Oliver Kozlarek: Moderne als Weltbewusstsein
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 26.01.2012
Oliver Kozlarek: Moderne als Weltbewusstsein. Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne.
transcript
(Bielefeld) 2011.
321 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1696-5.
31,80 EUR.
Reihe: Der Mensch im Netz der Kulturen - Band 14.
Humanismus und Kritik = Weltbewusstsein
Als das Europäische Parlament in Straßburg vom 21. – 22. 11. 1991 ein Symposium zum Thema „Weltkultur und Europa – ein Dialog der Zivilisationen“ veranstaltete (vgl. dazu: UNESCO-Kurier 7/8-1992), da ging es vor allem um die Frage, ob und inwieweit „Universalität eine europäische Vision“ darstellt, wie sich die Janusköpfigkeit des europäischen Werdens und der Machtentwicklung (Enrique Barón Crespo) auf die Forderungen nach universeller Ethik (Karl-Otto Apel), auf die sich in der interdependent entwickelnden Welt „vielschichtige Universalität“ auswirkt (Sami Naïr), sich als „gemeinsame Grundzüge der Menschheit“ identifizieren lässt (Mahmoud Hussein), in kolonialen und neokolonialen Imperialismen und Dominanzen auftauchen (Ahmadou Kourouma), als Freiheitsbegriff die Grenzen des Kalten Krieges sprengt (Antonin Liehm), sich in den Fragen nach den kulturellen Quellen wiederfindet (Ernesto Sábato) und im europäisch-asiatischen Dialog artikuliert (Wang Bin). Es waren zweifelsohne drängende Fragen, die auch als eine Antwort auf die Foucaultsche Klage verstanden werden können, man könne in unserer heutigen Zeit (1971) nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Seitdem hat sich ohne Zweifel bei den europäischen und globalen Denk-, Such- und Argumentationsprozessen einiges getan. Die Suche nach der Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen (Jörn Rüsen / Henner Laasser, Hrsg., Interkultureller Humanismus, 2009, in: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/8537.php), und die Fragen nach dem Menschsein in der Moderne werden drängender (Jörn Rüsen, Hrsg., Perspektiven der Humanität. Menschsein im Diskurs der Disziplinen, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10385.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Der anthrôpos, der sich vom zôon, dem Tier, nicht nur dadurch unterscheidet, dass der Mensch ein sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen ist, sondern auch Anteil am unvergänglichen und göttlichen Geist hat. Er ist somit fähig, seinen Lebensraum human zu gestalten; so jedenfalls Aristoteles in seiner Ethik und Metaphysik. Das philosophische Nachdenken darüber, was der Mensch ist und wie er als menschliches Gemeinschaftswesen in der Welt existieren sollte, zieht sich durch die ganze Menschheitsgeschichte. Die Spannweite reicht dabei von der Fähigkeit des Menschen als Schöpfer, bis hin zum Zerstörer. Der Welterforscher Alexander von Humboldt hat die Suche nach dem Menschsein in einem (intakten) Lebensraum als „Weltbewusstsein“ bezeichnet, dass die Menschheitsfamilie in Einer Welt lebt und diese allen Menschen gehört. Die Frage, wem gehört die Welt? (vgl. dazu: Heinrich-Böll-Stiftung / Silke Helfrich, Hrsg., Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/7908.php), wie auch: Wer regiert die Welt? (Ian Morris, Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12186.php) treibt uns Menschen ja in unserem alltäglichen, lokalen und globalen Denken und Tun um. Und je nach Reflexionsgrad und Intellekt fällt auch die Antwort aus.
Der Sozialwissenschaftler Oliver Kozlarek von der Universidad Michoacana in Morelia / Mexiko, ist ein Weltensucher, der in den Geistes- und Kulturwissenschaften für eine „kulturelle Wende“ hin zu einem neuen humanistischen Denken wirbt, bei dem es darauf ankommt, in der wissenschaftlichen Forschung auf die „Kenntnis von den Menschen, die unsere Welt bewohnen, und ihren Kulturen inspiriert werden“ zu setzen. In der Zusammenschau von Humanismus und Kultur entwickelt der Autor eine humanistische Sozialtheorie für die globale Moderne, indem er „die Moderne … als planetarischen Zustand menschlicher Beziehungen“ begreift.
Aufbau und Inhalt
Kozlarek gliedert seine Studie in elf Kapitel.
Im ersten Teil reflektiert er den Weltbegriff, indem er die Dimensionen „Mensch“, „Erde“ und das „aktuelle Zeitalter“ und „Weltbewusstsein als sozialtheoretische Herausforderung“ formuliert und semantisch, historisch und gegenwärtig die Frage nach den Weltbildern stellt, die sich in den verschiedenen Sozialtheorien niederschlagen. Dabei geht es darum, den Beweis anzutreten, dass „eine auf ‚Welt‘ eingestellte Sozialtheorie in der Lage zu sein verspricht, einige der konventionellen Annahmen, die die sozialtheoretischen Debatten plagen, auf die Probe zu stellen“.
Im zweiten Kapitel diskutiert der Autor zwei kognitive Modelle für eine globale Moderne: „Cosmopolis und Weltbewusstsein“. Beiden Theorien ist gemeinsam, dass sie die Welt planetarisch begreifen, jedoch in der einen Variante der Betrachtung des „Lokalen“ und des „Allgemeinen“ (Stephen Toulmin) sich verdeutlicht, in der anderen sich in der Wahrnehmung eines „planetarischen Netzwerkes von Beziehungen“ artikuliert (Alexander von Humboldt), und damit die herausgehobene Bedeutung von Erfahrung und eines transdisziplinären Wissenschaftsdenkens hervorhebt.
Weil in den soziologischen Forschungen sich beide Welt(bild)modelle in den etablierten Modernisierungstheorien wiederfinden und unterschiedlich, ideologisch oder zeitkritisch, wahr genommen werden, wird die Frage – „Inwieweit hat die Entdeckung, Eroberung und Kolonisierung der Welt das Denken der Moderne bis in die aktuellen Sozialtheorien hinein beeinflusst? – im dritten Kapitel thematisiert;
und im vierten Kapitel in vier bedeutsamen wissenschaftlichen Debatten ausgebreitet: Die Debatte um die Postmoderne, die Globalisierungsdebatte, die Debatte über die Vielfalt der Moderne und schließlich die des Postkolonialismus. Es sind die jeweils vorfindbaren historischen und gesellschaftlichen Erfahrungen, die eine mögliche Antwort auf die oben gestellte Frage geben und Grundlage für eine „andere“ Modernisierungstheorie“ sein können.
Das fünfte Kapitel titelt Kozlarek als „humanistische Wende“, die im soziologischen Diskurs sich vollzog; mit Niklas Luhmanns „Komplexität des Gegenstandes, mit der „Negation des Menschen in der Sprache der Soziologie“, sich in der „Krise des Humanismus“ zeigte und schließlich in der Edward W. Saidschen humanistischen und kulturellen Wende verdeutlicht; nämlich die Einbeziehung der Erfahrungen der Menschen überall in der Welt; und, was den philologischen Anspruch einer humanistischen Methode gerecht wird: die pädagogische Herausforderung in der Epoche der Globalisierung, wie sie etwa von der US-amerikanischen Philosophin Martha C. Nussbaum als interkulturelle Kompetenz gefordert wird.
„Erfahrung“ ist also die Leitlinie, die hinführen soll zu einer „Soziologie menschlicher Erfahrungen“, wie dies in verschiedenen Denkrichtungen und Konzepten im sechsten Kapitel ausgebreitet wird; etwa in Walter Benjamins Paradigma von Erfahrung und Erzählung, in James Cliffords Hinweis darauf, dass „Weltbewusstsein als Übersetzungskultur“ zu verstehen sei, sich in der Sozialtheorie des portugiesischen Soziologen Bouaventura de Sousa Santos als „Kritik an der Kritischen Theorie“ darstellt, sich beim US-amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein als kritische Theorie der Globalisierung ausdrückt und schließlich im Nord-Süd- und Süd-Süd-Diskurs deutlich wird (vgl. dazu z. B. auch: „Das Überleben sichern“. Bericht der Nord-Süd-Kommission, 1980, sowie: „Die Herausforderung des Südens“. Der Bericht der Südkommission, 1991).
Die lateinamerikanischen Erfahrungen von Oliver Kozlarek werden im achten Kapitel deutlich, wenn er über „zwei soziologische Traditionen in Lateinamerika“ informiert; nicht ohne das Bedauern zum Ausdruck zu bringen, dass die lateinamerikanischer Erfahrungen im europäischen und US-amerikanischen Diskurs um die Modernisierungstheorien kaum zur Kenntnis genommen wurden. Der Autor zeigt einerseits die „Krise der mexikanischen Soziologie“ und der Diskussion um die Moderne in seinem Land auf, andererseits aber verweist er auch auf interessante und weiterführende Denkrichtungen für einen „mexikanischen Humanismus“.
Der mexikanische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Octavio Paz Lozano (1914 – 1998) wird von Kozlarek als Zeuge dafür genommen, dass man in seinen literarischen und poetischen Arbeiten auch eine „kritische Soziologie“ heraushören kann, wie er dies im neunten Kapitel diskutiert. Weil „Soziologie ( ) der selbstreflexive Diskurs moderner Gesellschaften (ist)“, lassen sich aus Octavio Paz‘ Arbeiten Denkstrukturen filtern und gesellschaftliche Handlungsanweisungen lesen, die sich als „Kritik an der zeitlichen Logik der Modernisierungs- und Revolutionstheorien“ (in Lateinamerika) darstellen: „Der Revolutionär ist ein Philosoph oder wenigstens ein Intellektueller: ein Mann der Ideen“, wie auch der Alternativen!
„Von der poetischen Erfahrung zur poetischen Soziologie“, so verdeutlicht Kozlarek das zehnte Kapitel. Es ist die Auseinandersetzung darüber, wie die einzelnen Kulturen und Gesellschaften mit den Unterschieden von „Welt“ und „Mensch“ umgehen, sie kultivieren und institutionalisieren. Die Kritik am modernen Zeitverständnis bei Octavio Paz verdeutlicht sich – in seinen literarischen Arbeiten wie in seinem gesellschaftlichen Engagement – vor allem darin, dass „die Moderne … in ganz entscheidendem Maße das Zusammenwachsen der Welt“ darstellt, sich von der „conditio humana“ zur „condición mexicana“ entwickelt und sich damit als „Labyrinth (post)kolonialer Erfahrungen“ darstellt.
Die Reflexionen und regionalen und globalen Vergleichsarbeiten, die Oliver Kozlarek vornimmt (vgl. dazu auch: Philip Thelen, Vergleich in der Weltgesellschaft. Zur Funktion nationaler Grenzen für die Globalisierung von Wissenschaft und Politik, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12557.php), fasst er im elften und letzten Kapitel des Buches zusammen, indem er „Weltbewusstsein, Humanismus und Kritik als Orientierungshilfen einer kommenden Weltsoziologie“ skizziert. Sie orientieren sich an den diskutierten menschlichen Erfahrungen, wie sie in den aufgezeigten Dimensionen zum Ausdruck kommen: Weltbewusstsein, Humanismus, Kritik. Und sie projektieren eine wissenschaftliche, soziologische Denke, die bestimmt ist von der hoffnungsvollen Erwartung: „Es scheint so, als hätten die kulturellen Projekte, die sich heute ankündigen, das Ziel, uns die Kulturen zu zeigen, die andere Völker produzieren, damit wir von ihnen lernen und damit wir uns mit ihnen bereichern, um so gemeinsam den Herausforderungen unserer gemeinsamen Welt zu begegnen“.
Fazit
Die „Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne“, wie sie von Oliver Kozlarek formuliert werden, stellen sich als überraschende Einblicke in das soziologische, philosophische und literarische Denken in der „Peripherie“ dar; und sie gewinnen Brückencharakter für das, was uns die Verfasser der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) in die Präambel der „globalen Ethik“ geschrieben haben: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechten (bilden) die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 26.01.2012 zu:
Oliver Kozlarek: Moderne als Weltbewusstsein. Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne. transcript
(Bielefeld) 2011.
ISBN 978-3-8376-1696-5.
Reihe: Der Mensch im Netz der Kulturen - Band 14.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12558.php, Datum des Zugriffs 06.11.2024.
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