Gianfranco Cecchin, Marie-Luise Conen: Wenn Eltern aufgeben
Rezensiert von Dr. phil. Oda Baldauf-Himmelmann, 06.02.2012

Gianfranco Cecchin, Marie-Luise Conen: Wenn Eltern aufgeben. Therapie und Beratung bei konflikthaften Trennungen von Eltern und Kindern.
Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2008.
239 Seiten.
ISBN 978-3-89670-629-4.
D: 24,95 EUR,
A: 25,70 EUR.
Reihe: Systemische Therapie.
Thema
Wenn Eltern aufgeben, wenn Eltern ihre Kinder loswerden wollen … gerät der Mainstream nur ins Wanken, wenn die Idee aufkommt, wissen zu wollen und vor allem verstehen zu wollen, was es für die Eltern, die Gesellschaft und einen selbst, als professionellen Helfer bedeuten kann. Eigenartigerweise zeigt sich gerade in der praktischen Arbeit mit Familien, trotz scheinbar homogener Vorurteile in diesem Rahmen, eine gewisse Rat- und Hilflosigkeit breit zu machen, wie mit dem Wunsch mancher Eltern, ihre Kinder loswerden zu wollen, zu verfahren sei. Der Ruf nach Methoden könnte laut werden, weil man ja bereits weiß, dass es nicht normal sein kann, seine Kinder freiwillig hergeben zu wollen. Wie überraschend kann es jedoch sein, sich zunächst einmal in Respektlosigkeit gegenüber seiner eigenen Haltung, seinen Anschauungen und Ideen zu üben, um sich für die heikle Situation zu öffnen. Damit ist das Thema ein brisantes, bisher wenig so fokussiert diskutiertes Thema.
Autoren
Gianfranco Cecchin (1932 – 2004), MD, leistete als Mitbegründer der Mailänder Systemischen Therapie und als Kodirektor des Centro Milanese Di Terapia Della Familiglia in Mailand Pionierarbeit in der Familientherapie und wurde dadurch weltweit bekannt. Er ist (Ko)Autor zahlreicher Artikel und Bücher, u.a. des Klassikers; Respektlosigkeit, Provokative Strategien für Therapeuten (1993) und gemeinsam mit Marie-Luise Conen: Wie kann ich Ihnen helfen mich wieder loszuwerden? (3. Aufl. 2011) usw.
Marie-Luise Conen ist promoviert, Psychologin und Pädagogin sowie Leiterin des Context-Instituts für systemische Therapie und Beratung in Berlin. Von 1993 – 2000 hatte sie den Vorsitz der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie (DAF) inne. Inzwischen kann sie auf zahlreiche Veröffentlichungen zurückblicken u.a.: Wo keine Hoffnung ist, muss man sie erfinden. Aufsuchende Familientherapie (5. Aufl. 2011), Ungehorsam – Eine Überlebensstrategie (2011) usw.
Entstehungshintergrund
Hintergründe für die Autoren sind Beobachtungen und Anfragen in und aus der Praxis, die auf eine gewisse Ratlosigkeit der Helfer in der Arbeit mit Familien, die ihre Kinder aufgeben wollen, verweisen. Des Weiteren sehen beide Autoren auch in den gesellschaftlichen und politischen Bestrebungen, Kosten zu sparen, gesetzliche Vorgaben zu ändern und einem damit verbundenen Anstieg an Problemen in besonders von Armut betroffenen Familien, einen Anlass für Konzeptbedarfe hinsichtlich der Arbeit mit „erziehungsresignierten“ Eltern. Dabei standen beispielsweise Fragen nach einem möglichen Zugang zu den betreffenden Eltern, nach Auseinandersetzungsmöglichkeiten mit dominierenden Ideen der Eltern und Kinder, der Öffentlichkeit und Gesellschaft etc. im Vordergrund.
Aufbau
Die Publikation ist in ein Vorwort und zwei große Teile untergliedert.
- Der erste Teil setzt sich mit Vorurteilen, dominierenden Ideen, familiendynamischen Aspekten, Haltungen und Aufgaben der Helfer und der sozialen Dienste auseinander.
- Der zweite Teil verdeutlicht anhand von Fallbeispielen, wie sich eine offene, von Neugier und Interesse geprägte systemische Haltung und Vorgehensweise in „erziehungsresignierten“ Familien auswirken kann.
Der erste Teil behandelt die genannten Themen in insgesamt 15 Kapiteln und der zweite Teil gibt Einblicke in 5 Familienberatungen bzw. Fallbesprechungen.
1. Vorwort
Im Vorwort werden der Entstehungshintergrund des Buches und die mit der Veröffentlichung verbundenen Ziele verdeutlicht. Die mit der praktischen Arbeit in Familien verknüpften Schwierigkeiten haben dabei den Wunsch genährt, die betroffenen Eltern als auch die Professionellen, darin zu unterstützen, dass Kinder in den Familien anders wahrgenommen werden können, um somit bei der Wahrnahme von Erziehungsaufgaben ermutigt und angeregt zu werden. Gleichzeitig stellt für Marie Luise Conen nach Cecchins Tod (2004) die Fertigstellung des Buches ein Vermächtnis dar.
2. Erster Teil
Dieser Teil wird mit dem Kapitel „Liebe und Anerkennung“ eingeleitet und setzt sich mit den vorherrschenden Vorstellungen unserer modernen Gesellschaft zu „normalen“ Familien auseinander, in denen Kinder Liebe, Zuneigung und Schutz benötigen, um gut aufwachsen zu können. Im Kontrast dazu entwickeln die Autoren eine andere Überlegung und betrachten Liebe als ideelles Konstrukt. Sie diskutieren die Auswirkungen eines ideellen Konzeptes von Liebe in der Familienarbeit und bieten alternativ die Idee der Bestätigung und Anerkennung an, da sie eher Fortschritte zulasse. Bereits im ersten wie auch in den folgenden Kapiteln werden Fallbeispiele zur Plausibilisierung herangezogen.
Im zweiten Kapitel; „Falsch und richtig“ werden fußend auf systemtheoretischen Überlegungen von der Nicht-Instruierbarkeit von Systemen, Betrachtungsweisen und Belehrungsversuche hinsichtlich eines Verständnisses von „richtigen“ Familie ad absurdum geführt. Damit entstehe die Möglichkeit, sich als Professioneller vom Expertenwissen und der damit inhärenten Ignoranz gegenüber den Familien verabschieden zu können und sich gleichzeitig der Sinn- anstatt der Problemsuche zu widmen. Allerdings, so merken die Autoren an, stünde dies recht paradox den geltenden Eintrittskarten für entsprechende Leistungen gegenüber, denn noch immer gelte für Hilfe gebende Institutionen; „ohne Problem keine Leistungen!“
Im dritten Kapitel „Innere Stimmen und Loyalität“ werden Möglichkeiten eines gezielten Umganges mit destruktiven inneren Stimmen -z.B. ich bin ein schlechter Vater- aufgezeigt und in ihrem Zusammenhang mit der oft unkritischen Loyalität gegenüber diesen Stimmen betrachtet.
Das vierte Kapitel ist mit „Erziehungsresignation und Resilienz“ überschrieben. Dabei betreten die Autoren zunächst das Tal der Tränen, wenn sie auf die Leistungsanforderungen an heutige Kinder und damit einhergehende Erziehungsresignation, vor allem in unterprivilegierten Familien verweisen. Gleichzeitig eröffnen sie, bezogen auf Ergebnisse der Resilienzforschung, dass Menschen zu jedem Zeitpunkt in ihrem Leben Resilienz entwickeln können, begründete Optionen für Auswege aus der Erziehungsresignation.
Im fünften Kapitel; „Verantwortung – auch bei Kindern“ wird Verantwortung in ihrer Bedeutung und in ihren unterschiedlichen Ebenen betrachtet und darauf verwiesen, dass auch Kinder sich bewusst für etwas oder gegen etwas zu entscheiden vermögen.
Das sechste Kapitel; „Eine therapeutische Haltung“ plädiert für eine Sichtweise, die nicht moralisiert und zu allererst die Wünsche der Eltern, Kinder loswerden zu wollen, berücksichtigt, sondern der Verzweiflung aufseiten der Eltern mehr Aufmerksamkeit schenkt und die Suche nach Kommunikationsmöglichkeiten unterstützt. Außerdem sei es ebenso wichtig bei der Dechiffrierung der Botschaften, die Kinder an ihre Eltern richten, nützlich zu sein.
Im siebenten Kapitel werden dann die „Vorannahmen, Vorurteile und dominierenden Ideen“ von und über Eltern und von Kindern stichpunktartig zusammengetragen.
Das Ganze mündet im achten Kapitel in die unumwundene Feststellung; „Kinder erziehen ihre Eltern.“ Ausgehend von der Annahme, dass Kinder Ausschau nach Menschen halten, die ihnen Sicherheit geben können, wird anhand eines Fallbeispiels gezeigt, dass Kinder ihre Eltern erziehen, indem sie ihre Eltern drängen, Eltern zu sein.
Im Kapitel neun „Warum sich Eltern von ihren Kindern trennen“ werden beispielsweise die Erwartungen von Eltern an ihre Kinder hinterfragt, insbesondere dann, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden.
„Der Schutz von Kindern als Aufgabe sozialer Dienste“ wird im Kapitel zehn aus seinem historischen Gewachsensein bis zum heutigen Tage beleuchtet, wo der Staat erwarte, dass Eltern sich bei ihren Erziehungsbemühungen, an die Vorstellungen des Staates vom Kindeswohl halten. Andernfalls hätten die sozialen Dienste das Mandat zu intervenieren, was in seinen (nicht nur positiven) Folgen für die betroffenen Familien auseinandergesetzt wird.
Vor diesem Hintergrund entstünden bzw. bestehen natürlich auch „Vorannahmen, Vorurteile und dominierende Ideen sozialer Dienste“, die im elften Kapitel kritisch hinterfragt werden.
Deviantes Verhalten von Kindern als Rebellion gegen elterliche Kultur wird in seinen Botschaften und verschiedenen Bedeutungen angeschaut und mit der Überlegung verknüpft, eher diese Botschaften als nützlich für die Eltern zu entschlüsseln, als daraus Schuldzuweisungen zu stricken. Das Kapitel zwölf trägt die Überschrift; „Deviantes Verhalten von Kindern“.
Ein besonderer Fall stelle dabei die „Adoption“ im gleichnamigen dreizehnten Kapitel dar. Auch hier gehen die beiden Autoren auf verschiedene Erwartungshaltungen und Vorstellungen aufseiten der Kinder und Eltern ein, um jedoch am Ende darauf hinzuweisen, dass es letztlich egal wäre, wer die Kinder aufziehe, es aber entscheidend wäre, ob die Kinder Sicherheit erführen, gefüttert werden etc. Besonders schwierig erscheinen dann jene Situationen, in denen die Adoptiveltern, die Loyalität der Kinder gegenüber ihren leiblichen Eltern auf den Prüfstand stellten.
Das vierzehnte Kapitel; „Kinder senden ihren Eltern Botschaften“ ist das umfangreichste Kapitel im ersten inhaltlichen Teil. Dabei werden anhand einer Reihe von Fallbeispielen der Facettenreichtum und auch die Mächtigkeit dieser Botschaften deutlich. Demgegenüber sind Eltern oft in der Position die Botschaften ihrer Kinder nicht zu verstehen, die sich jedoch selbst im Wesentlichen auf das Bedürfnis der Kinder nach Autonomie, Anerkennung und Sicherheit beziehen.
Das fünfzehnte Kapitel liefert dann eine nützliche „Anleitung für Therapeuten“, nicht nur im Sinne der Frage, wie gehe ich nun vor sondern auch, welches Grundverständnis lege ich zugrunde, welche Haltung nehme ich gegenüber Eltern und Kindern ein, welche neuen „Vorurteile“ bringen das Familiensystem weiter etc.
3. Zweiter Teil
Der zweite Teil enthält insgesamt fünf ausführliche Familiengespräche und Fallberatungen, die einen Einblick in die familientherapeutische Praxis gewähren, wenn es um Trennungsabsichten von Eltern gegenüber ihren Kindern geht. Dabei ist im ersten Fall Conen mit Cecchin im Gespräch, die sich sequenziell zu einem Gespräch Cecchins mit einer Familie austauschen und somit die therapeutische Vorgehensweise rekonstruieren und reflektieren.
Im zweiten und im fünften Fall werden zwei Familiengespräche zwischen Cecchin und der jeweiligen Familie nachgezeichnet.
Und im dritten und vierten Fall zeigen Fallbesprechungen zwischen Ausbildungsteilnehmern und Cecchin Möglichkeiten der Weiterbearbeitung verschiedener Fälle aus der Praxis auf.
Diskussion
Das Buch befasst sich mit erziehungsresignierten Eltern im Ergebnis des Drucks durch gesellschaftliche Leistungsanforderungen und eines gängigen Bildes von Familie. Der Anspruch, der Verzweiflung der Eltern und den Botschaften der Kinder aufmerksam zu begegnen, anstatt sich den Wünschen der Eltern, Kinder loswerden zu wollen, zu beugen (vielleicht auch aus Kosten- bzw. Effiziensgründen, denen die Träger heute allgemein unterliegen), durchzieht dieses Buch, wie ein roter Faden. Beim Lesen wird man als Professioneller dabei mit den eigenen Vorurteilen und vielleicht auch der eigenen schleichenden Resignation vor dem (Entscheidungs-)Druck konfrontiert, mit dem Ausblick, dass der „Aufwand“ am Ende nicht größer als befürchtet, ausfallen muss. Abgesehen davon, dass man sich in der Rolle als lesende Mutter oder als lesender Vater, in diesem Buch sehr gut aufgehoben sieht und nach dem Lesen öfters inne hält, um die Botschaften der eigenen Kinder zu erkunden… Damit ist schon deutlich gemacht, dass dieses Buch nicht nur an die Adresse professioneller Helfer, in Sonderheit an systemische Familientherapeuten gerichtet ist, sondern auch von Eltern gelesen und verstanden werden kann, wobei die Problematik selbst nicht neu ist, aber die durch die Autoren dargelegte Lesart andere Zugänge zum Thema ermöglicht.
Fazit
Dieses Buch bietet einen reizvollen und interessanten Brillentausch zwischen dem gängigen, aber of hemmenden Bild von normalen Familien und der Frage nach der Sinnhaftigkeit, den Bedeutungen vermeintlicher Symptome, wie jenem, wenn Eltern glauben, dass die (einzige) Lösung für ihre (Erziehungs-)Resignation, die Trennung von ihren Kindern wäre. Ein anregendes und unbedingt lesenswertes Buch!
Rezension von
Dr. phil. Oda Baldauf-Himmelmann
Ausgebildete systemische Therapeutin / Familientherapeutin, Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin und Kulturwissenschaftlerin. Arbeitet als Akademische MA an der Brandenburgisch-Technischen Universität Cottbus/Senftenberg (BTU CS)
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