seinem ersten Buch (Sozialinformatik in der Sozialen Arbeit, 2007, vgl. die Rezension), wichtige Teile der sozialinformatischen Fachdiskussion und aktuelle Forschungsergebnisse entweder nicht zur Kenntnis nimmt oder sie in ihrer Bedeutung für seinen Gegenstandsbereich nicht adäquat einzuschätzen weiß.

Fazit

Steckt Sozialarbeit drin, wo Sozialarbeit draufsteht? Auf zentrale Fragen wie diese vermag das vorliegende Buch weder empirisch noch theoretisch eine adäquate Antwort zu liefern. Da eine Validierung der Basis-Informationen weitgehend unterblieb, wird sein methodischer Ansatz auch dem Informationsbedarf der Praxis nur eingeschränkt gerecht.

Wie schon beim ersten Buch des Autors (s.o.) muss hier wiederholt werden: An Fachliteratur werden andere Maßstäbe angelegt, als an Qualifikationsarbeiten. Leider ermöglichen Print-on-Demand-Verlage heute solche Publikationen, ohne dass ein qualifiziertes Lektorat regulierend eingreift. Es ist nicht zu hoffen, dass Fachliteratur damit künftig auf breiter Ebene dem selben Qualitätsrisiko unterliegt, wie beliebige Texte aus den Weiten des Web. Dort ist der Zugang zumindest in der Regel kostenfrei, bei Fachbüchern wird die Enttäuschung zusammen mit der Rechnung geliefert – im vorliegenden Fall zu einem deutlich überhöhten Preis.

Rezension von
Prof. Helmut Kreidenweis
Professor für Sozialinformatik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Gründer und Vorstand des Fachverbandes für IT in Sozialwirtschaft und Sozialverwaltung FINSOZ e.V., Inhaber der Beratungsfirma KI Consult.
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Es gibt 13 Rezensionen von Helmut Kreidenweis.

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ISSN 2190-9245