Angela Pilch Ortega, Andrea Felbinger et al. (Hrsg.): Macht - Eigensinn - Engagement
Rezensiert von Gesa Bertels, 05.02.2013
Angela Pilch Ortega, Andrea Felbinger, Regina Mikula, Rudolf Egger (Hrsg.): Macht - Eigensinn - Engagement. Lernprozesse gesellschaftlicher Teilhabe.
Springer VS
(Wiesbaden) 2010.
287 Seiten.
ISBN 978-3-531-17085-5.
29,95 EUR.
Reihe: Lernweltforschung - Band 7.
Herausgeber/-innen
- Dr. Angela Pilch Ortega lehrt und forscht als Assistenzprofessorin am Arbeitsbereich Angewandte Lernweltforschung am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz.
- Dr. Andrea Felbinger arbeitet als Universitätsassistentin am Institut für Schulpädagogik der Grazer Universität. Zudem ist sie als Lehrbeauftragte an der Medizinischen Universität Graz, der Montanuniversität Leoben, der Alpe-Adria-Universität Klagenfurt sowie als Erwachsenenbildnerin in universitätsnahen Weiterbildungseinrichtungen tätig.
- Dr. Regina Mikula ist Assistenzprofessorin an der Karl-Franzens-Universität Graz, ebenfalls am Arbeitsbereich Angewandte Lernweltforschung des Instituts für Erziehungs- und Bildungswissenschaft.
- Prof. Dr. Rudolf Egger ist als Universitätsprofessor für Weiterbildung und Lebenslanges Lernen am selben Institut tätig.
Thema
Wie kann soziales Kapital in unserer Gesellschaft erzeugt und lebendig gehalten werden (vgl. S. 9)? So lautet die Kernfrage dieses Herausgeberwerkes, das in insgesamt 14 verschiedenen Beiträgen auf der Basis des Sozialkapitalansatzes Lebens- und Lernwelten sowie Aktivitätsfelder von Menschen, die sich für andere engagieren, in den Blick nimmt. Konkret wird die Schlagwortsammlung im Buchtitel von Rudolf Egger in seinem Vorwort in die folgende Leitidee für diese Publikation übersetzt: „In den Blick gerückt werden jene Prozesse, die Aufschluss darüber geben, innerhalb welcher MACHTKonstellationen welche Formen der EIGENinitiative SINN ergeben und welche Arten von sozialem ENGAGEMENT dabei ‚freigesetzt‘ werden“ (S. 9 f., Hervorhebungen i.O.).
Aufbau
Um sich diesem Thema zu nähern, wurden verschiedene Beiträge zusammengetragen.
- In einem ersten Schwerpunkt beschäftigen sich sechs Artikel mit dem Thema „Werte, Kriterien, Ziele“.
- Im zweiten Schwerpunkt werden in insgesamt neun Artikeln „Perspektiven, Ressourcen und Fälle“ in den Blick genommen und u. a. verschiedene Aktivitätsfelder teils anhand konkreter Beispiele vorgestellt. Dazu gehören z. B. Nachbarschaften, Theaterarbeit, Erwachsenenbildung und Betriebsräte.
Zu Teil 1
Im ersten Beitrag „Visionen der Zivilgesellschaft“ unterstreicht Heiner Keupp insbesondere den Nutzen der Zivilgesellschaft für die Bürgerinnen und Bürger angesichts der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse in der Spätmoderne. Er setzt sich kritisch mit dem Konzept der Zivilgesellschaft auseinander, wägt verschiedene Definitionen ab, führt sie zu einer eigenen Sichtweise zusammen und überprüft diese anhand der vorhandenen Datenlage. Damit stellt sein Artikel eine gute Grundlage für die darauffolgenden Beiträge dar und wurde zurecht an vorderster Position des Herausgeberwerkes eingeordnet.
„Sind Nicht-Engagierte nicht eigensinnig?“ fragen Melanie Krug und Michael Corsten im zweiten Beitrag und werfen zugleich die Frage auf, ob und inwiefern der Begriff des Eigensinns in diesem Zusammenhang eigentlich dienlich ist. Ihr Ausgangspunkt ist die These, dass Engagement durch den Aktivierungsdiskurs instrumentalisiert wird. Überspitzt formuliert: wer sich engagiert, gilt als aktiv, sozial und eigenverantwortlich; wer sich nicht engagiert, als passiv, unsozial und egoistisch. Mittels eines Vergleichs der Lebensarrangements von Nicht-Engagierten und Engagierten weisen die Autoren nach, dass auch Nicht-Engagierte ein Bewusstsein für gesellschaftliche Belange ausbilden und durchaus aktiv sind. Allerdings nehmen sie ein freiwilliges Engagement stärker als eine Gefahr der Instrumentalisierung für fremde Zwecke wahr, von der sie sich distanzieren.
Rudolf Egger befasst sich in seinem Artikel mit dem Thema „The wider benefits of negotiations – Zur Entstehung von sozialer Wertschöpfung in gewerkschaftlichen Bezügen“ und plädiert in diesem Rahmen für die Erweiterung der ökonomischen Parameter zur Feststellung der Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft um Prozesse der Schöpfung sozialen Kapitals. Beispielhaft macht er dies an einem Projekt über die Lebenswelten von Betriebsräten und -rätinnen fest, aus dem auch der letzte Artikel des Buchs, verfasst von einer Gruppe Doktorandinnen und Doktoranden der Universität Graz, entstanden ist.
„Biographisierte Wir-Bezüge und ihre Relevanz für soziales Engagement. Eine kritische Momentaufnahme“ überschreibt Angela Pilch Ortega ihren Beitrag. Sie erörtert die Vervielfältigung und Entgrenzung von sozialen Zugekörigkeitskonstruktionen in modernen Gesellschaften sowie damit verbundene Inklusions- und Exklusionsmechanismen. Zudem hinterfragt sie, ob bzw. unter welchen Bedingungen das Sozialkapital eine individuelle und/oder kollektive Ressource darstellt und weist darauf hin, auch die Schattenseiten und sozial-desintegrativen Wirkungen des Sozialkapitals nicht außer Acht zu lassen.
Die österreichischen Studierendenproteste im Jahr 2009 stellen den Analysegegenstand dar, anhand dessen Regina Mikula „Sozial-Kapital als Bedingungsfeld und studentisches Engagement als Möglichkeitsraum für individuelle und kollektive Veränderungsprozesse“ untersucht. Sie arbeitet mögliche Erklärungsmuster für die Entstehung und Funktionsweise der Proteste heraus, nimmt die dabei entstehenden bzw. deutlich werdenden solidarischen Bindungen in den Blick und geht auf individuelle Bildungswerte, aber auch den kollektiven Lernnutzen solcher Bewegungen ein.
Zu Teil 2
Den Auftakt zum zweiten Teil des Werkes bildet ein Beitrag von Peter Altheit zum Thema „Lernwelt ‚Nachbarschaft‘: Zur Wiederentdeckung einer wichtigen Dimension“. Dahinter steht, so sagt der Autor selbst, das Krisenszenario des demographischen Wandels mit seinen auf politischer, soziologischer und pädagogischer Ebene (z. B. im Pflegebereich) zunehmend spürbaren Konsequenzen. In diesem Kontext unterzieht er die „Lernwelt Nachbarschaft“ einer analytischen und empirisch fundierten Betrachtung. Er stellt dazu Ergebnisse einer aktivierenden Befragung in einem eher problembehafteten Göttinger Stadtteil vor und endet mit einem durchaus hoffnungsvollen Ausblick auf neue Nachbarschaften, die sich weniger auf der Grundlage von räumlicher denn sozialer Nähe konstituieren.
Heiner Keupp greift für seinen zweiten Beitrag „Kommunale Förderbedingungen für bürgerschaftliches Engagement“ auf Teile seines Gutachtens zurück, das er für die Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ verfasst hat. Er beschreibt den Wandel sozialer Beziehungen und traditioneller Engagementformen in Deutschland. Vor diesem Hintergrund skizziert er – insbesondere mit Blick auf Selbsthilfeorganisationen, Freiwilligenzentren und Seniorenbüros – notwendige Erfolgsfaktoren und Qualitätsstandards, die dazu beitragen könnten, dass neue Engagementformen als „Gelegenheitsstrukturen“ für interessierte Menschen verfügbar sind.
Wie sich junge Menschen um Partizipation in ihrem Quartier bemühen und inwiefern ihnen die urbane Gesellschaft Räume für Inklusion und Integration bietet, Anerkennung ermöglicht und somit zugesteht, was eine moderne Zivilgesellschaft ausmacht, analysieren Wolf-Dietrich Bukow und Sonja Preißing in ihrem Artikel „‚Wir sind kölsche Jungs‘ – die ‚Kalker Revolte‘ -Der Kampf um Partizipation in der urbanen Gesellschaft“. Die „Kalker Revolte“ bezeichnet dabei eine überwiegend von jungen Menschen getragene Protestwelle im Kölner Stadtteil Kalk, die sich im Jahr 2008 nach dem gewaltsamen Tod eines 20-Jährigen Jugendlichen über mehrere Wochen hinzog.
Eine andere Frage steht im Mittelpunkt des Beitrags „Gesellschaftlicher Ressourcenmangel als Entwicklungschance? Oder: Die Suche nach Sinn durch gesellschaftliches Engagement am Beispiel ehrenamtlicher Sachwalterschaft“. Andrea Felbinger analysiert, wie ein zunehmend ungenügendes staatliches Unterstützungssystem dazu beitragen kann, dass Individuen soziale Partizipation und Teilhabe am Gemeinwohl und an gesellschaftlichen Veränderungsprozessen lernen und wahrnehmen können. Am Beispiel fünf ehrenamtlicher Sachwalter/-innen (in Deutschland: rechtliche Betreuer/-innen) zeigt sie auf, wie durch das Engagement individueller Sinn gestiftet wird, der über die persönliche Ebene hinaus aber auch in die sozialen Verhältnisse einfließt.
„Produktionsweisen des Sozialen älterer Migrantinnen und Migranten in Deutschland“ nimmt Michael May in den Blick. Im Mittelpunkt des Beitrags steht dabei das Handlungsforschungsprojekt „Ältere MigrantInnen im Quartier (AMIQUS) – Stützung und Initiierung von Netzwerken der Selbstorganisation und Selbsthilfe“, dessen theoretischen Rahmen der Autor ebenso vorstellt wie erste Ergebnisse und vor diesem Hintergrund empirische Befunde weiterer repräsentativer Studien zum Zusammenhang von Sozialkapital und Engagement von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte wohltuend kritisch re-interpretiert bzw. kommentiert. Er weist z. B. auf die unterschiedliche Operationalisierung von Sozialkapital hin sowie auf die teils problematische, nichtsdestotrotz aber weit akzeptierte Unterscheidung von „brückenbildendem “ und „bindendem“ Sozialkapital.
Michael Wrentschur, neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer selbst künstlerischer Leiter einer Theaterwerkstatt, setzt sich mit dem Thema „Neuer Armut entgegenwirken: Politisch-partizipative Theaterarbeit als kreativer Impuls für soziale und politische Partizipationsprozesse“ auseinander. Er legt dar, wie im Rahmen eine Theaterprojekts mit dem Titel „Kein Kies zum Kurven kratzen“ armutserfahrenen Menschen über Theaterarbeit Möglichkeiten zur Selbstbildung und Beteiligung an gesellschaftlichen, sozialen und politischen Prozessen erschlossen wurden. Indem das Theaterstück z. B. im Landtag vor Politikern und Lobbyvertretern aufgeführt wurde, konnten gemeinsam Ideen und Vorschläge zur Armutsbekämpfung und -vermeidung entwickelt und diskutiert werden.
„Lehrengagement zwischen biographischer Selbstfindung und Wissensvermittlung. Ehrenamt in der Erwachsenenbildung“ hat Michaela Harmeier ihren Artikel überschrieben. Sie nähert sich dem Thema darin auf drei verschiedenen Zugangswegen. Auf einen historischen Abriss folgt eine trägerspezifische Betrachtung der Unterschiede im Anteil der jeweils ehrenamtlich Tätigen. Biographisch begründete Motive und Lernpotenziale eines Engagements in der Erwachsenenbildung werden anhand eines ausführlichen Fallbeispiels herausgearbeitet.
Ein auf den ersten Blick in diesem Zusammenhang eher exotisches Thema wählt Patrick Meyer-Glitza in seinem Beitrag „Nicht tötende Rinderhaltung als neue Herausforderung für den Ökologischen Landbau“. Anhand eines Fallbeispiels einer Frau, die sich in Indien ehrenamtlich für Rinder einsetzt, die zum Schlachten bestimmt sind, legt er dar, wie sich im Kontext des ökologischen Landbaus Mitgefühl und Achtung vor dem Lebensrecht der Tiere entwickeln und Tierschutzgedanken umsetzen lassen.
Im letzten Kapitel beschäftigt sich wie bereits oben erwähnt eine Gruppe von Promotionsstudentinnen und -studenten um Cornelia Dinsleder u. a. mit der „Herausbildung professioneller Handlungsmacht in der Berufswelt einer Betriebsrätin“. Auf der Basis eines narrativ-biographischen Interviews mit einer engagierten Betriebsrätin arbeiten die neun Autorinnen und Autoren als unterstützende Faktoren u. a. eine fundierte Kommunikationskompetenz, ausgeprägte Kritikfähigkeit und Netzwerke auf verschiedenen Ebenen heraus.
Diskussion
Ist die teils sicher schon inflationäre Rede vom bürgerschaftlichen Engagement tatsächlich nur die „Petersiliengarnitur“, die die politische Ratlosigkeit dekorativ verschönert, wie Ulrich Beck bereits vor vielen Jahren in der Süddeutschen Zeitung (23./24. Juni 2001, s. a. S. 28) kritisierte? Beim Lesen dieses Buchs entsteht ein anderer Eindruck. Insbesondere die konkreten Beispiele verschiedener Engagementfelder zeigen, wie Egger es in seinem Vorwort (S. 8) formuliert, dass durch freiwilliges Engagement eine Form von Kapital geschaffen wird, „derer wir alle lebenslang bedürfen. Ein Schwinden dieser Kapitalsorte, […] das Verrosten des ‚gesellschaftlichen Scharniers Solidarität‘ ist auf lange Sicht unstreitbar auch wirtschaftlich kontraproduktiv.“
Die Ausgangsfrage, wie soziales Kapital in der heutigen Gesellschaft generiert und am Leben gehalten werden kann, bildet dabei den roten Faden für die verschiedenen Beitrage. Von den drei im Buchtitel genannten Schlagwörtern, die zugleich ja eine Frage bilden könnten, zieht sich insbesondere das Stichwort Engagement stringent durch diese Veröffentlichung. Die Frage, ob der Begriff des Eigensinns in der Debatte um Soziales Kapital und Engagement wirklich zielführend und hilfreich ist, bleibt eher unbeantwortet. Er ist m. E. nicht deckungsgleich mit Prozessen, in denen Eigeninitiative Sinn für den Einzelnen und auch darüber hinaus entstehen lässt. Entsprechend führt Eigensinn in manchen Beiträgen der Publikation zu freiwilligem Engagement, in anderen davon weg oder aber es werden sinnstiftende Auswirkungen des Engagements hervorgehoben. Der Zusammenhang zwischen Engagement und Macht hätte ebenfalls expliziter thematisiert werden können. Treffender hätte man vielleicht den Begriff des Sozialkapitals (im Buch mal als Sozial-Kapital, soziales Kapital oder Sozialkapital vorkommend) in den Titel aufnehmen können.
Nicht alle Beiträge im ersten Teil dieses Werkes sind gleichermaßen leicht zugänglich, was aber im zweiten Teil des Werkes durch die wiederkehrende Nutzung von anschaulichen Fallbeispielen und Projektbeschreibungen überwiegend aus dem österreichischen Raum ausgeglichen wird. Die Zuordnung der verschiedenen Beiträge zu zwei unterschiedlichen Schwerpunkten erscheint dabei nicht immer trennscharf und wäre sicher nicht zwingend erforderlich gewesen. Auch bei der Übersicht über den Aufbau des Buches und die verschiedenen Beiträge im Vorwort wird darauf nicht eingegangen. Damit die Beiträge nicht überwiegend losgelöst nebeneinander stehen bleiben, wäre ein zusammenführendes, abschließendes Kapitel für die Leserschaft wünschenswert gewesen.
Fazit
Fachkräfte, die in den Bereichen Engagement und Soziales Kapital forschen, lehren und anderweitig arbeiten, regen die Autorinnen und Autoren der verschiedenen Beiträge wie im Vorwort (S. 13) angekündigt „zum Denken an […,] um das eigene soziale Handlungsfeld zu erweitern.“
Rezension von
Gesa Bertels
Soziologin (M.A.) und Diplom-Sozialpädagogin (FH), wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut (DJI), München
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Zitiervorschlag
Gesa Bertels. Rezension vom 05.02.2013 zu:
Angela Pilch Ortega, Andrea Felbinger, Regina Mikula, Rudolf Egger (Hrsg.): Macht - Eigensinn - Engagement. Lernprozesse gesellschaftlicher Teilhabe. Springer VS
(Wiesbaden) 2010.
ISBN 978-3-531-17085-5.
Reihe: Lernweltforschung - Band 7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12437.php, Datum des Zugriffs 05.11.2024.
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