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Marie-Luise Conen: Ungehorsam - eine Überlebensstrategie

Rezensiert von Dr. phil. Oda Baldauf-Himmelmann, 16.11.2011

Cover Marie-Luise Conen: Ungehorsam - eine Überlebensstrategie ISBN 978-3-89670-783-3

Marie-Luise Conen: Ungehorsam - eine Überlebensstrategie. Professionelle Helfer zwischen Realität und Qualität. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2011. 175 Seiten. ISBN 978-3-89670-783-3. 21,95 EUR.
Reihe: Systemische soziale Arbeit.

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Thema

Ökonomisierung, Dienstleistungsgesellschaft, Effizienz und Effektivität, Qualität, Neoliberalismus… Schlagworte, die längst ihren verbalen Rahmen verlassen haben und in der Realität der helfenden Berufe, insbesondere aber in der (psycho)sozialen Arbeit angekommen sind. Die Diskussion darum ist nicht ganz neu, doch der wachsende Unmut findet nun mehr in Veröffentlichungen seinen Niederschlag. Dabei verändert sich auch der Ton, der nicht mehr nur auf eine für wenige Leser verständliche, verwissenschaftlichte Sprache und abgehobene Theoriegebilde insistiert sondern, der unmissverständlich und sprachlich klar auf die politische Dimension professionellen Handelns verweist. Das könnte ein Auftakt dafür sein, dass endlich auch die unter immensen Zeitdruck stehenden Helfer und Praktiker wieder mit in die Diskussion involviert werden.

Autorin

Marie-Luise Conen ist promoviert, Psychologin und Pädagogin sowie Leiterin des Context-Instituts für systemische Therapie und Beratung in Berlin. Von 1993 – 2000 hatte sie den Vorsitz der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie (DAF) inne. Inzwischen kann sie auf zahlreiche Veröffentlichungen zurückblicken u.a.: Wo keine Hoffnung ist, muss man sie erfinden. Aufsuchende Familientherapie (5. Aufl. 2011), Wie kann ich Ihnen helfen mich wieder los zu werden? Therapie und Beratung in Zwangskontexten (3. Aufl. 2011) usw.

Entstehungshintergrund

Hintergrund bildet für die Autorin die grundlegende Überzeugung, dass die Verschlechterungen in den Arbeitsbedingungen, -inhalten und in den Möglichkeiten, qualitativ gute Arbeit zu leisten, sich nicht von selbst verändern werden. Daraus erwuchs das Bedürfnis, Helfer mit dem eigenen Unmut anzustecken und sie zu verdeckter und subversiver Gegenwehr zu ermutigen. Letzteres resultiere dabei aus der derzeitigen Situation vieler Helfer, sich im Moment nicht offen wehren zu können oder eine solche Gegenwehr nicht für möglich zu halten.

Aufbau

Die Publikation ist untergliedert in eine einführende Einleitung und zwei große Teile.

  1. Der erste Teil geht der Frage nach: Was ist los?
  2. Und der zweite Teil beschäftigt sich mit der Frage: Was ist zu tun?

Dabei diskutiert die Autorin im ersten Teil in 17 Kapiteln, anhand von vielen (Fall)Beispielen Situation und Fragestellungen, sowohl aus Klientensicht als auch aus Sicht der Helfer. Der zweite Teil ist an die professionellen Helfer gerichtet und zeigt in 7 Kapiteln, wiederum anhand von Beispielen, verschiedenen Möglichkeiten des Umgehens mit der derzeitigen Situation auf, Möglichkeiten des „Ungehorsams“ inklusive.

1. Einleitung

In der Einleitung schildert die Autorin ihr Bedürfnis, aus dem heraus das Buch entstand. Sie verweist auf Erfahrungen, die sie mit anderen Publikationsbeiträgen, Vorträgen und sich anschließenden Debatten gemacht habe, nämlich einem entsprechenden signalisierten Bedarf, die derzeitigen Rahmenbedingungen psychosozialer Arbeit zu reflektieren und zu diskutieren. Gleichzeitig macht sie klar, dass sie entgegen üblicher neutraler systemischer Haltung, subjektiv und parteilich in ihren Überlegungen sein werde mit dem Ziel, eine zusammenfassende Betrachtung und Analyse der gegenwärtigen Arbeitssituation professioneller Helfer mit der Darstellung von Möglichkeiten der Einflussnahme zu verbinden.

2. Was ist los?

Dieser Teil wird mit „Status quo“ eingeleitet und beschreibt anhand einiger Beispiele absurde Reaktionsmöglichkeiten von helfenden Institutionen auf immer kürzere Förderperioden, auf weniger finanzielle Ausstattungen und auf unrealistische und unangemessene Effizienzanforderungen und deren Konsequenzen für die Arbeit der Helfer.

„Zwischen Hilfe und Kontrolle“ schafft als zweites Kapitel den Übergang zu einem kaum geführten kritischen Diskurs und mangelnder Reflexion zu normativen Erwartungen gegenüber Klienten und damit verbundener fehlender Kriterien für Einschränkungen und Weisungen durch die Helfer. Infolgedessen treten der Rückgriff auf Diagnoseinstrumente, eine Versimplifizierung von Methoden durch Technikzentrierung und Kontrolle in den Vordergrund, ohne die gesellschaftliche Bedingtheit der Hilfebedürftigkeit zu berücksichtigen. Kritisch wird dann auf Konsequenzen verwiesen, z.B. erzeuge dies beim Helfer vielfach Resignation und bei den Klienten destruktive, Autonomie beschneidende Regressions- und Anpassungsmuster.

Im dritten Kapitel wirft Conen die Frage auf: „Was hat sich verändert?“ und verweist dabei auf konkrete Auswirkungen, wie zum Beispiel auf verschiedenen Ebenen stattfindende Suchbewegungen bei den Helfern und deren Institutionen und konkreten Veränderungen in den Unterstützungsabläufen, die den Klienten dann zugemutet werden.

Im vierten Kapitel wird die „Eigenverantwortliche Arbeitsgestaltung“ als vorrangiges und in einer Studie nachgewiesenes Interesse der Helfer betont, was durch die veränderten Rahmenbedingungen zum latenten inneren Widerspruch führe und ein Augenmerk auf den Erhalt der eigenen Arbeitskraft erfordere.

Dem schließt die Autorin die Frage; „Wie lange will und kann ich professioneller Helfer sein?“ an. Anhand von Studien werden Tendenzen von Berufsausstiegen, Arbeitsplatz- und Berufswechseln und sinkender Studienanfängerquoten, vor dem Hintergrund schlechter Berufsaussichten, sich permanent verschlechternder Arbeitsbedingungen und schlechter Bezahlung nach TVÖD benannt und diskutiert.

Dabei werden die Belohnungs- und Anerkennungssysteme im sechsten Kapitel; „Wie wenig darf es denn sein…?“ konkret unter die Lupe genommen und geschlechtsspezifisch verdeutlicht.

Dies habe; „Mangelnde Bindung und Dienst nach Vorschrift“ zur Folge und führe zu Wut aber auch Resignation. Für Letzteres thematisiert und kritisiert Conen z.B.den restriktiven Umgang mit Whistleblowern und das Fehlen von Einrichtungen, die unabhängig von Institutionen und Politik, Kritiken und Hinweise für Unzulänglichkeiten annehmen.

„Rache am Chef – oder: Wie viel Reformen vertragen Mitarbeiter?“ ist das achte Kapitel überschrieben und setzt sich mit der Eigenlogik und bedingt steuerbaren Veränderungen von Organisationskulturen im Rahmen von herrschenden Koalitionen und Machtverhältnissen auseinander, mit Verweis auf das Erfordernis wechselseitiger Kommunikation.

Im Kapitel „Psychosoziale Arbeit - eine Arbeit wie andere auch?!“ wird das Doppelmandat von Hilfe und Kontrolle in den derzeitigen gesellschaftlichen Kontext gestellt und einer kritischen Prüfung besonders dort unterzogen, wo sich Kontrolle auch und insbesondere gegen die Helfer selbst richtet.

Die Relevanz verschiedener Formen von Macht, mithin der Ohnmacht findet im zehnten Kapitel; „Ohnmacht – Macht – Herrschaft – macht nichts!?“ als wechselseitiges Bedingungspotenzial seine gravierenden Auswirkungen in den z.B. von Helfern aufgesuchten Familien, deren Not sich verschlimmere anstatt sich zu bessern.

Ein weiterer Faktor, neben Macht, sind die Finanzen und ihre Vergabepraktiken, deren Hintergründe, Strukturen und Folgen eindrucksvoll, anhand von Beispielen in der Praxis erörtert werden. Das Kapitel ist mit „Geschlossenheit? – Geschlossenheit!“ überschrieben.

Mit der Sicht der Leiter von psychosozialen Einrichtungen führt Conen eine weitere problematische Ebene im Kapitel; „Leitungspersonal – auch Leiter sind Mitarbeiter“ ein und diskutiert Bedingungen, die es Leitungen ermöglichen würden, den als notwendig erachteten Widerstand aufzubringen.

Potenzial der und Hemmnisse für Eigenverantwortlichkeit bei selbständig tätigen Sozialarbeitern werden im Kontext der derzeitigen Bedingungen diskutiert. Das Kapitel trägt die Überschrift; „Arbeitskraftunternehmer auch in der psychosozialen Versorgung?“

Konkurrenz und Nischen zwischen den sozialen Trägern, Organisationen und Institutionen finden als Ausdruck von „Dynamiken zwischen beauftragenden Institutionen und Auftragnehmern“ ihre kritische Betrachtung im vierzehnten Kapitel.

Technikzentrismus, Verplanung, Standardisierung, überdimensionierte Dokumentationsanforderungen und lineare Prozesswege werden als Blüten neoliberalen Dauersparens von der Autorin im fünfzehnten Kapitel; „Hilfepläne – verplante Klienten und Mitarbeiter?“ vehement kritisiert und anhand von Beispielen konkretisiert.

Dem schließt sich im Kapitel; „Diagnosen und Normierungsversuche – statt zeitaufwändiges Aushandeln“ eine weitere destruktive Konsequenz der Sparpolitik an, die den psychosozial Arbeitenden letztlich die eigentliche und wirksame Basis ihrer Arbeit entziehe. In Ansätzen verweist hier bereits die Autorin im Gegenzug auf Möglichkeiten gelingender Diagnostik.

Systemische Denkweisen und Methoden werden in ihrer Ressourcenorientierung und Abkehr von Symptomfokussierung, in der derzeitigen Situation polarisierter Theorie und Praxis, als Potenzial zur Brückenbildung zwischen beiden Polen diskutiert. Dieses Kapitel ist mit; „Steuerung und Wirkung – das geht uns an!“ überschrieben und leitet den zweiten inhaltlichen Teil bereits ein.

3. Was ist zu tun? – Ungehorsam auf allen Wegen

„Sich organisieren bringt Segen – Gewerkschaft, Gewerkschaft…“ verweist auf mögliche Organisationsformen in Gewerkschaften und Berufsverbänden außerhalb der Institutionen und natürlich auch darauf, wie die Organisationen ihre Potenziale ausbauen müssen.

Im zweiten Kapitel; „Wie gründe ich einen Betriebsrat, ohne die Leitung dagegen aufzubringen?“ wird eine innerbetriebliche Organisationsform in ihrer optimalen Struktur und Ausrichtung diskutiert.

Im dritten Kapitel bezieht Conen die Möglichkeiten in einer von Medien geprägten Welt mit ein und verweist auf die Potenziale von Öffentlichkeit. Beispielhaft werden hierbei verschiedene Formen wie Wistleblowern, Mitarbeit in Gremien, (Brand)Briefe, Unterschriftsammlungen, Petitionen etc. diskutiert. Das Kapitel ist überschrieben mit; „Einfluss nehmen – Einfluss nehmen auf die Öffentlichkeit“.

Wie wirksam es beispielsweise sein kann, Fragen zu stellen und damit auch innerinstitutionelle Veränderungen anzuregen, zeigt Conen mit dem Kapitel; „Wie kann ich die eigene Institution bzw. Einrichtung verändern?“

Selbst in den destruktiven Regel- und Vorschriftenkatalogen sieht die Autorin noch kreative Auslegungsmöglichkeiten, die ein Weiterarbeiten aber auch Veränderungen ermöglichen. „Vorschriften sind dazu da herauszufinden, wie man trotzdem arbeiten kann“ ist das fünfte Kapitel überschrieben.

Subversives Vorgehen, Möglichkeiten der Entschleunigung und subtiler Verweigerung insistieren im Kapitel; „Ungehorsam – eine Überlebensstrategie“ auf Möglichkeiten, die das Selbstüberleben der Helfer ins Auge fassen.

Im abschließenden Kapitel werden - unter der Überschrift; „Was kann ich tun? Was kann ich infrage stellen?“ – diese Möglichkeiten durch weitere Formen des Hinterfragens und der Abgrenzung ergänzt.

Diskussion

Die verfolgte Intention der Autorin, Helfer mit dem eigenen Unmut anzustecken und sie zur Gegenwehr zu ermutigen, geht in jedem Falle auf. Dabei sind die Mittel, dies zu erreichen sehr einfach. Sie liegen in der klaren Struktur, Situationsanamnese und die Frage nach den Umgehensmöglichkeiten mit dieser Situation, als überschaubare Grundthemen miteinander zu verbinden. Untermauert wird dies durch eine einfache, verständliche Sprache und eine ausgewogene Balance von Fallbeispielen, herangezogenen Studien und genutzten Verweisen auf Theorien. Die absolute Stärke dieses Buches besteht jedoch darin, an den konkreten Situationen und Bedingungen und hoffentlich damit an den Interessen der Helfer und helfenden Institutionen in wertschätzender, herausfordernder Weise anzuknüpfen, …quasi ein gelungenes „Joining“ gegenüber einer ganzen Profession! Darüber hinaus inspiriert das Buch als Überlebensführer und in seinen brisanten und politischen Statements zu einer Reihe von Fragen: Wie hoch dürfen die Folgekosten werden, wenn der derzeitige Lauf der Dinge nicht aufgehalten werden kann? Wer wird dann, in welcher Weise mit der Situation fertig? Welche Qualität und Quantität sozialer Arbeit will man sich zukünftig leisten? Was passiert, wenn die erforderliche Qualität weiter sparend verhindert wird? Gleichzeitig öffnet das Buch auch den letzten Zweiflern, die sich bisher für wütende Außenseiter hielten, die Tür und bestätigt: Wut darf sein, ist gerechtfertigt und kann und sollte von nun an konstruktive Beine kriegen. Eine öffentliche Diskussion, die auch Politiker, Ausbilder, Dozenten und Sozial- und Geisteswissenschaftler erreicht, kann dabei nur nützlich sein.

Fazit

Das Buch gehört als Überlebensführer, Mutmacher und Argumente-Lieferant, als scharfsinnige und umfassende Bestandsaufnahme der Ist-Situation und strategischer Ratgeber in die (persönliche) Bestseller- und Best Practice-Liste sowie in die Regale professioneller Helfer und jener, die sie aus- und weiterbilden.

Rezension von
Dr. phil. Oda Baldauf-Himmelmann
Ausgebildete systemische Therapeutin / Familientherapeutin, Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin und Kulturwissenschaftlerin. Arbeitet als Akademische MA an der Brandenburgisch-Technischen Universität Cottbus/Senftenberg (BTU CS)
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Zitiervorschlag
Oda Baldauf-Himmelmann. Rezension vom 16.11.2011 zu: Marie-Luise Conen: Ungehorsam - eine Überlebensstrategie. Professionelle Helfer zwischen Realität und Qualität. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2011. ISBN 978-3-89670-783-3. Reihe: Systemische soziale Arbeit. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12396.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.


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