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Annette Kuntsche: Kinder mit schweren Behinderungen in der Musiktherapie

Rezensiert von Prof. Dr. Gisbert Roloff, 19.04.2012

Cover Annette Kuntsche: Kinder mit schweren Behinderungen in der Musiktherapie ISBN 978-3-89500-841-2

Annette Kuntsche: Kinder mit schweren Behinderungen in der Musiktherapie. Zwischen Annehmen, Spüren, Begegnen und Entdecken. Dr. Ludwig Reichert Verlag (Wiesbaden) 2011. 103 Seiten. ISBN 978-3-89500-841-2. D: 15,00 EUR, A: 15,50 EUR.
Reihe: Frankfurter Texte zur Musiktherapie - Band 5. Zeitpunkt Musik. Forum Zeitpunkt.

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Thema

In seinem Buch „Die Welt in 6 Songs“ vertritt der Neurowissenschaftler und Musiker Daniel L. Levitin die These, dass das musikalische Gehirn die Natur des Menschen ausmacht. Keine andere Spezies könne musizieren, und daher mache uns vor allem Musik und nicht allein die Sprache zum Menschen. Als nicht notwendig an Sprache gebundene Ausdrucksform erreicht Musik unmittelbar auch nicht sprechende Menschen.

Im gerade angelaufenen Film „The Music never stopped“ erleben wir, wie zufällig gefundene Musikstücke Resonanz bei einem nach einer Hirnoperation katatonisch verschlossenen Menschen den Weg zu seiner Erinnerung an die Jugendzeit öffnen. Der Film beruht auf Oliver Sacks´ Fallstudie „Der letzte Hippie“

Auf diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass Musiktherapie bei behinderten Kindern und Jugendlichen eine unentbehrliche Methode darstellt. Über 30, vorwiegend praktisch ausgerichtete Bücher bei Amazon zeigen, dass es nicht an Anregungen und praktischen Hilfen fehlt. Theoretisch bezieht sich die Musiktherapie auf bereits vorhandene psychotherapeutische Ansätze, so dass es unmöglich ist, von der Theorie zu sprechen.

Beim Versuch, dem Problem wissenschaftlich auf den Grund zu gehen, trifft man folglich auf unterschiedliche theoretische Ansätze und eine uneinheitliche Nomenklatur.

Beispiele sind: „Schwer behinderte Kinder“ (Haupt, 2006) „Kinder mit schwerster Behinderung“ (Wieczorek, 2002), „Mehrfach behinderte Kinder“ (Plahl, 2000), „Schwermehrfachbehinderte Menschen“ (Becker, 2002), „Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderung“ (Mau, 2004).

Ohne diese Definitionsunterschiede hier zu erörtern, kann festgehalten werden, dass es sich um Kinder und Jugendliche handelt, deren Anderssein das Verstehen ihrer Äußerungen oft schwer macht. Musik und Musizieren können eine Brücke zu ihrer Innenwelt sein, deren Äußerung über die gesprochene Sprache erschwert oder unmöglich ist.

Annette Kuntsche wählt die Bezeichnung „Kinder und Jugendliche mit schweren Behinderungen“ (S. 16). Sie sieht deren Spezifikum nicht als eine „additive Behinderung einzelner Entwicklungsbereiche, sondern (als) eine umfassende Entwicklungsbeeinträchtigung“ (S. 17). Sie betrachtet Behinderung „als Phänomen und nicht als Faktum, mehr als Ausdrucksform, denn als Defekt“ (S. 16). Sie meint Kinder und Jugendliche, „die sowohl von schweren körperlichen als auch geistigen Behinderungen betroffen sind und die sich nicht über Lautsprache, sondern im unmittelbaren Kontakt über körperliche, mimisch-gestische und stimmliche Zeichen ausdrücken“ (S.18). Für sie entwickelte und erprobte sie ein musiktherapeutisches Programm, das sie hier vorstellt.

Autorin und Entstehungshintergrund

Annette Kuntsche ist Musiktherapeutin M.A. und Sonderschullehrerin. Sie arbeitet seit 2005 an einer Schule für Körperbehinderte. Ihr Buch ist als Abschlussarbeit im Masterstudiengang Musiktherapie an der Fachhochschule Frankfurt entstanden. Es stellt den Versuch dar, der „musiktherapeutischen Einzelarbeit mit Kindern und Jugendlichen mit schweren Behinderungen (…) in Form eines Konzeptentwurfes einen wissenschaftlichen Bezugsrahmen zu geben“ (S. 12).

Aufbau und Inhalt

Nach einem grundlegenden Teil stellt Kuntsche ihr eigenes Konzept für die Arbeit an der Sonderschule dar.

  1. Annehmen (als Voraussetzung der Beziehungsgestaltung),
  2. Spüren (als Kontakterwartung),
  3. Begegnen (als Widerfahrnis),
  4. Entdecken (als Spielraum).

Jeder Stufe widmet sie ein eigenes Kapitel, das jeweils dem gleichen klar strukturiertem Aufbau folgt:

  1. Psychologischer Bezugsrahmen,
  2. Musiktherapeutische Interventionen,
  3. Gegenübertragungsgefühle,
  4. Vorherrschende Funktion der Musik.

Jedes Kapitel endet mit einer Fallvignette aus der Arbeit der Autorin mit Timo, einem schwer behinderten Schüler, der im Bildungsgang für Geistigbehinderte unterrichtet wird. Das Einschulungsgutachten nennt als seine Diagnosen schwere psychomotorische Entwicklungsretardierung, cerebrale Krampfanfälle und unsichere Fixation des Blickes. Greifen und Festhalten ist ihm im Faustgriff möglich. Er verfügt nicht über die Lautsprache. Seine Ausdrucksformen sind: Mimik (u.a. Zusammenpressen und Verziehen des Mundes), Lautieren, Lachen, Weinen. Alle Verrichtungen des Alltags sind ihm nur mit Hilfestellung möglich. Nahrung und Flüssigkeit erhält er zum Teil über eine Sonde.

Beispiele zu therapeutischen Interventionen

Wie bereits angeführt arbeitet die Autorin mit dem vierstufigen Konzept Annehmen – Spüren -

Begegnen - Entdecken. In Gedächtnisprotokollen reflektiert sie ihre Arbeit jedes Mal am Ende einer Therapiesitzung. Die hier folgenden Auszüge aus diesen Protokollen illustrieren ihre Arbeitsweise.

Annehmen als Voraussetung der Beziehungsgestaltung. Dazu Kuntsche: „In der ersten Stunde (von insgesamt 15) fällt gleich sein ausgeprägtes Lautieren auf. Meine ersten Frage, wie es ihm gehe, ’beantwortet´Timo mit Tönen, die wie ein stimmhaftes Ausatmen klingen. (…) In den ersten Stunden möchte ich herausfinden, wie ich Timos Äußerungen musikalisch aufgreifen kann. Timos Klopfen oder Kratzen auf seinem Rollstuhltisch wirken stereotyp, er ist dabei sehr bei sich. Ich greife das Klopfen mit der Tonga auf, worauf Timo stimmlich und mit Lachen reagiert, wobei ich das Gefühl habe, meine Art der Ansprache gefällt ihm“ (S. 60).

Spüren als Kontakterwartung. „Beim Singen des (ritualisierten) Begrüßungsliedes bemerke ich (dass) Timo sich sichtlich darüber freut, angesprochen zu sein. (Er) reagierte mit Lachen auf seinen Namen, der in dem Lied gesungen wird. Dass Timo sich wahrgenommen fühlt, wird an seinen kurzen Blicken zu mir deutlich, die mir immer wieder das Gefühl geben, meine Musik sei stimmig für ihn – ich solle weiterspielen (S. 70/71)

Begegnen als Widerfahrnis. „Über das Verklanglichen (von Timos) Bewegungsstereotypien, die sich im Vor- und Zurückschlagen des Kopfes zeigen, aber auch im Kratzen mit den Fingernägeln auf dem Rollstuhltisch oder dem Klopfen mit der Faust, kommt es immer wieder zu kurzen Begegnungen, bei denen Timo Blickkontakt mit mir herstellt. Mit der Zeit beginnt er auch mein Instrumentalspiel ( … ) mit dem Blick zu verfolgen, sowie mit dem Blick zwischen dem Instrument und mir hin und her zu wechseln. Ich beginne zu bemerken, dass Timo ein Verständnis dafür entwickelt, dass mein Spiel etwas mit seinen Bewegungen zu tun hat, sowie, dass ich es bin, die das Instrument spielt“ (S. 79).

Entdecken als Spielraum. Nach 15 Sitzungen mit Timo wird zum Schluss notiert: (Ich) „habe das deutliche Gefühl, dass Timo mir schon viel von sich gezeigt hat und mit mir zusammen etwas Gemeinsames entwickeln konnte, von dem er viel profitiert. In den letzten beiden Stunden waren wir beide nahe am Klavier. Timos Rollstuhl stand neben dem Klavier. Zwei Dinge waren dabei bedeutsam für mich. Einmal, dass Timo von alleine begann mit der linken Hand nach den Klaviertasten zu ’suchen´ und einzelne Tasten drückte, was mir zeigt, dass er im Zutrauen auf sein wachsendes Gefühl von Urheberschaft tatsächlich aus eigenem Antrieb heraus mehr entdecken möchte“ (S. 87).

Als Fazit ihrer Arbeit hält Kuntsche verallgemeinernd fest:

  • Musiktherapeutische Arbeit fördert Eigenaktivität; schwer mehrfachbehinderte Menschen werden zunehmend aktiver.
  • Die Arbeit ermöglicht ihnen Erfahrungen von Urheberschaft.
  • Ihre Verhaltensweisen werden deutlicher zielgerichtet.
  • Sie können von den nicht behinderten Beziehungspersonen verstanden werden.
  • Ihre Aufmerksamkeitsspanne steigt.
  • Die musiktherapeutische Arbeit mit behinderten Kindern hilft zum Auffinden eigener Lebendigkeit.
  • Sie bietet gemeinsames Erleben von Freude.
  • Sie hilft zeitweilig unüberwindbar erscheinende Hoffnungslosigkeit auszuhalten.

Fazit

Für die ebenso notwendige wie schwierige Arbeit mit mehrfach behinderten Kindern und Jugendlichen zeigt Annette Kuntsche an einem selbst entwickelten Programm mit den Schritten „Annehmen -Spüren – Begegnen – Entdecken“, wie sich konzeptgeleitete Arbeit verwirklichen lässt und wie damit zugleich eine Grundlage für empirische Wirksamkeitsforschung gelegt werden kann. Ihre eigene Arbeit mit dem Kozept spiegelt eine humanistische Haltung wider, die selbst bei stärkster Beeinträchtigung und Behinderung die Subjektivität des Gegenübers anerkennt, dessen krankheitsbedingt verzerrten Ausdruck versteht und damit eine bedeutsame Begegnung ermöglicht.

Der Duktus der Arbeit und der häufige Rückgriff auf (oft sehr kurze) Originalzitate, deren Inhalt sich auch flüssiger in eigenen Worten wiedergeben ließe, zeigen die Übermacht der Regeln, die für eine Examensarbeit gelten. Das gefällt nicht jedem Leser, zumal die Autorin in eigener Sprache klar und präzise formuliert.

Fazit: Für Praktiker eine anregende Grundlage für den eigenen Einstieg in eine schwierige Arbeit. Für wissenschaftlich Interessierte ein Bezugsrahmen für die Entwicklung eigener theoretisch fundierter Empirie.

Literatur

  • Becker, M (2002): Begegnungen im Niemandsland – Musiktherapie mit schwermehrfachbehinderten Menschen. Weinheim.
  • Haupt, Ursula (2006): Wie Lernen beginnt. Grundfragen der Entwicklung und Förderung schwer behinderter Kinder. Stuttgart.
  • Levitin, Daniel J. (2011): Die Welt in 6 Songs. Warum Musik uns zum Menschen macht. Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann.
  • Mau, Verena (2004): Kinder mit Schwerstmehrfachbehinderung - gesundheitliche Besonderheiten und Herausforderungen in der Gesundheitssorge. In: Medizin für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung, 1/1, 20-27.
  • Plahl, Christine (2000): Entwicklung fördern durch Musik. Evaluation musiktherapeutischer Behandlung. Münster.
  • Sacks, Oliver (1996): Der letzte Hippie – Zwei neurologische Geschichten. Rowohlt Taschenbuchverlag.
  • Wieczorek, Marion (2002): Individualität und schwerste Behinderung. Ein Beitrag zum Verstehen und Anregungen zur Entwicklungsbegleitung. Bad Heilbrunn.

Rezension von
Prof. Dr. Gisbert Roloff
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Es gibt 20 Rezensionen von Gisbert Roloff.

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ISSN 2190-9245