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Martina Löw, Renate Ruhne: Prostitution

Rezensiert von Matthias Meitzler, 17.01.2012

Cover Martina Löw, Renate Ruhne: Prostitution ISBN 978-3-518-12632-5

Martina Löw, Renate Ruhne: Prostitution. Herstellungsweisen einer anderen Welt. Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M) 2011. 215 Seiten. ISBN 978-3-518-12632-5. D: 15,00 EUR, A: 15,50 EUR.
Reihe: Edition Suhrkamp - 2632.

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Thema

Trotz partieller Legalisierung und zunehmender Toleranz in den vergangenen Jahren ist das Feld der Prostitution mit seinen mileutypischen Eigenheiten und Handlungslogiken nach wie vor ein brisantes und nicht unproblematisches Thema, welches vielerorts auf Verunsicherung, Ablehnung und Tabuisierung stößt und deshalb gemieden wird. Verbannt aus dem sozialen Alltag des „Durchschnittsbürgers“ an spezifische, undurchschaubare, zwielichtige Orte, ist die Prostitution als das außergewöhnliche „Andere“ stigmatisiert. Jene Dienstleistung bildet eine Grauzone zwischen Lustgewinn auf der einen und der Anhäufung von ökonomischem Kapital auf der anderen Seite. Damit unterscheidet sie sich vom Motiv der beiderseitigen, synchronen Lustmaximierung innerhalb einer idealtypischen milieufernen Sexualinteraktion. Die Offerierung prostitutiver Praktiken ist (wohl noch mehr als deren Inanspruchnahme) sozial geächtet, weswegen Prostituierte am unteren Rang der gesellschaftlichen Anerkennung stehen. Derweil löst diese Andersartigkeit nicht grundsätzlich nur Abneigung, sondern oftmals auch Anziehung, Faszination und Neugier aus. Ihrer vermeintlichen Verborgenheit zum Trotz wird über Prostitution in Massenmedien wie Zeitung, TV und Internet auffallend viel berichtet. Um dieses auf den ersten Blick außeralltägliche soziale Phänomen ranken sich dadurch allerlei Mythen, die das „Nichts-damit-zu-tun-haben-Wollen“ einerseits und den Reiz an der Grenzüberschreitung andererseits nähren. In ihrem Buch nehmen sich die beiden Autorinnen dem Thema aus einer raumtheoretischen Perspektive an. Gegenstand ihrer Untersuchung ist die heterosexuell-weibliche Prostitution in Frankfurt am Main – insbesondere jene im berüchtigten Bahnhofsviertel.

Autorinnen

Martina Löw ist Soziologin. An der TU Darmstadt forscht und lehrt sie zu Themen der Stadt- und Raumsoziologie sowie der Frauen- und Geschlechterforschung. Renate Ruhne ist ebenfalls Soziologin und gegenwärtig an der TU Darmstadt sowie an der Universität Kassel tätig. Ihre Schwerpunkte liegen in den Bereichen Stadt- und Raumsoziologie, Geschlechterforschung, Prostitution und Migration.

Entstehungshintergrund

Das Buch basiert auf einer ethnografischen Studie, die von 2005 bis 2008 in Frankfurt am Main durchgeführt und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde. In diesem Rahmen sind bereits Texte der Autorinnen zu Diskursen erschienen, die im Buch aufgegriffen werden.

Aufbau

Auf knapp 200 Seiten erstrecken sich insgesamt 10 Kapitel, die (abgesehen von Einleitung und Resümee) ihrerseits in mehrere Abschnitte unterteilt sind.

Inhalt

Die Forschungsarbeit orientiert sich vordergründig an den beiden Kategorien Raum und Geschlecht, die als soziale Konstruktionen aufgefasst werden. Es gehe folglich um „die (Re-)Produktion räumlicher (An-)Ordnungen der Prostitution unter anderem in ihrer Verwiesenheit auf Geschlechterbeziehungen“ (10). Sexarbeit wird von den Autorinnen als ein Feld des „Anderen“ verstanden. Dieses entstehe gewiss nicht von selbst, sondern werde erst durch soziale Mechanismen als ein solches (re-)produziert und somit gegenüber dem „Normalen“ abgegrenzt. Die empirische Herangehensweise dieser „moderne[n] Gemeindestudie“ (65) basiert auf einem Methodenmix aus teilnehmenden, ethnografischen Beobachtungen, Dokumentenanalysen, sozialräumlicher Kartografie, Ortserkundungen und problemzentrierten Interviews.

Zu Beginn des Buches berichten die Autorinnen von den anfänglichen Widerständen, die sich ihnen vor der Publikation in den Weg stellten und sich beispielsweise im vielsagenden Bedenken eines Lektors äußerten, man könne „Prostitution nicht neben Kant stellen“ (9). Nach wie vor gelte der Untersuchungsgegenstand als „heikel, unanständig und (jugend)gefährdend“ (9). Aufgrund bestehender Zugangsbarrieren sei das Feld trotz seiner langen Tradition für den öffentlichen bzw. wissenschaftlichen Blick noch immer schwer einsehbar – viele grundlegende (vor allem: soziodemografische) Fakten können nicht von exakten und verlässlichen Daten gestützt werden. Die Definition der Prostitution als Tauschgeschäft von Sex gegen Geld lasse wiederum großen Interpretationsspielraum zu.

Ein historischer Abriss des „ältesten Gewerbes der Welt“ zeigt vor allem den Facettenreichtum und die Wandelbarkeit des Phänomens, welches stets im Kontext gesellschaftlicher und juristischer Bedingungen zu betrachten sei.

Über die konkrete Situation in Frankfurt am Main berichtet der nächste Abschnitt. Wesentliche Prostitutionsvariationen (u. a. FKK-Club, Appartementprostitution, Laufhaus, Straßenstrich) werden mehr oder weniger prägnant vorgestellt. Nach näheren Erläuterungen der Forschungsmethodologie fällt der Blick allmählich auf das Bahnhofsviertel, um welches sich die weiteren Ausführungen exemplarisch kreisen. Unter dem Topos der Verhäuslichung wird ein räumlicher Umstrukturierungsprozess in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts veranschaulicht. Dieser äußert sich in der Verlagerung der Sexarbeit von den Straßen in geschlossene Häuser und der damit intendierten „Unsichtbarmachung“ vor dem öffentlichen Auge. Lediglich die auffälligen Leuchtreklamen und Schilder an den Bordellfassaden weisen als „symbolische Repräsentationen“ (119) indirekt auf das hin, was hinter den Laufhaustüren geboten wird.

In der zweiten Hälfte des Buches werden einige ausgewählte Diskurse mit besonderer Ausführlichkeit thematisiert. Im Vordergrund steht dabei vor allem die Frage, welche Rollen Emotionalität und Hygiene in der Prostitution spielen. Die Generierung von Unsicherheit (bis hin zu Angst), die Brandmarkung der Sexarbeit als schmutzig und deren Inanspruchnahme als Verschmutzung (re-)produzieren die „Grenze zwischen Prostitution und Normalität“ (149), was dazu beiträgt, dass ihre Räume von „soliden“ Bürgern und Bürgerinnen gemieden werden, fremd und mit Vorurteilen belastet bleiben. Der Versuch, dennoch so etwas wie „Normalität“ der Prostitution herzustellen, könne deshalb etwa „über das Betonen von Reinheit und Sauberkeit“ (16) erfolgen: „Mit den Waschungen und den Erwartungen an Körper- und Zimmerpflege, wie Freier sie artikulieren, entdramatisieren beide Seiten aktiv, dass der Prostitution Verunreinigung zugeschrieben wird“ (166).

Die Bedeutung von Täuschung und Inszenierung zur Herstellung von Illusionen (wie z. B. die der Prostituierten, die während ihrer Arbeit selbst erotische Lust empfindet) ist Gegenstand eines weiteren Kapitels, bevor ein abschließendes Resümee das Buch abrundet.

Diskussion

Löw und Ruhne gewähren spannende und durchaus lesenswerte Einblicke in ein Feld, welches unter soziologischen Vorzeichen lange Zeit wenig erforscht blieb. Für eine Studie, die sich mit der sozialen Konstruktion von Raum, Geschlecht und dem „Anderen“ befasst, scheint es zudem wohl kaum besser geeignete Orte als das Frankfurter Bahnhofsviertel zu geben. Das Buch, welches über weite Strecken recht deskriptiv anmutet, vermittelt eine reichhaltige Fülle von Basiswissen insbesondere für all diejenigen, die sich mit dem Thema insgesamt noch wenig befasst haben und überdies ein gesteigertes Interesse am (raum-)soziologischen Denken mitbringen.

Verschiedene Facetten der Prostitution, deren gesellschaftliche Kontextualisierung und Wandel werden kompakt und durch ein angemessenes Sprachniveau verständlich vermittelt.

Dass es nicht der Anspruch eines 200-seitigen Buches sein kann, ein solch vielschichtiges soziales Phänomen (etwa hinsichtlich seiner langen Geschichte und „globalen Allgegenwart“) erschöpfend zu erfassen und zu analysieren, leuchtet ein. Und dennoch bleiben einige Fragen im Raum stehen, die das Buch nach aufmerksamer Lektüre zwar evoziert, m. E. aber nur unzureichend reflektiert. Betroffen davon ist zum einen die Auswahl und Gewichtung der vorgestellten Prostitutionsformen: Am Beispiel des Frankfurter Bahnhofsviertels erfährt der Leser relativ wenig über die dort vertretene Callgirl- und Appartementprostitution – während den eher zu vernachlässigenden Saunaclubs erstaunlich viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dass der Einfluss moderner audiovisueller Techniken des Internets auf die gegenwärtige Sexarbeit evident ist und sogar neue Formen kreiert (z. B. bezahlter „Webcamsex“), bleibt überraschenderweise unerwähnt. Außerdem wären noch mehr detaillierte Informationen über die soziale Alltagsrealität und das „Innenleben“ der Laufhäuser vor allem im Hinblick auf spezifische Kontaktanbahnungsinteraktionen (Bedeutung der verbalen und nonverbalen Kommunikation, Visualität, Körperperformanz etc.) zwischen den Prostituierten und ihren potenziellen Kunden nicht uninteressant gewesen. Dieser fehlende Einblick dürfte wohl auch dem Forschungsproblem geschuldet sein, dass Frauen, die nicht im Laufhaus arbeiten, gewöhnlich der Eintritt verwehrt bleibt und viele Daten deshalb nur über Dritte gesammelt werden konnten – was wiederum eine gewisse „Verzerrungsgefahr“ mit sich führen kann.

Auch das methodologische Vorgehen wirft einige (leider unbeantwortete) Fragen auf: Über die Akquirierung der Interviewpartner erfährt man nämlich bis auf den Umstand, dass „viel Engagement“ und der „Einsatz verschiedener vertrauensbildender Maßnahmen“ (69) erforderlich war, vergleichsweise wenig Konkretes, was angesichts der vielfach betonten Schwierigkeit des Feldzugangs aber sicher spannend gewesen wäre. Wie ist etwa gelungen, einen gewissen Vertrauensvorschuss zu generieren, um Bordellbetreibern, Freiern, Prostituierten etc. zitierwürdige Aussagen zu entlocken? Weiterführende Analysen vorausgehender Gesprächsdynamiken hätten möglicherweise Aufschluss darüber geben können. Die Ausgangslage, dass sich zwei weibliche Forscherinnen einem Ort nähern, der üblicherweise Männer adressiert – und gerade Geschlecht doch als eine zentrale Kategorie der Untersuchung ausgegeben wird – wäre nicht zuletzt hinsichtlich der Interviewverläufe tiefer gehende Reflexionen wert gewesen. Stattdessen bleibt das Zustandekommen mancher Aussagen, wie etwa die eines befragten Polizisten, der gesteht: „Ich wollt's mal machen […] Ich trau mich nicht“ (140), weitgehend unhinterfragt.

Ein wenig irritierend wirkt zudem, dass manche Personen schlichtweg als „Experte“ in Erscheinung treten, ohne dass der Leser Aufschlussreiches darüber erfährt, was sie tatsächlich zu einem solchen macht. Irrelevant wäre dieses Hintergrundwissen jedenfalls nicht, schließlich sind Expertenaussagen auch und vor allem hinsichtlich des konkreten Zugangs zum Feld und der damit verbundenen Wissensbeständen ihrer Urheber auf je unterschiedliche Weise zu interpretieren. Die Tatsache, dass sich die Autorinnen, während sie mit dem Leser durch das Rotlichtmilieu stöbern, in auffallender Häufigkeit Interviewzitaten bedienen, führt einmal mehr das grundsätzliche „Risiko“ von Interviews ins Bewusstsein. Gemeinhin tendieren Befragte dazu, ihre Auskünfte an einer antizipierten sozialen Erwünschtheit auszurichten – nicht zuletzt, wenn sie in Feldern agieren, deren negative Reputation kein großes Geheimnis ist. Persönliche Interessen, wie das der Entzauberung aber auch der Manifestierung von Mythen spielen sicher eine Rolle, wenn es darum geht, sich möglichst positiv darzustellen bzw. so zu antworten, wie man denkt, dass andere es von einem erwarten.

Etwas ungewöhnlich erscheinen die häufigen Verweise auf Literaturquellen, die eher dem populärwissenschaftlichen Segment zuzuordnen sind. Angesichts der in letzter Zeit diversen zur Thematik erschienenen sozialwissenschaftlichen Werke wäre eine solche Maßnahme vermeidenswert gewesen. Es sei nur am Rande bemerkt, dass manche im Buch getroffene Aussage in der empirischen Beobachtung keine Bestätigung findet: Dass die Straßenprostitution „nahezu bedeutungslos“ (48) ist, trifft für das Bahnhofsviertel zumindest nicht zu und lässt sich darum schwer als Argument für eine Vernachlässigung im Buch ins Feld führen. Und auch an der Theodor-Heuß-Allee stehen (für jeden Vorbeifahrenden sichtbar!) weit mehr als nur „vereinzelt Frauen“ (53).

Ein wesentliches Merkmal des Frankfurter Bahnhofsviertels ist vor allem dessen rasche Wandelbarkeit. – Ein Umstand, der permanente Forschung lohnenswert macht, dem Buch (zwischen Abschluss der Recherchen und Publikation liegen drei Jahre) aber offenbar nicht zugute kommt. So haben viele der aufgeführten Zahlen (55) inzwischen an Aktualität eingebüßt. Hinzu kommt, dass seit 2008 neue Forschungsarbeiten, die sich mit dem Viertel und dem dort situierten Prostitutionsgewerbe eingehend beschäftigen, publiziert wurden, bedauerlicherweise aber nicht mehr berücksichtigt werden konnten, obschon sie eine sinnfällige Ergänzung gewesen wären.

Die aufgeführten Kritikpunkte schmälern das weitgehend positive Gesamtbild des Buches jedoch nur partiell.

Fazit

Ein insgesamt guter Einblick in ein spannendes Thema, der viele Informationen bereit hält, viele Fakten vermittelt und viele Fragen aufwirft – manche davon allerdings unbeantwortet lässt.

Rezension von
Matthias Meitzler
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Es gibt 14 Rezensionen von Matthias Meitzler.

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ISSN 2190-9245