Claus Lange: Anthropolisophie
Rezensiert von Arnold Schmieder, 15.12.2011

Claus Lange: Anthropolisophie. Der Wandel findet statt. Wir sind besser als wir leben. Books on Demand GmbH (Norderstedt) 2011. 4. Auflage. 188 Seiten. ISBN 978-3-8370-8358-3. 13,90 EUR. CH: 23,90 sFr.
Thema
Als Neologismus mag der Titel des Buches an die eine Seite der von Rudolf Steiner entwickelten Anthroposophie anschließen, nämlich eine umfassende, ‚kosmologische‘ Anschauung von Mensch und Welt. Eingeflochten ist ‚Polis‘ als Hinweis auf das, was in der Dialektik von inneren und äußeren Verhältnissen, von Handeln und Bewusstsein, dringend für überfällige Veränderungen angezeigt ist. Revitalisierung einer politischen Grundhaltung nach dem Modell des Bürgerverbandes der antiken griechischen Stadtstaaten wird so angemahnt, was in der heutigen Idee einer Zivilgesellschaft fortlebt. Steiners andere Seite, einespirituell ausgerichtete Weltanschauung, ist die Sache des Autors nicht. Vielmehr schlägt er bis in recht konkrete Handlungsmöglichkeiten vor, wie wir uns trotz aller Bedrohungen, trotz scheinbarer Sachzwänge und Schieflagen aus einer Haltung zwischen Ohnmacht und Duldungsstarre lösen und den Blick von der Klagemauer abwenden können. Der „kreative Drang“, der uns zu Eigen ist, der „unterdrückt und korrumpiert, aber nie völlig ausgelöscht werden“ kann, wie er Csikszentmihalyi zustimmend zitiert (S. 163), darf nicht brach liegen bleiben. Er ist die Initialzündung der erst einmal zu gewinnenden Einsicht, dass wir, wie der Untertitel besagt, besser sind als wir leben – wir also Besseres aus uns selbst und den von uns geschaffenen Lebensbedingungen machen können, als uns bislang scheinen mag.
Was den Arzt und „lebensfrohen Optimisten“ Claus Lange irritiert, ist die „Distanziertheit und das Unbeteiligtsein der Bürger in ihren verschiedenen Lebensformen und Funktionen“, der unbedingte „Glaube an den wirtschaftlichen Fortschritt und das immer wieder propagierte Wachstum“, nicht zuletzt auch die gouvernementale Zumutung, „dass wir unser Leben im Wettbewerb als Selbstunternehmer, als unternehmerisches Selbst mit nutzungsoptimierter Ausrichtung inklusive unseres Privatlebens ausrichten sollen“. (S. 3ff) Dagegen setzt er Aufklärung und fordert auf, sich von „starren Ansichten“ zu verabschieden und „Improvisation im Rahmen des Machbaren“ zu wagen. Nicht auf den Typus eines „langjährigen Funktionärs“ ist zu bauen, sondern allerorten ist ein „enthusiastischer Visionär“ gefragt. (S. 179) Solche Menschen, die vielleicht auf den ersten Blick abstruse, doch immerhin bedenkenswerte, ‚konkret-utopische? Vorschläge machen, werden uns lehren können, „dass Wandel vielleicht doch nicht so schwierig herbeiführbar ist, wie wir es in vielen Bereichen als Mangel der Umsetzung von Ideen derzeit erleben.“ (S. 7f) Auf diesem Wege sind „Menschen dort abzuholen, wo sie sind“, und mit seinem Buch will der Autor „Social-creative-people“ dazu ermuntern, „sie mitzunehmen in eine sie erfüllende Beschäftigung mit der Zukunft.“ (S. 182f) Besinnen wir uns, zitiert der Autor den Atomphysiker Hans-Peter Dürr, dass “'die Realitäten von heute die Utopien von gestern sind'“ (S. 7), und mit Matthias Horx plädiert er für einen “'evolutionären Optimismus'“ (S. 22), dem auch sein Buch dienen soll.
Claus Lange unternimmt den Versuch, „Aspekte menschlicher Schwächen und Fähigkeiten in Zusammenhang mit anthropologischen, sozialen und gesundheitspolitischen Aspekten in einer Gesamtschau zu betrachten und in einen Dialog einzutreten darüber, ob es uns nicht gelingen könnte, den Anfang zu doch wohl entscheidenden Veränderungen möglichst bald einzuleiten“ (S. 7) – was regional und zugleich breitenwirksam, an neuralgischen Punkten ansetzend und vor allem vernetzt zu geschehen hat. Dazu regt das Buch mit einer Fülle von Argumenten und alltagsnahen Beispielen an.
Aufbau und Inhalt
Das Literaturverzeichnis scheint – zumindest gemessen an fachwissenschaftlichen Publikationen – eher schmal. Als ganz offensichtlich gründlich studierte Hintergrundlektüre sind die aufgenommenen Werke jedoch durchaus hinreichend, um dem Autor den beabsichtigten interdisziplinären Zugang zur Palette seiner Themen zu eröffnen. Kein Quellenbezug verrutscht eklektizistisch, sondern wird als Anregung zu weiteren Überlegungen in der Spannbreite von Wahrnehmung und Wirklichkeit, Problemen der Alltagskultur, Gesundheit und Krankheit bis zu kommunikativem Handeln und Solidarität aufgenommen und ausgelotet. Die Unabhängigkeit des Weiter- und Querdenkens, die er gegenüber den Hemmschuhen aus Political Correctness auch von Parlamentariern fordert (vgl. S. 19), nimmt er auch für sich in Anspruch.
Nachdem Claus Lange auf Herausforderungen durch demographischen Wandel und daraus zu schöpfende Vorteile aufmerksam gemacht hat, tendenziösen Parlamentarismus gerade im Hinblick auf globale Gefahren und Gefährdungen sozialer Sicherungssysteme angeprangert hat, nähert er sich über das Subjekt-Objekt-Problem dem Phänomen des ‚gesunden Menschenverstandes‘, der nach seiner Auffassung nur als ‚dynamischer‘ verstanden werden sollte und mit dem verschüttete Bildungselemente freigelegt oder erst entwickelt werden könnten, was – mit Alexander Mitscherlich gesprochen – u.a. auch „Sozial- und Herzensbildung“ meint. Ein so dimensionierter, bildungsgesättigter und daher tatsächlich als ‚gesund‘ zu bezeichnender Menschenverstand verschaffe (neue) „Orientierung und Bodenhaftung“ zugleich. (S. 31f) – Das wirft, will man es nicht als blauäugiges Glaubensbekenntnis abtun, gerade gegenüber einem in den Naturwissenschaften sattelfesten Arzt die Frage auf, wie und woraus gespeist und begründbar dem Menschen solche eben nicht nur rational auszuweisende „Herzensbildung“ und zudem jener uns scheint's unverbrüchlich innewohnende „kreative Drang“ (s.o.) zuwachsen.
Antworten aus neurobiologischen Forschungen sind vorstellbar, komplettiert und angereichert durch interdisziplinäre Anleihen etwa aus Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Darüber klärt knapp und verständlich Heinz Eichhöfer auf, der im Buch mit einem Aufsatz und zugleich Kapitel zum Thema des Umgangs mit Geistes- und Naturwissenschaften vertreten ist. In Bezug auf die Hirnforschung, die in den letzten Jahren sehr wesentlich dem wissenschaftlichen Diskurs Impulse gegeben hat, macht er deutlich, dass sie „nur das als Ergebnis bringen“ können, „was die Untersuchungsmethode zulässt“. Dann zeigt er entlang z.B. der Physik auf, „dass ‚unsere‘ Wirklichkeit zum großen Teil im Kopf stattfindet und keineswegs in der Natur selbst“, was auch ohne Verweis auf die Heisenbergsche Unschärferelation unmittelbar plausibel macht, dass diese Erkenntnis „natürlich weitrechende erkenntnistheoretische Folgen haben“ muss. (S. 38f) Wie und warum Eichhöfer mit seinem Beitrag die Thematik und Argumentationsfigur von Claus Lange anreichert und unterfüttert, wird deutlich im Hinweis darauf, dass sich „Kunst (Irrationales) und Wissenschaft (Rationales)“ keineswegs ausschließen. Obwohl sich „Irrationales“ nicht „methodisch-logisch“ behandeln lasse, käme ihm „als kreativem Element eine große Bedeutung zu“, seien doch nicht wenig Erkenntnisse nicht nur durch „Fleiß und Schweiß“, sondern „auch durch Inspiration erlangt.“ Den Bereich unserer Sinne könnten wir nur überschreiten, „wenn wir auch Irrationales zulassen“. Sogar „unsere Alltagslogik“ müssten wir hinter uns lassen „und statt dessen relativistische, akausale und höherdimensionale Welten entdecken.“ (S. 58f)
Diese Überlegungen könnte man auf den schon älteren Begriff einer uns frommenden „soziologischen Phantasie“ von Oskar Negt herunter brechen, was Claus Lange in einer erfrischend unverblümten Art und Weise tut. Und es wird deutlich, dass jener „kreative Drang“ kein deus ex machina und insofern kein Taschenspielertrick des Autors ist, sondern die unverzichtbare Marschverpflegung eines jeden „enthusiastischen Visionärs“ (s.o.). Da knüpft der Verfasser an die Ausführungen von Eichhöfer an. Veränderbarkeit sei eine – uns gezielt mögliche – Option, im Grunde etwas „zutiefst Menschliches“, geradezu eine „Gnade“. (S. 63). Über Gene und Meme führt er uns vor Augen, dass die von uns selbst erzeugten Informationen und im Gehirn verankerten Tatsachen ein Eigenleben mit teils fatalen Folgen entwickeln (etwa im Fall der Waffentechnologie). Doch könnten wir uns, und da klingt Freuds ‚leise Stimme der Vernunft‘ an, von „ungerichteten Kräften der Biologie“ und auch prekären „gesellschaftlichen Errungenschaften“ befreien. (S. 68) Dies bezieht er auf die (Interaktions-)Kultur unseres Alltags, wo er mit Daniel Golemann sieht, dass “'die Kräfte und Fähigkeiten des Herzens genauso lebenswichtig sind wie die des Kopfes'“, und schlussfolgert, dass “'Rationalität und Mitgefühl (…) ins Gleichgewicht gebracht werden'“ müssen. (S. 77) Die Rede ist von emotionaler Intelligenz, die auch für eine gesunde Lebensführung von Belang ist, wobei Prävention als Teil einer umfassenden Bildung, die schon im Kindesalter anzusetzen habe, unverzichtbar sei. Da aber seien bislang Patienten und Mediziner unterbelichtet, zumal wir in der wie von uns verstandenen Medizin „häufig Krankheit nur verwalten, die Symptome mildern oder beseitigen, aber zu wenig kurativ (heilend) wirken.“ (S. 103) Auch in diesem Bereich unseres sozialen Lebens ist Bildung (wie in allen anderen Bereichen auch) unabdingbar – aber nicht so wie in der aktuellen Darreichungsform. Unsere Kinder erzögen wir dazu, „ihren Platz in einer Kultur zu übernehmen, die es in Wirklichkeit nicht mehr gibt“, Universitäten schilt er ob ihrer ins Technizistische versandenden Europanormierung und einer „Verstaatlichung des Geistes“. (S. 110f) Als gangbaren Weg gegen solche Verkarstung setzt er das kommunikatives Handeln nach der Theorie von Jürgen Habermas, mit dessen Hilfe Kompetenzen für die Belange kreativer Problemlösungen jenseits ausgetretener Denkpfade zu gewinnen wären. Der Autor selbst geht diesen Weg, wo er sich in einem weiteren Kapitel mit Marktwirtschaft und Kapitalismus auseinandersetzt, und zwar bis in Fragen um Arbeit und Lohn, der Notwendigkeit einer Neudefinition von Arbeit und dem sensiblen Diskussionsgegenstand eines Bürgergeldes. Dabei führt er vor Augen, wie tief wir im Denken und Handeln und sogar Empfinden von der Marktlogik, wie sie in unserer Gesellschaft war und ist, durchdrungen sind, gleichsam „konditioniert“, wie er an verschiedenen Stellen betont. Aber auch diese Konditionierung mit ihrem Kernstück einer allumfassenden Konkurrenzorientierung ist nicht ausweglos, wenn wir uns darauf besinnen: „Solidarität macht glücklich“. (S. 150) Um dies zu lernen, müssen wir uns in Gemeinschaft begeben, in der wir uns hinsichtlich unsere – kommunikativ ausgehandelten – Überzeugungen bestätigen und vergewissern und in diesen Momenten lernen, „dass wir unser Leben selbst gestalten können, statt unter Ereignissen zu leiden, die sich unserem Einfluss entziehen.“ (S. 163) – Man ist an Ferdinand Tönnies und seine schon ältere Analyse erinnert, dass Gemeinschaft unverzichtbar ist, wenn Gesellschaft bestehen will. Vor seinem Schlusswort gibt Claus Lange in einer „To do – Liste“ recht konkret für unser Hier und Jetzt an die Hand, welche Aktionen regional in Angriff genommen werden könnten und sollten, worin Gemeinschaft gestiftet werden kann, womit sich die Innovationen „enthusiastischer Visionäre“ Geltung verschaffen könnten.
Fazit
Ein Arzt begibt sich auf Entdeckungsreise. Er blickt weit über den Tellerrand seiner Profession und ist sich zugleich inne, dass und wie dieser Blick auch für ihn als Mediziner von Dringlichkeit ist. „Heilkunde als Lebenskunde“ (S. 79) ist sein Credo, ein längst überfälliges, das er auch mit den Forschungsergebnissen des Medizinhistorikers Heinrich Schipperges eindrucksvoll belegt. „Du musst dein Leben ändern“ meinte Rilke und der Philosoph Sloterdijk übernahm dieses Motto gar als Buchtitel. Claus Lange konkretisiert dieses Desiderat und macht in zugleich kritischer wie aufklärender und vor allem anregender Weise klar, dass und wie wir uns bei Strafe eines (scheint's noch gemächlichen) inneren und äußeren Verrottens verändern können und müssen. Dabei hat er nichts gemein mit modischen Apokalyptikern oder Bad-News-Vermarktern, sondern aus ihm spricht die berechtigte Sorge um unser aller Wohl und die Zukunft unserer Kinder.
Die Welt ist immer ausgehandelte Ordnung und befindet sich in stetigem Wandel, ist soziologisch an Anselm Strauss zu erinnern. Lange extemporiert mit seinem Buch auf dieser Klaviatur und tut damit selbst das, wozu er einlädt. Mit seinem Buch trägt er Verantwortung – nicht nur als Arzt. „Lässt sich das Prinzip Verantwortung doch noch verteidigen?“, fragt die Philosophin Anna Claas in ihrem Werk mit gleichnamigem Titel und eröffnet die Perspektive einer diskursiven Ethik und lebensweltlichen Begründung des Prinzips Verantwortung – dieser Geist durchweht die Argumentation von Lange.
Um sein Buch nicht nur „Social-creative-people“ (s.o.) zu empfehlen, sondern allen, die nicht länger wegschauen mögen, sei abschließend eine intellektuelle Spielerei erlaubt: Neben andern Personen widmet der Autor sein Buch Hansjörg Hermes, „einem mutigen Visionär im Gesundheitswesen“. (S. 2) Hermes, so die Assoziation, bekanntlich Bote der Götter, überbrachte deren Botschaften den Sterblichen. Aber er überbrachte sie nicht nur, sondern übersetzte sie durch Auslegung und Erklärung. Seine Botschaften waren daher nicht bloß Mitteilungen, sondern forderten Einsicht und Verständnis derer, die in Kenntnis gesetzt wurden. Er provozierte sie damit, sich zu verständigen. – Das darf und kann Lange von seiner Leserschaft auch erwarten.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 15.12.2011 zu:
Claus Lange: Anthropolisophie. Der Wandel findet statt. Wir sind besser als wir leben. Books on Demand GmbH
(Norderstedt) 2011. 4. Auflage.
ISBN 978-3-8370-8358-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12447.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.
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