Jeremy Rifkin: Die dritte industrielle Revolution
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 08.12.2011

Jeremy Rifkin: Die dritte industrielle Revolution. Die Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter. Campus Verlag (Frankfurt) 2011. 303 Seiten. ISBN 978-3-593-39452-7. D: 24,99 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 35,90 sFr.
Wir brauchen ein neues ökonomisches Narrativ
Es sind die seit Jahrzehnten in unterschiedlicher Intensität vorgebrachten Analysen, Prognosen und Bestandsaufnahmen über den Zustand unserer (Einen?!) Welt, die eigentlich die Menschheit zu einem Perspektivenwechsel bringen müsste, wie ihn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995, wie vorher bereits z. B. die Berichte an den Club of Rome und danach und weiterhin Jahr für Jahr das New Yorker World Watch Institute zur Lage der Welt den Menschen lokal und global aufgeben: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Doch ein solcher radikaler, revolutionärer Wandel scheint mit den Menschen nur schwer machbar zu sein – und vor allem von vielen nicht als notwendig erachtet zu werden. Es ist vor allem der Homo oeconomicus, der ein „Weiter so“ als Ziel der menschlichen Entwicklung betrachtet, obwohl die Zeichen einer falschen und letztlich existenzgefährdenden Entwicklung längst als Menetekel vorhanden sind: Klima-, Umwelt-, Energie- und humanitäre Katastrophen. Es sind aber auch die nach wie vor leiseren, aber immer vernehmlicher sich meldenden Aufforderungen, das ökonomische Denken und Handeln der Menschen auf eine Grundlage zu stellen, die von den bisherigen vertikalen, von Oben nach Unten sich ausdifferenzierenden Vorstellungen abweichen hin zu laterale Mustern.
Entstehungshintergrund und Autor
In dieser Situation, in der es ein „Immer-weiter-so!“ und ein „Go West!“ nicht mehr geben darf, haben sich zwei Mentalitäten und Meinungen etabliert, die beide keine Lösung des existentiellen Menschheitsproblems bringen können: Die „Aussitz„- und die „Haben-wir-schon-immer-so-gemacht!“ – Haltung, sowie die „Es-ist-alles-zu-spät!“ – und „Da-kann-man-sowieso-nichts-machen“ – Einstellung. Es war der Ölschock, der die gewohnten Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten, dass Energie aus fossilen Brennstoffen praktisch unbegrenzt, unschädlich für die Menschheit und Umwelt und zudem billig verfügbar wäre, erschütterte und ein Nachdenken provozierte, ob das Immer-schneller-immer-Mehr tatsächlich eine erstrebenswerte Alternative der menschlichen Entwicklung sein könne. Es bedarf also einer anderen Position, die bestimmt ist von der humanen Überzeugung, dass der Anthrôpos, der Mensch, ein vernunftbegabtes, zu einem eu zên, einem guten Leben fähiges Lebewesen ist, wie dies bereits Aristoteles in seiner nikomachischen Ethik formuliert hat.
Einer, der als Ökonom, Soziologe, Wissenschaftler und Schriftsteller seit Jahrzehnten in der Lage ist, wie man die zivilisatorischen, positiven und negativen Entwicklungen zur Lage der Welt fundiert und allgemeinverständlich an die Menschen bringt, ist der Washingtoner Vorsitzende der Foundation on Economic Trends, Jeremy Rifkin. Seine Überlegungen, wie aus dem homo oeconoicus ein homo empathicus werden könne (vgl. dazu: Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9048.php), ergänzt er mit seinem Entwurf, die Dritte Industrielle Revolution anzugehen. Auch wenn das für europäische Augen und Ohren überraschend sein mag, zeigt er mit seinem Finger auf das seiner Ansicht nach zögerliche und nachhinkende Bewusstsein seiner Landsleute und die offizielle Umwelt-, Energie-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in den USA.
Aufbau und Inhalt
Rifkin gliedert das Buch in drei Kapitel. Im ersten Teil diskutiert er die Entwicklungen, wie sie sich von der Ölkrise Anfang der 1970er Jahre in den USA vollzogen, die gewissermaßen den Abgesang der Zweiten Industriellen Revolution einläuteten und die die „Entropie-Zeche“ einfordern, die sich durch die exzessive Nutzung von Kohle, Öl und Erdgas während der bisherigen Industriellen Revolutionen ergeben. Die sich daraus ergebenden Bestandsaufnahmen, wie sie der Autor vor allem für die US-amerikanische Klima- und Verbrauchspolitik registriert, einschließlich der Atomenergie, sind nicht gerade aufbauend und positiv bestimmt: „Wir sind Schlafwandler“.
Es geht um den verzweifelt wirkenden Versuch, so etwas wie ein positives Narrativ für die neue Aufbruchstimmung zu identifizieren, wie sie durch Obamas „Yes, we can!“ aufschien, aber mittlerweile unterging in der „Karikatur eines detailversessenen, realitätsfernen Theoretikers…, der stundenlang von den neuesten technologischen Durchbrüchen redet, ohne eine Ahnung zu haben, wie sie zusammen ein größeres Ganzes ergeben sollen“. Ob freilich der Hochgesang, den der Autor auf die europäische Energiepolitik anstimmt (wenn es sie wo in wirklich nennenswerter und tatsächlich zukunftsweisender Perspektive gibt), gerechtfertigt ist, soll erst einmal in Frage gestellt werden. Immerhin: Dass einige europäische Länder und die Europäische Union bereits Fußwege hin zu einer „grünen Zukunft“ projizierten und wirtschafts- und energiepolitische Maßnahmen einzuleiten begannen, für die andere Länder und Regionen (USA, Japan, China…) noch keine Blaupausen bereit halten, ist der Rede wert.
Denn die Initiativen, wie sie vom Autor im internationalen Diskurs thematisiert und an konkreten Entwicklungsbeispielen vorgestellt werden, verdeutlichen, dass die Konzepte für eine neue Infrastruktur-Entwicklung nicht nur theoretisch gedacht, sondern auch praktisch umgesetzt werden können, und dass sich mit der Idee von einer Dritten Industriellen Revolution mehr ändert als „nur“ das Energieregime.
An der Stelle freilich entsteht ein Bruch: Während auf der einen Seite in durchaus rigoroser Weise Kritik am überkommenen, westlichen wirtschaftlichen Handeln geübt und ein solidarisches, kollaboratives Denken eingefordert wird, wird die Systemauseinandersetzung nicht konsequent genug geführt: Dezentraler Kapitalismus, der sich entfernt von den zentralisierten und globalisierten Strukturen und entwickelt zu einem kollaborierten und kooperativen Wirtschaften. Wäre es nicht konsequenter, dieser Form des Produzierens, Konsumierens und Wirtschaftens einen anderen Namen und dem „freien Markt“ das Etikett anzuheften, das es kennzeichnet: „Raubtierkapitalismus“? (vgl. dazu u.a.: Peter Jüngst, Raubtierkapitalismus, 2004, www.socialnet.de/rezensionen/1787.php). Weil sich freilich der global zentralisierte Markt im Zeichen der Globalisierung immer mehr zu einer ungerechten Wirtschaftspraxis entwickelt – „Die Reichen werden reicher und die Armen werden ärmer“ – ist es durchaus lohnenswert, anstatt global, von einem „zentralisierten Supernetz“, kontinental hin zu „dezentralisierten intelligenten Netz“ zu denken und den Aufbau eines kontinentalen Marktes und ein kontinentales Regierungshandeln mit offenen Grenzen anzustreben, in Amerika, Europa, Asien und Afrika. Der Paradigmenwechsel würde tatsächlich das einläuten, was man das „Zeitalter der Zusammenarbeit“ bezeichnen könnte.
Mit diesem Paradigma titelt Jeremy Rifkin schließlich das dritte Kapitel und er schickt damit Adam Smith und das Marktzeitalter aufs Altenteil, und mit ihnen auch gleich die Newtonschen Gesetze, auf denen das Effizienzdenken und -handeln beruht. Einer anderen Betrachtung nämlich unterliegen die Vorstellungen und Erwartungshaltungen, die auf der „thermodynamischen Energieeffizienz“ beruhen, die Zuwachs und nicht Verwendung bewirkten. Zwangsläufig kommt der Autor dabei auf die Neukonstruktion von Eigentums- und Besitzvorstellungen (siehe dazu auch: Heinrich-Böll-Stiftung / Silke Helfrich, Hrsg., Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/7908.php sowie: Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php) und den „Umstieg von Produktivität auf Generativität und von Effizienz auf Nachhaltigkeit“.
Fazit
Auch wenn es vordergründig den Anschein hat, dass Jeremy Rifkin die Energiediskussion in den Mittelpunkt seiner Vision vom Übergang des industriellen ins kollaborative Zeitalter stellt, zeigt er doch in den zahlreichen Beispielen von innovativer, internationaler Zusammenarbeit auf, dass die radikalen Kursänderungen auf ökonomischen und gesellschaftlichen Gebieten hin zu einer kohlenstofffreien Ära möglich sind. Die Herausforderungen, die sich dabei für Lern-, Aufklärungs- und Überzeugungsprozesse ergeben, müssen Hier und Heute angenommen werden. Der französische Lyriker Charles Baudelaire hat die Spannweite der gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklung des ökonomischen Handelns der Menschheit in zwei seiner Gedichte („Le Goût du Néant“ – Der Vorgeschmack des Nichts; und „L?Avertisseur“ – Der Mahner) so formuliert: „Lawine, reißt du mich hinab als deine Beute?“ und „Wer immer wert ist Mensch zu sein…“.
Auch wenn vieles in der Analyse über die „Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter“ allzu blauäugig und unausgegoren daher kommt, so ist der Autor dafür zu loben, dass er die Vision von der dritten industriellen Revolution als Konfrontation zwischen zögerlicher und ideologisch kapitalistisch festgelegter Politik einerseits (der US-amerikanischen) und der europäischen Initiativen und Innovationen andererseits anlegt. Dass dabei weder Überheblichkeitsraster noch Resignation überhand nehmen, ist ein Verdienst von Jeremy Rifkins Überzeugungskraft.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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