Fritz Hegi: Improvisation und Musiktherapie
Rezensiert von Prof. Hartmut Kapteina, 19.06.2012
Fritz Hegi: Improvisation und Musiktherapie. Möglichkeiten und Wirkungen von freier Musik.
Dr. Ludwig Reichert Verlag
(Wiesbaden) 2010.
283 Seiten.
ISBN 978-3-89500-735-4.
Reihe: Zeitpunkt Musik. Forum Zeitpunkt.
Entstehungshintergrund
Der Titel erschien erstmals 1986 in der Junfermannschen Verlagsbuchhandlung und liegt nun nach 25 Jahren in unveränderter Neuauflage vor. Anfang der Achtziger Jahre begann in der alten BRD die systematische Entwicklung der Musiktherapie als wissenschaftlicher Disziplin. In der DDR begann dieser Prozess bereits 20 Jahre vorher und ist durch entsprechende Veröffentlichungen belegt.
„Improvisation und Musiktherapie“ von Fritz Hegi gehört zu den ersten Lehrbüchern im deutschsprachigen Raum. Seine bis heute unbestrittene Aktualität liegt vor allem darin begründet, dass es von den besonderen Wirkfaktoren der Musik und insbesondere der musikalischen Improvisation ausgeht, während andere Publikationen damals und teilweise noch heute psychotherapeutische Konzepte zu Grunde legten, von denen die Anwendung Musikalischer Interventionen abgeleitet wurde. Diese Zugänge verstellten immer wieder den Blick auf die ganze Breite der tatsächlich durch die Musikerfahrung gegebenen Heilungschancen. Hegi hat von Anfang an das Primat der „Möglichkeiten und Wirkungen von freier Musik“ als maßgebliche theoriebildende Orientierungsgröße verfolgt, der er psychotherapeutische (insbesondere gestalttherapeutische) Theoreme zu- oder unterordnete.
Aufbau und Inhalt
Fünf „Felder, in denen sich Improvisation“ wie alle Musik bewegt, werden im ersten Teil des Buches „theoretisch unterschieden“ (158) und ausführlich dargestellt:
- Rhythmus als Ursprung und Wesen alles Lebendigen, im Kosmos, in der Natur, bei Pflanzen, Tieren und natürlich beim Menschen. Rhythmus bestimmt Musik als Widerspiegelung von Lebenszeit durch Wechsel, Wiederholung, Gleichschlag, Betonung, Unterteilung usw.
- Klang bildet sich im Zusammenwirken vielfältiger Frequenzen in Resonanzräumen. Das gilt für die verschiedenen Instrumentalklänge wie vor allem auch für die menschliche Stimme und ihre individuelle Charakteristik, die aus dem Zusammenspiel zwischen Artikulationswerkzeugen, Resonanzräumen und Schwingungszentren im Körper entsteht.
- Melodie als Klanggestalt, die im zeitlichen Nacheinander entsteht, Intervalle bildet, in Tonräumen auf- und absteigt, Motive kombiniert, variiert und kontrastiert und so den Gestaltungswillen des Menschen repräsentiert.
- Dynamik macht im Spektrum von Stille, der musikalischen Pause, über den Wechsel der unterschiedlichen Lautstärkegrade das Kräftespiel erlebbar, welches in der Musik jeweils wirksam wird.
- Und schließlich bilden alle musikalischen Aspekte in ihrem Zusammenspiel die Form der Musik, in der sich alle Einzelheiten ordnend zueinander fügen.
Diese fünf Kapitel werden, jedes für sich genommen musikwissenschaftlich, anthropologisch und psychologisch diskutiert; sie lassen immer wieder durchscheinen, wie die einzelnen Elemente im therapeutischen Prozess zusammenwirken. An geeigneten Stellen wird auf den „Teil III“ des Buches verwiesen, eine Besonderheit dieses Werkes: eine „Kartei“ von musikalischen Spielen, durch die Patienten die jeweils angesprochenen Phänomene während der Therapie praktisch erfahren und vertiefen können.
Immer wieder scheint die Vielfalt der Bezüge auf, die sich zwischen den musikalischen Ereignissen der Improvisation und den bio-psycho-sozialen Geschehnissen des Alltags herstellen lassen. Sie bilden natürlich die zentrale Energie, aus der sich der therapeutische Prozess speist.
Damit befasst sich der zweite Teil des Buches. „Musiktherapie, ein Begriffsmuster und Praxisbeispiele“. Zur Musiktherapie wird die Musikalische Improvisation zum einen durch das therapeutische Gespräch, in dem das musikalische Geschehen im Hinblick auf die Musikerfahrung, das bio-psycho-soziale Erleben während und nach der Musik sowie dessen Relevanz für das Verständnis problematischer Alltagserfahrungen reflektiert wird.
Zum anderen wird ein theoretischer Therapiekontext hergestellt, in den die einzelnen Prozesse eingeordnet werden können. Hierfür „übersetzt“ der Autor „fünf in der Gestalttherapie entwickelte Kontaktstörungen (…) für die Anwendung in der Musiktherapie“ (166): Introjektion, Projektion, Retroflexion, Deflexion und Konfluenz. Anhand plastischer Fallbeispiele aus der eigenen Musiktherapie-Praxis wird veranschaulicht, wie Patienten die musikalischen Möglichkeiten der Improvisation für sich nutzen und wie sich die genannten Kontaktstörungen im Wechsel von Musikerfahrung und therapeutischem Gespräch verändern und überwunden werden.
Fazit
„Improvisation und Musiktherapie“ ist das Lehrbuch, nach dem seit 1986 Generationen von Musiktherapeuten ausgebildet wurden, hauptsächlich in der „bam“, der „berufsbegleitenden Ausbildung Musiktherapie“, heute „zim“ (Züricher Institut Musiktherapie). Es wird auch in den nächsten Jahren einen guten Einstieg in die Musiktherapeutische Ausbildung ermöglichen, Laien über die Musiktherapie informieren und nach wie vor als ernstzunehmender Wegweiser gelten zu einer neuen Art von Psychotherapie, die den Menschen als bio-psycho-soziale Gesamtheit auffasst und ihm so begegnet, dass er seine schöpferischen Selbstheilungskräfte entwickeln und zur Geltung bringen kann.
Rezension von
Prof. Hartmut Kapteina
Professor an der Uni-GH-Siegen und Leiter der dort angesiedelten. „Musikalisch-Therapeutischen Zusatzausbildung“
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Es gibt 6 Rezensionen von Hartmut Kapteina.
Zitiervorschlag
Hartmut Kapteina. Rezension vom 19.06.2012 zu:
Fritz Hegi: Improvisation und Musiktherapie. Möglichkeiten und Wirkungen von freier Musik. Dr. Ludwig Reichert Verlag
(Wiesbaden) 2010.
ISBN 978-3-89500-735-4.
Reihe: Zeitpunkt Musik. Forum Zeitpunkt.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12463.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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