Sophia Könemann, Anne Stähr (Hrsg.): Das Geschlecht der Anderen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 25.11.2011

Sophia Könemann, Anne Stähr (Hrsg.): Das Geschlecht der Anderen. Figuren der Alterität: Kriminologie, Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie.
transcript
(Bielefeld) 2011.
212 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1592-0.
27,80 EUR.
CH: 43,90 sFr.
Reihe: GenderCodes - Band 15.
Das ‚Andere‘ als Un-Bewusstes des Wissens
Vergeschlechtlichte Bilder, Annahmen und Umgangsformen über das „Geschlecht der Anderen“ figurieren in der menschlichen Wissensnachschau seit den Diskursen des 19. Jahrhunderts nicht mehr nur alleine in „meist weiblich codierten Bereichen der Gefühle, des Körpers und des Zufälligen“ (Christina von Braun / Inge Stephan), sondern sind eingelagert in das Feld der Wissensproduktion und damit Bestandteil der wissenschaftlichen Forschung in den Bereichen der Psychologie, Ökonomie, der Ethnologie, Kriminologie, Psychiatrie und Zoologie, natürlich auch der Literatur, Kunst und Medien. Damit wird schon deutlich, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung um die „Alterität des Anderen“ interdisziplinär zu erfolgen hat.
Entstehungshintergrund, Herausgeberin und Herausgeber
An der Berliner Humboldt-Universität hat das DFG-Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“ vom 11. bis 12. Dezember 2009 eine Tagung zum Thema „Das Geschlecht der Anderen. Narrationen und Episteme in Ethnologie, Kriminologie, Psychiatrie und Zoologie“ durchgeführt. Die beiden Berliner Literaturwissenschaftlerinnen Sophie Könemann und Anne Stähr geben den Tagungsband heraus mit dem Ziel, bei den Fragenkomplexen Gemeinsamkeiten und Übergänge in den einzelnen Disziplinen und Forschungsbereichen auszuloten und so die „materiellen, gesellschaftlichen und medialen Bedingungen von Wissen“ über das „vergeschlechtlichte Andere“ zu diskutieren.
Aufbau und Inhalt
Der Begriff der „Alterität“ wird hier eingeführt „als ein pluraler… und impliziert … sowohl die Möglichkeit, eine Reproduktion binärer Ordnungen vorzunehmen als auch bezüglich der Geschlechterverhältnisse auflösend zu wirken“. Die DiskutantInnen nehmen damit die neueren Forschungen zu „Figuren der Alterität und deren geschlechtliche Implikationen“ auf und führen sie interdisziplinär weiter.
Die Zürcher Zoologin Eva Johach analysiert in ihrem Beitrag „Die matriarchale Versuchung“ die Darstellung „von Insekten, Menschen und der Konkurrenz der politischen Tiere“. Sie zeigt damit Parallelen auf, wie sich (männliche) Sexualität als störend in Sozialisationsprozessen auswirken und durch ein „Social engineering“ den Entwicklungen im Tierreich nachgefolgt werden könnte.
Die Kunstpädagogin und Künstlerin Helen Follert lässt die Leserinnen und Leser an den Ergebnissen ihres Besuchs des Genfer Musée de l’histoire naturelle“ durch fantasievolle und gestaltende (Farb-)Fotoaufnahmen mit der Lochkamera teilhaben: „Spuren ou le gal savoir du monde animal“.
Die Berliner Ethnologin, Autorin und Filmemacherin Anna Straube (Anna Zett) setzt sich mit „Transtier, Intertier“ mit Tiermotiven und Überschreitungen von Geschlechtergrenzen in den Filmen „Transamerica“ und „XXY“ auseinander. Damit deckt sie „präzise Bebilderungen des Transgender- und des Intersex-Diskurses und dessen jeweiligen Umgangs mit genitaler Chirurgie, Authentizität, Freiheit und Körperlichkeit“ auf.
Die an der Universidad de Costa Rica in San José forschende Kulturwissenschaftlerin Christina Schramm nimmt in ihrem Beitrag „Land gegen Bibel. Christentum, Kolonialismus, Moderne“ am Beispiel eines neokolonialen und hegemonalkritischen Wandgraffitis aus Lateinamerika die Entwicklung der westlich dominierten Wissensproduktionen zum Anlass, danach zu fragen, wie „unterschiedliche Vorstellungsbilder vom In-der-Welt-Sein“ dazu beitragen können, „die Welt miteinander zu teilen“.
Die Gießener Kulturwissenschaftlerin Katrin Köppert betrachtet „vergeschlechtlichte Bilderpolitiken im Kontext von Krieg und Terror seit 9/11“, indem an den Funktionalisierungen der digitalen Bildbearbeitungen die spezifischen Blickrichtungen und Machtstrukturen von „Queering Terrorists“ aufzeigt.
Die an der Universität Trier tätige Germanistin Irina Gradinari reflektiert die konstitutiven Wechselbeziehungen der binären heterosexuellen Geschlechtermatrix und des Lustmordmotivs in den kulturellen Phantasien des 20. Jahrhunderts, indem sie über „Gender und Lustmord in Theorie und Ästhetik“ nachdenkt und dabei kulturelle Grundstrukturen verdeutlicht und „Geschlechterordnung in ihrer Verknüpfung mit staatlicher Macht, Exekutive und Legislative sowie mit Blick auf Körperkategorien und den Umgang mit dem Fremden“ thematisiert.
Die Berliner Literaturwissenschaftlerin Anne Stähr setzt sich mit dem Giftmörderinnendiskurs des 19. Jahrhunderts auseinander, indem sie in Heinrich Heines Plädoyer im Feuilleton nachschaut: „Die entsetzliche Nothwehr einer unglücklichen Frau“. Es ist die Entweiblichung und Ent-Emotionalisierung, die eine Frau, wie in dem bezeichneten Giftmordprozess zur Mörderin werden lässt.
Die Wiener Historikerin Katja Geiger promoviert zur Thematik „Narrative Rekonstruktionen krimineller Handlungen von Frauen in Kindsmordgutachten der Gerichtlichen Medizin“. Sie arbeitet dabei heraus, dass die analysierten Gutachten aus den Jahren 1900 – 1930 geschlechtsspezifische Merkmale aufweisen, bei denen „Kindsmörderinnen hinsichtlich ihrer körperlichen, moralischen und sozialen Dispositionen als ‚anders‘ darstellbar waren“.
Die am Institut für Soziologie der Leibnitz Universität Hannover tätige Mediatorin Ulriche Wohler denkt über das Phänomen des Exhibitionismus nach und stellt in ihrem Beitrag fest, „Wie der wissenschaftliche und kulturelle Diskurs weiblichen Exhibitionismus unsichtbar macht“. Ihre These: Weiblicher Exhibitionismus wird im Gegensatz zum männlichen kulturell von der hegemonialen Kultur unterstützt. Sie arbeitet dabei auch heraus, dass „die bürgerliche Ideologie, Moral und Körperpolitik nicht nur frauenfeindlich, sondern … auch männerfeindlich ist, weil sie sexualfeindlich ist…“.
Sophia Könemann nimmt die Erzählung von Oskar Panizza „Der Corsetten-Fritz“ zum Anlass, um in ihrem Beitrag „Von ‚Menschen-Bälgen‘, ‚kostbaren Rassen‘ und „Canarienvögeln“ zu reflektieren, wie sich „die Verschränkung unterschiedlicher Verfahren der Selbstaufzeichnung“ in der Fallgeschichte im „Übergang einer Tradition der protestantischen ‚Schrift-Konfession‘ über die institutionell geprägten Selbstauslegungen in Psychiatrie und Schule zur technischen Aufzeichnung der Stimme durch den Phonographen“ darstellen.
Der Berliner Literaturwissenschaftler Florian Kappeler zeigt schließlich am Beispiel des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ und von weiteren Texten Robert Musils und anderer des psychiatrischen Diskurses Verfremdungen und Vergleiche bei „Irren und Tieren“ auf, die „weniger eine Reproduktion sexistischer und rassistischer Zuschreibungen (ermöglicht), sondern ( ) eine Explikation und Destabilisierung geschlechtlicher Kategorien“.
Fazit
Weil „alle Menschen (…) frei und gleich an Würde und Rechten geboren (sind)“, wie dies in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 eindeutig formuliert wird, die Durchsetzung des Menschenrechts auf Gleichberechtigung jedoch in vielen Gesellschaften längst nicht verwirklicht ist, bedarf es auch des Fingerzeigs auf „Figuren der Alterität“. In der wissenschaftlichen Tagung des DFG-Graduiertenkollegs „Geschlecht als Wissenskategorie“, vom 11. bis 12. Dezember 2009 an der Berliner Humboldt-Universität haben Referent_innen aus den Wissensbereichen der Kriminologie, Psychiatrie, Ethnologie, Zoologie, Soziologie und Literaturwissenschaften nach Gemeinsamkeiten, Brüchen und Übergängen bei der Frage nach dem „Geschlecht der Anderen“ gesucht. Sie vermitteln interessante, überraschende und diskursfähige Informationen und Hinweise für die wissenschaftliche Arbeit.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 25.11.2011 zu:
Sophia Könemann, Anne Stähr (Hrsg.): Das Geschlecht der Anderen. Figuren der Alterität: Kriminologie, Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie. transcript
(Bielefeld) 2011.
ISBN 978-3-8376-1592-0.
Reihe: GenderCodes - Band 15.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12399.php, Datum des Zugriffs 03.12.2023.
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