Silke Seemann: Organisationales Spielen in Form gebracht
Rezensiert von Jörg Latuske, 14.03.2012
Silke Seemann: Organisationales Spielen in Form gebracht. Kulturverlag Kadmos (Berlin) 2010. 304 Seiten. ISBN 978-3-86599-086-0. 24,90 EUR.
Thema
Organisationen stehen vor der Herausforderung Komplexität – innere, wie äußere - managen zu müssen, wenn sie den Anschluss an ihre Wettbewerber und ihre Mitarbeiter halten wollen.
Diesem mittlerweile vielfältig beschriebenen Problem nähert sich Silke Seemann auf neue, ungewohnte Weise. Statt eines weiteren "Lehrbuchs" zur Systemtheorie, nimmt sie die Lesenden mit auf eine Zugfahrt, in die Enge eines Zugabteils. In diesem Zugabteil trifft sie eine Filmproduzentin, einen Unternehmer und eine belesene Pensionärin. Aus einem Alltagsgespräch heraus entfaltet die Autorin in Dialogen mit den Mitreisenden die Grundlagen der soziologischen Systemtheorie. Aus der Beobachterperspektive erschließen sich den Lesenden so Stück für Stück Gedankengänge Heinz von Foersters, Niklas Luhmanns, Dirk Baeckers und verschiedener anderer Autoren der Systemtheorien. Für den Praxisbezug sorgen die Mitreisenden, die das Gehörte kritisch auf ihre eigenen Branchen zu übertragen suchen.
Autorin
Silke Seemann wird im Buch als "Grenzüberbrückerin" bezeichnet, da sie die Grenzen unterschiedlicher Disziplinen überschreitet. Nach der Ausbildung zur Fotografin, Arbeiten in der Filmbranche, der Arbeit als Mutter und als Organisatorin diverser internationaler Paragliding-Veranstaltungen, studierte sie Organisations- und Personalentwicklung und promovierte bei Dirk Baecker zur Formtheorie. Heute lehrt sie an verschiedenen Universitäten des deutschsprachigen Raumes.
Aufbau
In diesem Buch ist vieles anders. Anstelle des Inhaltsverzeichnisses finden Sie eine Spielanleitung und wo Sie sonst das Literaturverzeichnis suchen, findet sich ein abschließendes Experiment. Dazwischen gliedert Silke Seemann ihr Buch in zwei Bereiche: der Schilderung einer Bahnfahrt und ihrer Gespräche mit den Mitreisenden, sowie den wissenschaftlichen Erklärungen zur soziologischen Systemtheorie in der Mitte des Buches. Die Autorin wählte für die Inhalte ihres Buches eine unerwartete Form und Struktur und nimmt die Lesenden dadurch mit an den Punkt, an dem Veränderung in Organisationen beginnt: dem Auflösen von Mustern und dem spielerischen Umgang mit Organisation(en).
Inhalt
1. Spielanleitung
In der Spielanleitung ermutigt die Autorin die Lesenden das Buch so zu lesen, wie man noch nie ein Buch gelesen hat. Man möge sich durch das Buch irritieren lassen und manchmal aufkeimenden Ärger als Hinweis darauf akzeptieren, dass Erwartungen nicht erfüllt würden, aber dieses "Verlassen wohl vertrauter Trampelpfade" frischen Wind in die grauen Zellen bringe.
2. Vorspiel
Im der "Spielanleitung" folgenden "Vorspiel" versorgt die Autorin die Lesenden mit einer "Grundausstattung" des systemischen Vokabulars. In Form eines Experiments, in welches die Lesenden eingebunden werden, erläutert sie kurz Begriffe wie Reflexion, doppelte Kontingenz, Re-Entry, Komplexität u.v.m. Zum Ende des Kapitels bindet die Autorin die theoretischen Erläuterungen an das praktische Geschehen am Set einer Filmproduktion. Sie eröffnet den Lesenden damit die Möglichkeit das dort vorherrschende chaotische Geschehen durch die systemische Brille zu betrachten, die Prinzipien der Selbstorganisation in Organisationen am Beispiel nachzuvollziehen und sie als Lösungsmöglichkeit zum Umgang mir Komplexität zu akzeptieren.
3. Verknotungen
In einem Bahnabteil treffen eine Filmproduzentin, der Inhaber eines Unternehmens der Gesundheitsbranche, eine belesene Pensionärin, die Autorin und Sie, die Lesenden, aufeinander. In Form von Gesprächen zwischen den Reisenden entfaltet die Autorin Stück für Stück unterschiedliche Aspekte der soziologischen Systemtheorie. Die Mitreisenden werden in diesem Prozess der "Entfaltung" zu Mitspielern, die Erfahrungen aus ihren eigenen Geschäftsfeldern schildern und so für eine mitlaufende Einbindung der Theorie in geschäftliche Praxis sorgen.
4. Zwischenspiel
In der Mitte des Buches, unterbricht die Autorin die Schilderung der Bahnfahrt. In dem mit "Zwischenspiel" überschriebenen Kapitel findet die wissenschaftstheoretische Verortung des Geschriebenen statt. Sie erläutert unter den Überschriften "Disziplinierung" und "Wahrheit und Wirkung", warum sich aus ihrer Sicht die Luhmann„sche Systemtheorie, das Formkalkül Spencer-Browns und dessen Übertragung auf Organisationen durch Dirk Baecker zur Beobachtung von Organisationen eignen.
Das Thema "Komplexität" ist der Hauptbestandteil des zweiten Abschnitts im Zwischenspiel. Die Autorin verweist auf Luhmann, nach dessen Auffassung Komplexität als ein Überhang an realisierbaren Anschlussmöglichkeiten beschrieben werden kann. Dieser Überhang bringt einen Selektionszwang mit sich, den Zwang Entscheidungen zu treffen. Die infolgedessen in Organisationen stattfindenden Abstimmungsprozesse sind das, was die Autorin als "organisationales Spielen" bezeichnet.
Im weiteren Verlauf des Kapitels vertieft die Autorin den im "Vorspiel" nur kurz angerissenen Theorieteil. Sie erläutert die Grund legenden Gedanken Heinz von Foersters und verschiedener anderer Urväter der Kybernetik erster und zweiter Ordnung und beschließt den Abschnitt wieder mit erläuternden Beispielen aus der Filmindustrie.
Das Literatur- und Quellenverzeichnis beendet das "Zwischenspiel".
5. Beobachtungen
Die Zugfahrt wird fortgesetzt und mit ihr gehen auch die Dialoge der Reisenden weiter. Die Filmproduzentin gibt einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Film- und Fernsehbranche vom Beginn der 50er Jahre bis zur Gegenwart. Sie schildert die verschiedenen Einflussfaktoren auf die Branchen und die Veränderungen, denen sie seit den 80er Jahren ausgesetzt sind. Die Branchenbeschreibung nutzt die Autorin, um in kurzen Einschüben systemtheoretische Erläuterungen in der Praxis anzusiedeln und zeigt auf, wie die Formensprache Spencer-Browns hilft Strukturen zu verdeutlichen. Auch das Gespräch unter den Reisenden kreiert die Autorin so, dass sich den Lesenden am Ende des Kapitels die "Form of the Firm" Dirk Baeckers erschließt.
Diskussion
Diese Buch "macht einen Unterschied" im weiten Feld der systemischen Literatur. In der Form des Gesprächs, die weite Teile des Buches dominiert, gelingt es der Autorin meiner Meinung nach gut, die Systemtheorie bodenständiger zu vermitteln und in der betriebswirtschaftlichen Alltagswelt anzusiedeln.
Fazit
Das Buch ist auf jeden Fall des Lesens wert.
Rezension von
Jörg Latuske
Unternehmens- & Kommunikationsberatung
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