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Wilhelm Heitmeyer, Jürgen Mansel et al. (Hrsg.): Individualisierung von Jugend

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Beck, 10.04.2012

Cover Wilhelm Heitmeyer, Jürgen Mansel et al. (Hrsg.): Individualisierung von Jugend ISBN 978-3-7799-1759-5

Wilhelm Heitmeyer, Jürgen Mansel, Thomas Olk (Hrsg.): Individualisierung von Jugend. Zwischen kreativer Innovation, Gerechtigkeitssuche und gesellschaftlichen Reaktionen. Juventa Verlag (Weinheim) 2011. 290 Seiten. ISBN 978-3-7799-1759-5. 24,95 EUR.
Reihe: Jugendforschung.

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Thema

Wie hat sich Jugend als Lebensphase in den letzten Jahren verändert? Dieser Frage gehen die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes nach, sowohl aus theoretischer als auch in vielen Beiträgen aus empirischer Sicht. Mit dem Fokus auf Individualisierung greift der Sammelband ein Stichwort auf, das nunmehr seit zwei Jahrzehnten die Diskussionen prägt – hier nun aber soll den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Bedingungen Rechnung getragen werden, die sich seither verändert haben und die den Rahmen bestimmen. Den Herausgebern geht es dabei darum, eine durch Theorie geleitete Jugendforschung fortzusetzen.

Herausgeber und AutorInnen

Die Professoren Dr. Heitmeyer und Dr. Mansel sind tätig am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, Professor Dr. Olk arbeitet an der Fakultät Erziehungswissenschaften der Universität Halle-Wittenberg. Rund die Hälfte der AutorInnen gehört der Universität Bielefeld an, die auch für ihre Arbeiten zur Jugendforschung bekannt ist.

Entstehungshintergrund

Die Herausgeber schließen an einen Sammelband an, der 1990 ebenfalls unter dem Titel „Individualisierung von Jugend“ erschienen war, herausgegeben von Heitmeyer und Olk (Weinheim/München: Juventa). Inwieweit die damaligen Vorhersagen eingetroffen sind, soll der jetzige Sammelband prüfen, und zwar speziell, inwiefern das Theorem der Individualisierung noch trägt.

Aufbau

Auf eine Einleitung der Herausgeber („Individualisierung heute“) folgen vierzehn Beiträge, die fünf Teilen zugeordnet sind:

  1. „Bildung“;
  2. „Arbeit“;
  3. „Freizeit, Kultur und Medien“;
  4. „Problemverhalten“, hier: Gewalt;
  5. „Zukunft der Jugendforschung“.

Der kürzeste Teil ist der zum Thema „Arbeit“, der umfangreichste derjenige über „Freizeit, Kultur und Medien“ – er ist mehr als zweieinhalbmal so lang und gibt damit eine interessante Akzentuierung zu erkennen.

Inhalt

Die Herausgeber ziehen schon in ihrer Einleitung eine Art Fazit: „Ausdifferenzierung, Individualisierungund Heterogenisierungsind drei Kernbegriffe, die die Signaturen der Jugendphase bestimmt haben und bestimmen werden.“ (S. 21; Hervorhebungen im Original) Im Zeitvergleich seien jedoch zwei bezeichnende Eigenschaften dazugekommen: Die eine zeige sich als „Verdichtung der leistungsbezogenen Anforderungen“, die andere Eigenschaft erscheine als „Vernichtung von jugendgemäßen Experimentierräumen“, sei es in Schule oder Arbeitswelt (S. 24; Hervorhebungen im Original).

Nach Ansicht der Herausgeber könnte zudem eine Art „Standardisierung“ in neuer Gestalt am Werk sein: eine Standardisierung, die auf „stromlinienförmige Einzelkarrieren“ drängt (ebd., Hervorhebung im Original). Diese wären ökonomisch angefacht, ständen unter dem Druck zur Beschleunigung und nähmen einen unsicheren Ausgang.

Anknüpfen lässt sich hieran beispielsweise, wenn man das Thema „Jugend und Arbeit“ (Sandra Buchholz/Hans-Peter Blossfeld) verfolgt: Im Untertitel ist hier die Rede von einer „wachsende[n] Beschäftigungsflexibilisierung“ und von „Erwerbsrisiken“, die empirisch nachgewiesen werden. Es lässt sich zeigen, dass am stärksten junge Menschen solchen Risiken und Unsicherheiten ausgesetzt sind. Damit gerät auch die Lösung aus der materiell-ökonomischen Abhängigkeit von der Herkunftsfamilie als problematisch in den Blick (Christine Wiezorek/Sebastian Stark) - eine Perspektive, die hier allerdings nur heuristisch skizziert wird.

Betrachtet man die vorausgehende schulische Sozialisation, wird indes das Unterstützungspotential gerade der Familie wichtig sowie weiterer Instanzen des sozialen Nahraums. Dem geht eine Studie nach, die sich der Bildungsaspiration von HauptschülerInnen widmet (Marius Harring/Oliver Böhm-Kasper). Der andere Beitrag dieses Teils untersucht, wie SchülerInnen verschiedener Schularten ihre Möglichkeiten einschätzen, den schulischen Alltag zu gestalten – und damit ein Stück individuelle Lebensführung zu realisieren (Mansel).

Solche Individualisierung lässt sich mit der allgegenwärtigen Mediatisierung in Verbindung bringen. Gefragt wird hier, welche „Nutzungspotenziale und welche Risiken […] im Kontext von Entwicklung für Jugendliche einhergehen“ (Dagmar Hoffmann, S. 97). Die Autorin befasst sich speziell mit der Identitätsbildung durch Kommunikation in digitalen Räumen. Ebenfalls auf der Basis vorliegender Studien referiert Georg Neubauer über „Sexualität im Jugendalter“, wobei er sich auch mit dem Thema Sexualaufklärung befasst.

Der soeben angesprochene Teil zu „Freizeit, Kultur und Medien“ beinhaltet ferner drei Beiträge, die sich auf empirischer Grundlage politischen Aspekten widmen: den „generationenspezifische[n] Verarbeitungen ökonomischer und gesellschaftlicher Anforderungen und deren Folgen für politische Orientierungen“ (Heitmeyer/Eva Groß/Daniela Krause, Untertitel); den Möglichkeiten, die das Internet Jugendlichen bietet, politisch zu agieren (Viktoria Spaiser); und den „Motivstrukturen und Gruppeneinbindungen jugendlicher Globalisierungskritiker“, die 2007 erfragt wurden während des G8-Gipfels in Heiligendamm (Arne Schäfer/Renate Möller, Untertitel).

Das Thema Gewalt im folgenden Teil wird einmal unter einer eher empirischen und einmal einer eher theoretischen Perspektive angegangen. Peter Sitzer untersucht, „unter welchen Voraussetzungen Jugendliche sich mit Gewalt Anerkennung verschaffen“, wofür er sich auf die Biografien von jugendlichen Gewalttätern bezieht (S. 179). Öffentliche Diskurse über Gewalt werden von Jens Luedtke rekonstruiert: Was beabsichtigen sie, mit welchen Attributen sind sie verbunden, und inwiefern stimmen sie mit dem Gewalthandeln Jugendlicher überein?

Im letzten Teil, der einer künftigen Forschungsperspektive gilt, räumt Hans Merkens „dem Thema soziale Ungleichheitfür die Jugendforschung eine zentrale Position“ ein (S. 221, im Anschluss an Fanny Tamke; Hervorhebung C.B.). Es passt hierzu, dass der folgende Beitrag vorschlägt, die „theoretische Anleihen […] stärker als bisher in gerechtigkeitstheoretischen Angeboten zu suchen“ (Sabine Andresen, S. 224). Auch der letzte Beitrag weist in ähnliche Richtung, indem er rät, einen „Fokus auf objektive Verwirklichungschancen“ zu legen – nicht zuletzt aus einer kritischen Bewertung der gegenwärtigen Individualisierungsdebatte heraus (Holger Ziegler, S. 234).

Diskussion

Individualisierung wird in vielen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes als Thema aufgenommen: in der Frage, ob Schule Potenziale der Individualisierung zerstört oder Barrieren für eine Individualisierung aufrichtet; in der Frage, wie sich Sozialisation durch Individualisierungsprozesse verändert hat; in Fragen der individualisierten Mediennutzung und eines individualisierten Jugendprotests – oder in der Verschränkung des Individualisierungstheorems mit anderen Konzepten, wie Subjekt- und Anerkennungstheorien oder dem Agency-Konzept. In der Summe sind dies jedoch Facetten, die keinen integrierten theoretischen Entwurf darstellen.

Das Interesse wird somit beim Lesen eher auf Einzelbeiträge gerichtet – vor allem auf die aktuellen empirischen Studien der AutorInnen, die hier komprimiert vorgetragen werden. Dass dem Sammelband eine stärkere Integration fehlt, zeigt sich auch darin, dass der Teil „Freizeit, Kultur und Medien“ stückweise ein Sammelbecken darstellt und sein Umfang daher nicht notwendig einen Beleg für das Vorherrschen dieses thematischen Rahmens abgibt.

Fazit

Mit „Individualisierung“ knüpft der Sammelband an ein eingeführtes Theorem der Jugendforschung an. Er kann die Berechtigung dieses Theorems auch angesichts aktueller gesellschaftlicher Veränderungen grundsätzlich aufzeigen; daraus ergibt sich jedoch kein systematisch abgerundeter Entwurf. Die Beiträge setzen sich aus verschiedenen Teilperspektiven der Jugendforschung mit Individualisierung auseinander – in recht unterschiedlicher Art und Ausmaß. So bietet der Sammelband eher den Anreiz, je nach Interesse den einen oder anderen Beitrag auszuwählen.

Rezension von
Prof. Dr. Christian Beck
Pädagogische Forschung und Lehre
Website

Es gibt 53 Rezensionen von Christian Beck.

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Zitiervorschlag
Christian Beck. Rezension vom 10.04.2012 zu: Wilhelm Heitmeyer, Jürgen Mansel, Thomas Olk (Hrsg.): Individualisierung von Jugend. Zwischen kreativer Innovation, Gerechtigkeitssuche und gesellschaftlichen Reaktionen. Juventa Verlag (Weinheim) 2011. ISBN 978-3-7799-1759-5. Reihe: Jugendforschung. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12510.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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