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Gertraud Marinelli-König, Alexander Preising (Hrsg.): Zwischenräume der Migration

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 25.01.2012

Cover Gertraud Marinelli-König, Alexander  Preising (Hrsg.): Zwischenräume der Migration ISBN 978-3-8376-1933-1

Gertraud Marinelli-König, Alexander Preising (Hrsg.): Zwischenräume der Migration. über die Entgrenzung von Kulturen und Identitäten. transcript (Bielefeld) 2011. 288 Seiten. ISBN 978-3-8376-1933-1. 32,80 EUR.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.

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Migration, Mobilität, Pluralisierung, Hybridisierung…

Migration ist das Drängendste der Welt, aber gleichzeitig das Selbstverständlichste – weil der Mensch als „zôon kinêseôs“ schon immer unterwegs war (vgl. dazu: Jörg Gertel / Sandra Calkins, Hrsg., Nomaden in unserer Welt. Die Vorreiter der Globalisierung. Von Mobilität und Handel, Herrschaft und Widerstand, 2011, in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/12663.php). Erst langsam und zögerlich setzt sich im öffentlichen Bewusstsein der Menschen durch, dass Migration, sowohl als freiwilliger Aufbruch zu neuen Lebensinhalten, als auch als erzwungene, räumliche und physische Veränderung kein Drama bedeutet, das Abwehrreaktionen erforderlich machte und Furcht erzeugen muss, sondern die Bereitschaft erfordert(e), ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass wir Menschen auf der Erde in EINER WELT leben, aufeinander angewiesen und als zôon poliikon (Aristoteles) auch in der Lage sind, human, friedlich und gerecht zusammen zu leben. Die Suche nach der globalen Ethik, wie sie uns in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (10. 12. 1948) in der Präambel aufgegeben ist, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“, bedarf eines immerwährenden und immer wieder neuen Denk- und Handlungsantriebs.

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

„Migration, Mobilität, Pluralität / Hybridisierung als aufeinander bezogene Phänomene… (sind ) im zentraleuropäischen Raum keineswegs neuartig ( ) “, das ist keine neue Erkenntnis, sondern wird in der Migrationsforschung immer wieder betont; wenn auch die rapide, interdependent und entgrenzend sich entwickelnde Welt neue Formen und Zustände der Wanderungsbewegungen der Menschen hervorgebracht hat und zu Denkmustern herausfordert, die nicht alleine das „Wir“ und die „Anderen“ als Maßstab des Zusammenlebens betrachten, sondern Solidarität in hybride und transkulturelle Selbstverständlichkeit und „Kultur als Pluralisierung möglicher Identitäten“ erkennen (vgl. dazu: Wolfgang Gippert, u.a., Hrsg., Transkulturalität. Gender- und bildungstheoretische Perspektiven, 2008, in: www.socialnet.de/rezensionen/7090.php und „Humanismus im Zeitalter der Globalisierung“ einfordern (Jörn Rüsen / Henner Laass, Hrsg., Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8537.php).

Die Österreichische Akademie der Wissenschaften hat 2009 im Rahmen der Forschungsprogramme „Orte des Gedächtnisses“ und „Translation“ eine internationale Konferenz durchgeführt, bei der insbesondere die historischen und aktuellen Fragestellungen zu den Zusammenhängen von Migration und Mobilität aus Gegenwartsperspektive diskutiert wurden. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Gertraud Marinelli-König und der Projektmitarbeiter am Institut für Sprachwissenschaften der Universität Wien, Alexander Preisinger, legen den Tagungsband vor.

Aufbau

Der Sammelband wird in drei Kapitel gegliedert:

  1. „Migration als Herausforderung für die Identitätsforschung“,
  2. „Historische Perspektiven“ und
  3. „Migration und Kunst“.

Es sind die Herausforderungen der „Gleichzeitigkeit der ungleichen Zugänge“, die auch die Gesellschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschungen zu neuen Denk- und Handlungsformen veranlassen, insbesondere die Frage, wie die Hybriditätskonzepte reflektiert und adäquat in die Forschungsperspektiven gebracht werden können.

Zu Kapitel 1

Der Soziologe von der Universität Helsinki, Peter A. Kraus, thematisiert in seinem Beitrag „Komplexe Vielfalt und Identitätspolitik in Europa“. Er plädiert dafür, den Begriff der (kulturellen) Vielfalt komplex zu verstehen und sich bewusst zu machen, dass „kulturelle Identitäten und soziale Spaltungslinien in veränderlichen Formen als sich überlappend und ineinander verflochten erscheinen“.

Der Innsbrucker Erziehungswissenschaftler Paul Mecheril (vgl. dazu auch: ders., u.a., Migrationspädagogik, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9383.php) stellt „Hybridität, kulturelle Differenz und Zugehörigkeiten als pädagogische Herausforderung“ dar. Er plädiert dafür, „natio-ethno-kulturelle() Mehrfachzugehörigkeit(en) als Beitrag zur Anerkennung der Disponiertheit… wahr(zu)nehmen und dar(zu)stellen… und (damit) zur Kultivierung eines flexiblen und kontextsensiblen Habitus bei(zu)tragen“.

Barbara Herzog-Punzenberger vom Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens diskutiert „Differenzachsen und Grenzziehungsmechanismen“, um damit für ein Verständnis von gesellschaftlichen Einflüssen auf Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund zu werben.

Die Soziologin der Grazer Karl-Franzens-Universität, Katharina Scherke, verdeutlicht in ihrem Beitrag „Transnationalität als Herausforderung für die soziologische Migrationsforschung“, dass die Veränderungen der (Forschungs-)Betrachtungen von den transnationalen hin zu hybriden Identitäten eines Blickwechsels auch in der Forschung erforderlich machen und das „Denken in Differenzen“ (Clemens Dannenbeck) einzuüben.

Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie / Kulturwissenschaft der Philipps-Universität Marburg, Karen Körber, diagnostiziert „Nähe und Distanz“ am Beispiel von transnationalen Familien in der Gegenwart die sich verändernden individuellen und gesellschaftlichen Veränderungen der Familialität,

Zu Kapitel 2

Im zweiten Kapitel werden in mehreren Beiträgen Fragen der historischen Entwicklung und Perspektiven eines nie festgelegten und ideologisch eingemauerten, sondern offenen und sich permanent verändernden Migrationsprozesses. Der Grazer und Wiener Historiker Moritz Csasky artikuliert mit seinem Beitrag „Migration – Kultur“ Entstehungs- und Entwicklungslinien von urbanen Milieus in der Moderne. Die insbesondere seit dem 19. Jahrhundert sich in Zentraleuropa vollziehenden Mobilitäten sind Ergebnisse der sozioökonomischen Transformationsprozesse, die zu individuellen und kollektiven Mehrfachidentitäten geführt haben.

Die Baseler Kulturwissenschaftlerin Stefanie Mahrer zeigt am Beispiel der jüdischen Uhrmacher in der Schweiz im 19. Jahrhundert Formen und Entwicklungen von „Migration und Verbürgerlichung“ auf. Es sind die positiven und negativen Wirkungen, Schub- und Zugkräfte von Tradition, Religion und Gesellschaftsherkunft und -ankunft, die das historische Beispiel interessant für Reflexionen und Entwürfe auch heute machen.

Peter ?oltés vom Historischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften in Bratislava berichtet über „Migration und konfessionelle Pluralität an der nordöstlichen Peripherie des Königreichs Ungarn im 17. und 18. Jahrhundert“. Es sind insbesondere die Irritationen, Machtansprüche und Regularien in der interreligiösen Kommunikation zwischen den eingesessenen und zugezogenen Dorfbewohnern und den Obrigkeiten, die Ablehnung, aber in stärkerem Maße „religiöse( ) Toleranz und Resistenz gegenüber den konfessionellen oder nationalen Homogenisierungsbestrebungen charakteristisch war“.

Die Leipziger Literaturwissenschaftlerin Ute Raßloff findet im ehemaligen Oberungarn, der heutigen Slowakei, „Migration der Zeichen und kulturelle Interferenz“, indem sie am Beispiel der Geschichte des Karpatenräubers Juraj Jáno?ik (1688 – 1713) zum späteren slowakischen Nationalhelden erstaunliche Merkmale der „Zeichen“ findet und sie einordnet in den historischen, wie durchaus auch aktuellen Zusammenhang.

Zu Kapitel 3

Im dritten Kapitel geht es um Darstellungsformen und Identitätsmerkmale, wie sie sich im literarischen und künstlerischen Schaffen darstellen (vgl. dazu auch: Marie-Hélène Gutberlet, u.a., Hrsg., Die Kunst der Migration. Aktuelle Positionen zum europäisch-afrikanischen Diskurs, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11665.php). Der österreichische Autor russisch-jüdischer Herkunft, Vladimir Vertlib, verarbeitet in seinen Romanen auch seine eigenen Migrationserfahrungen. Bei den Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2006 hat er diese in dem Buch „Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur (2007) formuliert. Es sind überwiegend nicht „interessante“ biographische Erlebnisse von Migrantinnen und Migranten, die der Autor bemerkenswert findet, sondern viel öfter die „trostlosen“ und nur schwer zu vermittelnden Lebenswege während des Migrationsprozesses.

Die Literaturwissenschaftlerin der Universität Salzburg, Eva Hausbacher, äußert sich mit ihrem Beitrag „Mimikry, Groteske, Ambivalenz“ zur Ästhetik transnationaler Migrationsliteratur. In der sich stetig entwickelnden Literatur von Migrantinnen und Migranten stellt die Autorin einen Paradigmenwechsel hin zu ästhetischen Paradigmen im Zeichen der Transkulturalität fest.

Der Münchner und Wiener Philologe und Kulturwissenschaftler Michael Rössner fragt, welche Identifizierungs-, Systematisierungs- und Verortungstendenzen in der Literaturwissenschaft vorherrschen und wie sie sich anhand der literarischen, territorialen und typisierenden Verortungen bei den Begrifflichkeiten „Migration, Exil und Diaspora in der neuesten Literatur“ zeigen und sich gewissermaßen als „dritte Räume“ etablieren.

Die Sozialwissenschaftlerin Kristina Toplak aus Ljubjana berichtet über Konzepte und Erfahrungen bei der Pluralisierung von Ideen, kulturellen Praktiken und Kunstformen „zwischen den Kunstwelten von Buenos Aires und Ljubjana. Sie nimmt eine Kulturausstellung zum Anlass, bei der die beiden in Argentinien lebenden und arbeitenden Künstler Adriana Omahna und Ivan Bukovec ihre Migrationserlebnisse und -erinnerungen und die von slowenischen Einwanderern und deren Nachkommen darstellen. Dabei identifiziert die Autorin neben signifikanten Unterschieden im künstlerischen Schaffen auch Gemeinsamkeiten, die sich auf Migrationsherkünfte zurückführen lassen, wie „symbolische Bedeutung von Ortsveränderung, Exil und hybrider interkultureller Identität“.

Die an der Universität der Künste in Berlin tätige Musikethnologin Christa Brüstle beschließt den Sammelband mit ihrem Beitrag „Zerstörte Instrumente“, indem sie über Verlust und Gewinn durch musikalische Migration reflektiert. An Fallbeispielen, etwa von lateinamerikanischen Musikern, die sich in Berlin niederließen und in ihrer Arbeit sowohl authentische Quellen, als auch experimentelle Formen ihres musikalischen Schaffens benutzen. Dadurch wird „Verlust“, der sich aus der Migration ergibt, gleichzeitig zu einer ästhetisch neuen Kategorie, ein „neues Drittes“.

Fazit

Wenn Migrationsprozesse inter-, transkulturelle und hybride Formen der Identität hervorbringen und Hybridität als angeborene, gewachsene und entwickelte Vielfalt menschlichen Zusammenlebens bezeichnet werden kann, muss endlich der Perspektivenwechsel von der Push- und Pull-Betrachtung weg und hin zu den Selbstverständlichkeit der menschlichen Vielfalten und Unterschiede vollzogen werden. Die Autorinnen und Autoren der Wiener Internationalen Konferenz vom 7. bis 9. 10. 2009 haben in differenzierter und interdisziplinärer Weise deutlich gemacht, dass Migration, Mobilität, Pluralisierung und Hybridisierung auf einander bezogene Phänomene sind, die es gilt, im Diskurs der Migrationsforschung deutlicher als bisher zu berücksichtigen, und zwar in der Theorie wie in der zivilgesellschaftlichen Praxis.

Exkurs

Die im Forschungsdiskurs vorgelegten Konzepte, Perspektiven und Bestandsaufnahmen zur Migrationsthematik sind vielfältig. Sie zeigen (auch), dass sich ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass Migrantinnen und Migranten nicht als Störer und Verunsicherer, sondern als Sicherer und Vervollständiger der eigenen, kulturellen Identität zu betrachten sind. Im folgenden wird deshalb auf einige ausgewählte wissenschaftliche Arbeiten aufmerksam gemacht, die im Rezensionsdienst von Socialnet vorgestellt werden:

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1667 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 25.01.2012 zu: Gertraud Marinelli-König, Alexander Preising (Hrsg.): Zwischenräume der Migration. über die Entgrenzung von Kulturen und Identitäten. transcript (Bielefeld) 2011. ISBN 978-3-8376-1933-1. Reihe: Kultur und soziale Praxis. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12559.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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