Christa Putz: Verordnete Lust
Rezensiert von Dr. Thorsten Benkel, 09.11.2011

Christa Putz: Verordnete Lust. Sexualmedizin, Psychoanalyse und die "Krise der Ehe", 1870 - 1930.
transcript
(Bielefeld) 2011.
256 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1269-1.
28,80 EUR.
CH: 47,00 sFr.
Reihe: 1800 - 2000 - Band 3.
Thema
Wenn Männer oder Frauen „keine Lust“ haben oder andere Lüste verspüren als jene, die in einer Gesellschaft als „normal“ gelten – handelt es sich dann um pathologische Fälle, für die die Medizin zuständig ist? Lange Zeit gehörte die Fahndung nach dem „Normalmaß“ der Lust tatsächlich zum Ressort von Ärzten dazu, bis der medizinische Sexualdiskurs, befeuert unter anderem durch die Psychoanalyse, neue Wege zu gehen wagte. Die spekulativen Verfahren, die zuvor in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende angewendet wurden, sind aus heutiger Sicht ein bizarres Sammelsurium wagemutiger Reisen ins Unbekannte. Aus der Rekonstruktion diverser Diskurse und Fallgeschichten, die diese (Irr-)Wege der Wissensgenerierung repräsentieren, lässt sich ein Bild von der historischen Funktion der Sexualität an der Bruchstelle zwischen Tradition und Innovation nachzeichnen.
Autorin
Christa Putz arbeitet in Wien als freiberufliche Historikerin mit dem Schwerpunkt Medizingeschichte.
Entstehungshintergrund
Das Buch stellt die geschichtswissenschaftliche Dissertation der Verfasserin dar, die 2009 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz eingereicht wurde. Es erscheint als Bd. 3 der seit 2010 edierten Reihe „1800/2000 – Kulturgeschichte der Moderne“.
Aufbau
Die Arbeit gliedert sich in fünf Hauptkapitel, die dem historischen Zeitverlauf folgen; der letzte der fünf Abschnitte bringt eine Reihe von Fallbeispielen.
Inhalt
Man könnte von einem Diktat der Lust sprechen: Kommt heutzutage in einer Partnerschaft das Begehren zu kurz, dann „stimmt etwas nicht“ (vgl. 11f.). Dies gilt umso mehr in einer Zeit, da Sexualität nicht länger als Fortpflanzungsdiskurs, sondern als Bestandteil eines gesundheitlich orientierten Denkens gewertet wird. Der heutzutage selbstverständlich gewordene Gedanke, dass sich beispielsweise eine Ehe nicht aufrechterhalten lässt, wenn Sexualprobleme langfristig unbehandelt bleiben, ist historisch gesehen eine recht junge Überlegung. Sexualität galt nicht immer als Stützpfeiler intimer Beziehungen; das hat sich auf die Ausgestaltung der Therapeutisierungsstrategien, die verlorene Lust „verordnen“ wollten, ausgewirkt. Funktionsstörungen wurden lange Zeit auf Onanie, die Verfügbarkeit der Prostitution, auf Exzesse oder sonderbare Vorlieben zurückgeführt, ganz zu schweigen von genetisch bedingten Veranlagungen (28) oder von solche Blüten der medizinischen Aufklärungsarbeit wie der „berufsbedingten Impotenz“ bei Offizieren, Theologen und Lehrern (34)! Dieser Blick durch die moralische Brille hat (etwa noch um 1889) darüber hinaus die Enthaltsamkeit als durchaus „unschädliche“ Umgangsform mit den sexuellen Regungen forciert (30). Insbesondere die Frau sollte „innere Ruhe und äußere Ordnung“ wahren, um nicht zwischen die Extreme der Sittlichkeit und Unlust auf der einen und der Lasterhaftigkeit und Nymphomanie auf der anderen Seite zu gelangen (40 f.).
Um 1910 herum, und schon unter leichtem Einfluss psychoanalytischer Standpunkte, kristallisierte sich heraus, was Jahrzehnte zuvor bereits andeutungsweise angesprochen wurde: dass nämlich die Onanie offenbar kein auslösender Faktor für eheliche Unlust darstellt (77 f.). Einen radikalen Wandel der Körper-, der Geschlechts- und der Sexualdebatten haben solche nun immer häufiger auftretenden Paradigmenwechsel zunächst aber nicht ausgelöst, die Veränderung erfolgte vielmehr schleichend. (So wird noch 1924 in einem mehrtausendseitigen einschlägigen Handbuch die Klitoris gerade acht Mal erwähnt; 81.) Zeitgleich hat sich eine Loslösung von der Fixierung auf die Anatomie etabliert, die der Lust einen Prozesscharakter zuschreibt. Statt physiologischer Statik und Immergleichheit sollte von dann an die Idee eines mal an- und mal absteigenden Gefühlsempfindens gelten (97), was zugleich die populäre Vorstellung revidierte, das männliches und weibliches „Triebleben“ sich in bestimmte Kollektivschubladen einsortieren lässt.
Nachdem die Idee einer „sozialen Formbarkeit des Triebes“ kurz vor dem Durchbruch stand (107), wurde es für die medizinischen Experten zunehmend schwieriger, pauschal zwischen gesundem und krankhaftem Sexualempfinden zu differenzieren. Im gleichen Augenblick führte die Verschiebung der Denkmuster interessanterweise jedoch zu einer zuvor ungeahnten Gefährdung der Ehe. Kleinfamilien wurden bis dahin traditionalistisch als performative Ausführungen eines Ordnungsprinzips gedeutet, das u. a. auch die Sexualität kontrollierbar macht (130). In dem historisch im 19. Jahrhundert sich etablierenden Idealbild der romantischen Liebe ersetzt Leidenschaft das „normative“ Pflichtbewusstsein, das zuvor Intimbeziehungen dominiert hat. In diesem Umfeld konnte eine von Pathologisierungen befreite Sexualität gedeihen, die allerlei Irrungen und Wirrungen produziert hat: „Gefühl und Vernunft, Lust und Ordnung, Mann und Frau, Stabilität und Dynamik treten in einen Konflikt, behindern und stören einander“ (138). Beispielhaft kann die juristische Tendenz angeführt werden, dass nach 1890 de facto keine Ehefrau mehr wegen der Verweigerung „ehelicher Pflichten“ verurteilt worden ist (141).
Neben der bevölkerungspolitischen Dimension (Geburtenrückgang, Fruchtbarkeitsknick) hat die wachsende Toleranz für die Sexualautonomie sogar einen Rückstoß wider die traditionalistische Perspektive bereit gehalten, insofern um 1900 die Vorstellung zu grassieren begann, dass Abstinenz pathologisch sei (143)! Vor diesem Hintergrund muss die moderne Ehe, in der auch die Frau ihre Lust artikuliert, als das Resultat einer Metamorphose begriffen werden. Sie hat sich vom Universaltherapeutikum gegen zwischenmenschliche Unordnung zum Nährboden für Frust statt Lust und zur Krankheitsverursacherin verändert – und beides, das frühere ebenso wie das spätere Verständnis, geht auf medizinische Expertisen zurück.
Die Verschlingung von Psyche, Gesellschaft und Körperlichkeit ist in den Jahren von 1870 bis 1930 komplex und vielschichtig verlaufen. Letzten Endes hat sich daraus ein differenziertes Bild der Subjektkonstitution ergeben. Wie diverse Fallbeispiele deutlich machen haben sich Mediziner der damaligen Zeit dagegen mit Verweis auf naturwissenschaftlich-materialistische Positionen gewehrt. Neben Genussreisen mit der Gattin als harmloser, „goldene[r] Leichtsinn ohne Lasten“ (164) wurde lange Zeit nach somatischen Auslösern der Unlust gesucht, die dann beispielsweise über Genitalverätzungen und Klitorisamputationen (169) oder über Gewerbezerstörung durch eine in die Harnröhre eingeführte, elektrisch geladene Drahtschlinge (213f.) beseitigt werden sollten. Auch diese Irrwege wurden schließlich irgendwann nicht länger beschritten; nicht zuletzt deshalb, weil sich das Bild eines mündigen Patienten durchzusetzen begann, dem seine Ärzte wie ein „Diplomat, nicht Inquisitor oder Richter“ gegenüber traten (188).
Diskussion
Putz' Buch ist eine historische Arbeit, die weitgehend deskriptiv und rekonstruierend, aber gerade dadurch auch kontextualisierend daher kommt. Die Studie bietet eine Historisierung der Pathologisierung von Unlustempfinden und macht diverse „Kehren“ im medizinischen Sexualdiskurs aus. Der von Freud behandelte „Fall Dora“ dient in mehrfacher Hinsicht als exemplarisches Beispiel eines schließlich doch sich wandelnden Wissensgebietes, das damals – wie heute! – Krisenpotenzial bereithält. Die Abwesenheit von Lust ist nach wie vor, zumal im partnerschaftlichen Setting, ein Problemindikator (vgl. 232). Die damit einher gehende „Last der Lust“ dürfte aktuell zu einem nicht geringen Anteil – und anders als in den Befunden, die Putz untersucht hat – auf die Ökonomisierung und Rationalisierung von Emotionen und insbesondere von Liebe und Erotik zurückführbar sein. Vielleicht ist diese Umgangsform nur eine neue Variante alter „Verkleidungen“, mit denen Experten den Schattenseiten des Kulturproblemkontexts „Sexualität“ Herr werden wollen. Um 1900 verlief die Behandlungslinie zunächst über den Körper und erst allmählich über die Psyche; Erfolge und Misserfolge tauchten (und tauchen) bei beiden Behandlungstypen auf. Was die vorliegende Studie lesenswert macht ist, so gesehen, nicht die nüchterne Bilanz, dass medizinische Angelegenheiten von heute aus gesehen zu früheren Zeiten „aus dem Ruder liefen“, denn eine solche Folgerung ist keine Kunst (und wer weiß, was die Medizin in 100 Jahren über die Usancen gegenwärtiger Behandlungspraxen zu sagen haben wird?). Aufschlussreich und spannend ist die zunächst etwas schwer zu durchdringende Gleichzeitigkeit konkurrierender Verfahren, die gegen die Lustlosigkeit aufgewendet wurden und die zu diesem Zweck verschiedene Stränge bündeln mussten. Neben psychosozialen Faktoren wie dem Intimitätskontext kamen juristische, ethische, ja auch naturwissenschaftliche Elemente ins Spiel, die Berücksichtigung fanden, und die am Ende die Lösung eines Problem liefern sollten bzw. wollten, das möglicherweise gar keins war.
Bemerkenswert ist außerdem die (erfreulich zurückhaltend artikulierte) Gender-Dimension. Wenn ein damals so berühmter und innovativer Sexualforscher wie Havelock Ellis 1912 zu konstatieren wusste: „Die Passivität des Weibchens ist nicht eine wirkliche, sondern nur eine scheinbare“ (114), dann ist damit nicht eine Naturfeststellung getroffen, sondern letzten Endes eine Aussage über Kulturverhältnisse, die im Wandel begriffen sind (und die sich aus heutiger Sicht derart verschoben haben, dass man über das Zitat geradezu schmunzeln muss). An der Rolle der Frau, wie sie (zum weit überwiegenden Teil männliche) Mediziner definierten, lässt sich erkennen, durch welche diskursiven Strategien gesellschaftliche Ordnungsmuster qua Wissensdistribution buchstäblich „inkorporiert“ wurden. Ob dies heutzutage vorbei ist oder vielleicht schlichtweg anders abläuft, wird vielleicht eine zukünftige historische Arbeit im Stile des vorliegenden Buches klären.
Fazit
Eine vorwiegend rekonstruierende, aber unterhaltsame Untersuchung zu einem historischen Kapitel medizinischer Wissensverarbeitung, die die Problematik des Grenzverlaufs zwischen Normalität und Abweichung nachvollziehbar erhellt.
Rezension von
Dr. Thorsten Benkel
Akademischer Oberrat für Soziologie
Universität Passau
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