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Corinna Semmelhack: Ein „Forum“ für Kinder psychisch kranker Eltern

Rezensiert von Prof. Dr. Claudia Maier-Höfer, 11.09.2012

Cover Corinna Semmelhack: Ein „Forum“ für Kinder psychisch kranker Eltern ISBN 978-3-8300-5839-7

Corinna Semmelhack: Ein „Forum“ für Kinder psychisch kranker Eltern. Die Lebenswelt der Kinder und ein Ansatz zur Ergänzung sozialpädagogischer Angebote mittels neuer Medien. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2011. 220 Seiten. ISBN 978-3-8300-5839-7. 75,00 EUR.
Schriftenreihe Sozialpädagogik in Forschung und Praxis - Band 24.

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Thema

Kinder psychisch kranker Eltern erleben ihre Kindheit in einem Spannungsfeld zwischen der Sorge um den Elternteil, der leidet und dem eigenen Leben, das sich von dem der Peergruppe meist erheblich unterscheidet. Aus sozialpädagogischer Perspektive ist der Anschluss an die eigene Entwicklung und die eigene Gestaltung der Lebenswelt im Rahmen intragenerationaler Verhältnisse ein wesentlicher Aspekt der Verarbeitung der besonderen familiären Lebenssituation betroffener Mädchen und Jungen. Dass neue Medien, insbesondere Internet-Foren und Online- Beratung eine sozialpädagogische Hilfeperspektive darstellen können, über Face-to-Face- Angebote hinaus, zeigt Corinna Semmelhack in ihrer Arbeit auf.

Die Perspektive der Autorin ist dorthin gerichtet, wo gesellschaftliche Strukturen die Situation der Töchter und Söhne psychisch kranker Eltern in dem Sinne erschweren, dass Zugänge zu Formen der aktiven Verarbeitung ihrer Lebenssituationen wie auch der aktiven Erarbeitung einer eigenen Lebensperspektive im Rahmen der Beziehungen zu Gleichaltrigen versperrt sind. Stigmatisierung, die mit der Erkrankung einhergeht, seitens der Gesellschaft und der Institutionen und Tabuisierung der Erkrankung im familiären Zusammenleben, verringern die Möglichkeiten, sich der eigenen Lebenssituation bewusst zu werden und sie mit Hilfe unterschiedlicher Angebote in Bezug zu einer eigenen Zukunft zu ordnen.

Die psychische Belastungssituation, in der sich die Mädchen und Jungen befinden, wenn ein Elternteil psychisch erkrankt ist und sei es auch nur vorübergehend, erfordert ein Wahrnehmen der Mädchen und Jungen als besondere Gruppe im gesellschaftlichen Gefüge. Die Autorin vermittelt über die reflektierten Aussagen von Töchtern psychisch kranker Mütter, die sie nun als erwachsene Frauen formulieren können, einen Einblick in die Not der Frauen als sie damals Mädchen waren. Die Vulnerabilität der Gruppe dieser Kinder lässt sich nicht eindeutig definieren. Es ist aber davon auszugehen, dass frühe Zugänge zu Identitätsstiftenden Formen von Hilfemaßnahmen für betroffener Kinder und Jugendliche, die Möglichkeit, sich in eine eigene Zukunft zu entwickeln unterstützen. Die Gefahr erheblich in die Erkrankung des Elternteils verwickelt zu werden und diesbezüglicher Folgen würde dadurch aufgefangen werden können.

Auf der Grundlage dieser Thesen entwickelt Corinna Semmelhack ihre Überlegungen, die dort hin führen, wo sich Formen sozialpädagogischer Angebote über Internet gestalten lassen. Durch diese Angebote werden betroffenen Kindern und Jugendlichen besondere Formen des Zugangs zur aktiven Verarbeitung der Lebenssituation bzw. der Hinwendung zu einer eigenen Lebensperspektive zugänglich gemacht. Sie entsprechen den aktuellen Formen von Präsenz im gesellschaftlichen Rahmen, der mehr und mehr digitalisiert ist. Kommunikationsweisen, die in den vorherigen Generationen undenkbar gewesen wären, haben sich via Internetforum, Chat-Room und Online-Community (diese Begriffe werden für die Leserinnen und Leser im Anhang als Glossar zusammengestellt, wie auch Internetadressen, die in diesem Kontext wichtig sind) zu Möglichkeiten der Konstruktion von Identität entwickelt, die mit der Generation der „digital natives“ verbunden sind. Die Lebenswelt, die auf diese Kommunikationsweisen bezogen, gestaltet wird, bildet Bezugspunkte zum Anschluss an die eigene Zukunft, wo – darauf weist die Autorin immer wieder hin – Zugänge zu klassischen Beratungsangeboten für Kinder und Jugendliche strukturelle Schwellen darstellen, die zu hoch sind, damit sie von den Betroffenen selbstständig erreicht werden können und zu oft noch die Stigmatisierung durch die Erkrankung der Eltern repräsentieren.

Aufbau und Inhalt

Die Arbeit ist klar strukturiert und in zwei Hauptbereiche gegliedert.

  1. Zum einen geht es um die Rekonstruktion der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen, deren einer Elternteil an einer psychischen Krankheit leidet.
  2. Zum anderen werden die Hilfsangebote aus Sicht einer Lebensweltorientierten Sozialarbeit dargestellt.

Die einzelnen Gliederungsabschnitte sind immer mit einem Zwischenfazit versehen, so dass es möglich ist, die Perspektive und die Schlussfolgerungen der Autorin nachzuvollziehen und zum Verstehen der Bedeutung des nächsten Gliederungspunktes zu rekapitulieren. Die einzelnen Gedankenschritte sind in dieser Weise sehr gut nachvollziehbar.

Ausgangspunkt der Darstellung der Bedeutung der digitalen Medien als sozialpädagogische Unterstützung, ist der Moment, wo der Einzelfall in seiner Bedeutung für die Rekonstruktion des Erlebens und der Entwicklungschancen von Mädchen und Jungen Schritt für Schritt in die Wahrnehmung der gesellschaftlich-sozialen Realität der Erkrankung eines Elternteils und die Folgen für die Positionierung des Kindes in der Sozialstruktur überführt wird. Die Perspektive rückt von der Individualisierung des Ereignisses zu den gesellschaftlichen Strukturen und deren Effekte auf das Erleben der Situation seitens der Betroffenen. Von dieser Perspektive aus wird eine besondere, aus Sicht der Sozialpädagogik, wesentliche Einstellung der Menschen, die Hilfemaßnahmen organisieren, vermittelt. Die Lebenswelt der Mädchen und Jungen steht im Mittelpunkt dieser Hilfemaßnahmen und nicht eine „Behandlung“ der Kinder und Jugendlichen im Sinne einer Vermeidung von „Abweichung“. Ihre Art und Weise innerhalb ihrer Generation das Zusammenleben zu gestalten und sich Symbole und Identitäten zu schaffen, die sich von den Normen, Werte und Vorstellungen der vorherigen Generation sinnvoll unterscheiden müssen, um eine eigene Existenzweise im Rahmen der Peer zu begründen, ist der Bezugspunkt dieser Sicht der Sozialpädagogik. Insofern rekurriert die Autorin auf den Ansatz der Lebensweltorientierung von Hans und Renate Thiersch. Angefertigte Konzepte zur Unterstützung von Mädchen und Jungen, die von Einrichtungen angeboten werden, so wie Fördermaßen, um Entwicklungsauffälligkeiten zu beheben gehören in diesem Sinne nicht zu dem geeigneten Repertoire sozialpädagogischen Handelns. Zudem muss die Wahrnehmung der Lebenssituation der Töchter und Söhne eines psychisch erkrankten Elternteils nicht nur als Einzelfall konzipiert werden, sondern als Bezugspunkt der Analyse der Sozialstruktur, um in diesem Kontext die Verdichtung der Schwierigkeiten der Lebenssituation der Mädchen und Jungen hin zu einer Rekonstruktion der Lebenswelten leisten zu können. Dies ist der Moment, wo die Kinder und Jugendlichen von sich selbst und ihrer Situation sprechen können, die eben nicht von vorgefertigten Konzepten und um diese zu rechtfertigen, bereits konfisziert ist.

Zunächst rekonstruiert die Autorin das Erleben der Mädchen und Jungen anhand der Schwere und der Form der Erkrankung des Elternteils. Vor dem Hintergrund Entwicklungspsychologischer Konzepte stellt sie Risiko- und Schutzfaktoren dar. Die Risiko- bzw. Schutzfaktoren bemessen sich nach Eintritt der Erkrankung eines Elternteils in frühen oder späteren Lebensabschnitten der Töchter und Söhne, nach Geschlecht, Geschwisterkonstellation und persönlichkeitsspezifischen Eigenschaften der Kinder und Jugendlichen. Die Autorin schließt, dass lediglich bezogen auf den Einzelfall Prognosen, bzw. ätiologische Rückschlüsse auf den Zusammenhang zwischen Verhaltensauffälligkeit des Kindes bzw. auf psychische Erkrankung des Kindes als spätere erwachsene Persönlichkeit und psychische Erkrankung eines Elternteils sinnvoll gemacht werden können. Schutzfaktoren, wie z.B. ein positiv das Mädchen oder den Jungen unterstützendes Umfeld und Beziehungen, die die Mädchen und Jungen selbst gestaltend aufbauen und erhalten können, lässt die Wahrscheinlichkeit sinken, dass diese in erheblichem Maße durch die psychische Erkrankung eines Elternteils eine Beeinträchtigung ihrer Entwicklung bzw. ihres Erwachsenenlebens erfahren.

In einem nächsten Schritt stellt Corinna Semmelhack bestehende Hilfsangebote für Mädchen und Jungen mit einem psychisch erkrankten Elternteil dar. Die rechtlichen Rahmenbedingungen wie auch unterschiedliche Formen von Beratungs- und Unterstützungsstrukturen werden aufgeführt. Die Notwendigkeit, diese bestehenden Strukturen um besondere Formen zu ergänzen, die auf die Bedürfnisse und Situationen dieser besonderen Klientinnen und Klienten zugeschnitten sind zeigt sich im Laufe dieser Darstellung. Daran anschließend formuliert die Autorin Ziele, die diese besonderen Angebote erreichen müssen. So soll es um Aufklärung und soziale Unterstützung durch erwachsene Ansprechpartner wie auch durch betroffene Gleichaltrige gehen. Insofern kann sich eine Kombination aus Informationsseiten, einem Online-Beratungsangebot wie auch einer Community als sinnvoll erweisen (die unterschiedlichen Kombinationen sind im Anhang als Abbildungen dargestellt). Evaluation von bestehenden Angeboten, wie z.B. eine Einzelberatung, habe ergeben, dass Kinder über ihre emotionale und psychosoziale Situation im Einzelgespräch reden möchten. Eine Form von Online- Gruppen-Beratungen wäre für dieses Bedürfnis nicht sinnvoll. Der Austausch von Laien kann etwas riskant sein, weil Missverständnisse entstehen können und die sachliche Ebene zugunsten von destruktiven Äußerungen verloren gehen kann. Die Anonymität verleitet dazu die „Netiquette“ zu verlassen. Die Chancen und Risiken der Internetwelt werden in diesem Rahmen deutlich. Diesem Thema stellt sich die Autorin. Ansonsten fällt ihr Fazit positiv aus, was die Bedeutung der Internet-Welt als Arrangement eines „Ortes als Gelegenheit für Begegnungen und Inszenierungen von Beziehungsmustern“ angeht, wie sie in Rekurs auf Hans Thiersch die Bedeutung der Sozialen Arbeit zusammenfasst. Die Erwartungen dürfen aber nicht „überspannt“ werden. Die jeweiligen Internetangebote sind sinnvoll und sensibel zu strukturieren.

Diskussion

Die Leserinnen und Leser lernen die besondere Situation der Mädchen und Jungen kennen, die eine Mutter oder einen Vater haben, die bzw. der psychisch erkrankt ist. Dass diese Situation in Bezug zur Notwendigkeit diskutiert werden muss, einen Raum für Information, Aufklärung, Selbstberatung und Austausch zu gestalten, lässt diese Gruppe von Klientinnen und Klienten der Sozialen Arbeit in die Öffentlichkeit geraten. Die genaue Anzahl der betroffenen Kinder lässt sich nicht ausmachen. Die Dunkelziffer ist womöglich sehr hoch. Dass diese Mädchen und Jungen wahrgenommen werden, eröffnet aber einen Rahmen, um auf besondere Bedingungen für sozialpädagogische Maßnahmen in diesem Bereich zu achten. Hierin erweist sich die Arbeit von Corinna Semmelhack als sehr innovativ. Dass es medial gestützte Angebote sein können, öffnet den Blick sowohl für die Medien und deren Potential für Kommunikation und Austausch wie auch für die nächste Generation und deren Strukturen sich Präsenz im sozialen Raum zu schaffen und sich zu repräsentieren.

Fazit

Das Buch ist sehr empfehlenswert für Studierende und Fachleute, die sich in Bezug zur Vielfalt von Lebenssituationen wie auch Unterstützungsformen informieren wollen. Als Grundlage, um die Situation der Mädchen und Jungen in Bezug auf strukturelle Dimensionen der Lebenslage und der familiären „Normalität“ zu begreifen, bildet die Arbeit einen Anlass, um sich genauer mit den gesellschaftlichen Aspekten von Erkrankungen bzw. Stigmatisierung und Tabuisierung zu befassen. Dass diese Aspekte Generationen übergreifend sein können, gilt es zu bedenken.

Rezension von
Prof. Dr. Claudia Maier-Höfer
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Es gibt 3 Rezensionen von Claudia Maier-Höfer.

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Zitiervorschlag
Claudia Maier-Höfer. Rezension vom 11.09.2012 zu: Corinna Semmelhack: Ein „Forum“ für Kinder psychisch kranker Eltern. Die Lebenswelt der Kinder und ein Ansatz zur Ergänzung sozialpädagogischer Angebote mittels neuer Medien. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2011. ISBN 978-3-8300-5839-7. Schriftenreihe Sozialpädagogik in Forschung und Praxis - Band 24. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12363.php, Datum des Zugriffs 03.12.2023.


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