Ruth Großmaß, Gudrun Perko: Ethik für soziale Berufe
Rezensiert von Prof. Dr. Anton Schlittmaier, 27.01.2012

Ruth Großmaß, Gudrun Perko: Ethik für soziale Berufe.
Verlag Ferdinand Schöningh
(Paderborn) 2011.
200 Seiten.
ISBN 978-3-8252-3566-6.
D: 19,90 EUR,
A: 20,50 EUR,
CH: 28,90 sFr.
Reihe: UTB - Nr. 3566.
Thema
Ethik auf der einen sowie Moral und Recht auf der anderen Seite stehen in einem komplexen Verhältnis. Es kann von Affirmation von Moral und Recht bis Kritik reichen. Soziale Berufe orientieren sich an Fachwissen sowie an Recht und Moral. Das Lehrbuch von Großmaß und Perko fokussieren auf diesen Komplex von Orientierungsgrößen und führt die Ethik als Reflexion ein. Das zuerst einmal für selbstverständlich gehaltene soll auf seine Berechtigung, Angemessenheit oder Legitimität hin befragt werden.
Großmaß und Perko verstehen dabei Ethik nicht nur als wissenschaftliche Disziplin, sondern wesentlich als Ethos, das die Fachkraft im Rahmen von Lernprozessen zu einem Habitus ausbilden soll.
Das Lehrbuch wendet sich an alle sozialen Berufe (z.B. Sozialpädagogen und Sozialarbeiter, Ergotherapeuten, Erzieher, Berater, Supervisoren usw.).
Autorinnen
Ruth Großmaß ist Pädagogin, Germanistin und Philosophin. Sie lehrt an der Alice Salomon Hochschule in Berlin u.a. Ethik im Studiengang Soziale Arbeit.
Gudrun Perko ist Philosophin und Sozialarbeiterin. Sie arbeitet freiberuflich in der Erwachsenenbildung und ist derzeit Gastprofessorin an der Fachhochschule Potsdam. Zuständig ist sie für die Bereiche Gender und Diversity Management.
Entstehungshintergrund
Weit verbreitet ist die Erfahrung, dass in sozialen Berufen ethische Fragestellungen (z.B. die Frage nach dem Guten) als weitgehend überflüssig angesehen werden. Das, was durch soziale Berufe im positiven Sinne angestrebt wird, erscheint selbstverständlich. Durch die Berufswahl, so eine häufige Meinung, habe man sich als „sozial“ ausgewiesen und entscheide so per se im Sinne des moralisch Richtigen oder Guten.
Die Autorinnen argumentieren gegen diese Ideologie der Selbstverständlichkeit des Moralischen. Gerade in Zeiten der Pluralität, der Diversität und der Globalisierung ist das Moralische nicht mehr selbstverständlich. Es bedarf der Begründung und insbesondere des Diskurses oder des Dialoges. Mit dem Konzept des Ethical Reasoning beziehen sich die Autorinnen genau auf diese gesellschaftliche Situation. In Reflexion und Dialog sollen Professionelle sozialer Berufe ihre normativen Grundhaltungen reflektieren und vor anderen begründet verantworten.
Aufbau
Das Lehrbuch ist in vier Themenkomplexe gegliedert.
Nach der Einleitung erfolgt die Darlegung der Genese sozialer Berufe. Dabei geht es primär darum, den Ethikbedarf der sozialen Professionen deutlich herauszuarbeiten. Begriffsbestimmungen sowie Fragen zum Verhältnis von Theorie und Praxis runden das Kapitel ab.
Der zweite Themenkomplex kreist um den Erwerb ethischer Kompetenz. Dabei wird das Ethical Reasoning dargestellt.
Der dritte Themenkomplex wird am umfangreichsten bearbeitet. Hier geht es um den Kern der Ethik -also die Darlegung von Reflexionskategorien für moralische Fragen. Diese befinden sich bezogen auf moralische Gefühle, Intuitionen sowie Urteile erster Ordnung auf einer Metaebene. Der Themenkomplex wird abgeschlossen mit Darlegungen über Freiheit und Gründe für moralische Verpflichtungen.
Das Buch endet mit einem Ausblick zu erwartender Veränderungen des Feldes sozialer Berufe sowie zum künftigen Stellenwert von Ethikkommissionen im Kontext sozialer Berufe.
Inhalt
Zentrale Säulen des Lehrbuches sind die Ausführungen zu Theorie und Praxis, zum Ethical Reasoning, zu den Reflexionskategorien sowie zur künftigen Stellung von Ethikkommissionen innerhalb der sozialen Berufe.
Theorie und Praxis. Ähnlich wie in anderen Bereichen stellt sich auch in der Ethik das Theorie-Praxis-Problem. Aussagen der Ethik sind allgemeiner Natur und ihre Anwendung kann nie im Sinne eines Rezepts begriffen werden. Praktiker lehnen ethische Theorie häufig ab, da sie zu kompliziert ist und unter Zeitdruck gehandelt werden muss, was ein ausführliches Räsonieren über die Gründe und Gegengründe für ein bestimmtes Handeln nicht erlaubt. Ausgehend vom Theorie-Praxis-Problem entwickeln die Autorinnen das Ethical Reasoning als Methode, die Praktikern Leitlinien geben soll, um Aussagen der wissenschaftlichen Ethik in die Praxis zu transformieren.
Ethical Reasoning. Ethical Reasoning ist keine solipsistische Angelegenheit. Zwar beinhaltet die Methode die eigenständige ethische Reflexion von moralischen Gefühlen, moralischen Intuitionen und Urteilen erster Ordnung. Aber der Transfer in die Praxis setzt den Austausch mit anderen voraus (S. 44). Als Orte für diesen Austausch sind geeignet: Teambesprechungen, Fallkonferenzen, Hilfekonferenzen u. a. Der ethisch inspirierte kollegiale Austausch und die Ausbildung eines Ethos stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Der Austausch trägt zur Entwicklung eines Ethos oder Habitus bei, der zur Selbstverständlichkeit eines ethischen Räsonierens führt; andererseits begünstigt ein derartiger Habitus die gezielte Wahrnehmung eines kollegialen Austausches über ethische Fragen durch die Angehörigen der jeweiligen Professionen.
Reflexionskategorien. Die Frage
nach der Begründung moralischer Gefühle, Intuitionen und Urteile
erster Ordnung (spontane Urteile aufgrund alltagsweltlicher
Überlegungen) ist die Kernfrage der Ethik. Die Autorinnen benennen
als Kategorien zur Bewertung moralischer Phänomene sowie des
positiven Rechts die im Folgenden ausführlicher dargelegten
ethischen Grundbegriffe – Gerechtigkeit, Anerkennung, Verantwortung
und Care. Diese werden jeweils in ihrer Pluralität expliziert;
diverse Begründungen für einzelne Grundbegriffe werden dargelegt.
Die Grundbegriffe sind nicht primär empirischer Natur, sondern
beinhalten maßgeblich normative Komponenten.
Insgesamt
zielen die Grundbegriffe auf die Praxis der sozialen Berufe und
sollen eine Basis für deren Orientierung bieten. Praxis soll gerecht
sein, soll Anerkennung ermöglichen oder realisieren, sie soll von
Verantwortung charakterisiert und durch Fürsorge gekennzeichnet
sein.
Die ethischen Grundbegriffe befinden sich somit auf
einer Metaebene zu den einzelnen moralischen Gefühlen, Intuitionen
und Urteilen erster Ordnung. Sie haben eine normative Kraft und
Verbindlichkeit. Damit ist ihre begründete Herleitung von
essentieller Bedeutung. Die Aufgabe der Herleitung ist auf zwei
Ebenen angesiedelt. Dies ist einmal die Ebene innerhalb des einzelnen
ethischen Grundbegriffes und dies ist zum zweiten die Ebene der
Mannigfaltigkeit der zu berücksichtigenden Grundbegriffe.
Als Begründung für die Auswahl der Grundbegriffe –
Gerechtigkeit, Anerkennung, Verantwortung und Care – geben die
Autorinnen an: Diese „…werden häufig genannt, wenn von der
moralisch-ethischen Basis sozialen Handelns gesprochen wird“ (S.
57). Die einzelnen Grundbegriffe werden jeweils in ihrer Pluralität
dargestellt. Eine Akzentuierung der Autorinnen innerhalb der vier
Konzepte erfolgt nicht. Die Grundbegriffe werden als historisch
variable Größen behandelt: „Gerechtigkeit, Anerkennung,
Verantwortung und Care…sind keine abstrakten Gebilde…Sie
entstehen in konkreten historischen Situationen…„(S. 59).
Bezogen auf die praktische Anwendung der einzelnen Grundbegriffe
bedeutet dies: „Entgegen einer Polarisierung und der mit ihr
verbundenen wertenden Einteilung…wird in diesem Lehrbuch davon
ausgegangen…dass alle Kategorien …je einzeln herangezogen werden,
ineinander übergehen oder miteinander verbunden…“ (S. 60) sind.
Für den Praktiker bedeutet dies einerseits die Möglichkeit, die
Kategorien frei zu wählen und anderseits innerhalb einer Kategorie –
Gerechtigkeit, Anerkennung, Verantwortung und Care – die
Bezugstheorie z.B. zur Gerechtigkeit oder Anerkennung ebenfalls frei
zu wählen.
- Gerechtigkeit. Gerechtigkeit wird als erste Reflexionskategorie behandelt. Die Autorinnen stellen mehrere Gerechtigkeitskonzepte dar, wobei den einzelnen Ansätzen jeweils ein unterschiedlicher Stellenwert zugewiesen wird. Es werden die Konzepte einer vertraglich-institutionellen Gerechtigkeitstheorie, der Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit sowie der Social Justice als partizipative Anerkennung und Verteilungsgerechtigkeit dargelegt. Die zuletzt genannte Konzeption reflektiert insbesondere auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse und begreift Chancengleichheit nicht nur in Bezug auf die Schaffung vergleichbarer Voraussetzungen, sondern insbesondere auch unter den Aspekten der Unterstützung, der Anerkennung und des Verbündet-Seins.
- Anerkennung. Menschsein ist wesentlich bezogen auf Anerkennung. Die Autorinnen skizzieren verschiedene Konzepte der Anerkennung. Hierbei beziehen Sie ein: Hegels Herr-Knecht-Dialektik, die Konzepte von Taylor und Honneth und den dialogischen Begriff der Anerkennung in Anlehnung an Buber. Abschließen wird im Kapitel zum Begriff Anerkennung die Bedeutung dieses Konzepts für die berufliche Rolle thematisiert.
- Verantwortung. Mit der Entstehung sozialer Berufe hat die Bedeutung des Konzepts der Verantwortung im Vergleich zu früheren Zeiten deutlich zugenommen. Die Möglichkeit, Eingriffe zu tätigen oder gar für andere zu entscheiden, führt zwangsläufig dazu, dass die Verantwortung zunimmt. Man ist maßgeblich auch für das verantwortlich, was in Bezug auf andere getan oder nicht getan wird. Dies impliziert die Relevanz ethischer Reflexionen auf Basis der Reflexionskategorie der Verantwortung. Die Autorinnen diskutieren in Bezug auf eine Ethik für soziale Berufe primär das Konzept des Philosophen E. Levinas. Daneben finden sich Erörterungen zur Verantwortung als Begriff des Rechtes sowie allgemeine Strukturanalysen zur Verantwortung.
- Care. Fürsorgeaspekte sind keine rein technisch-methodische Angelegenheit. Sie beziehen sich auf Haltungen, die insbesondere auch emotionale Aspekte einbeziehen. Nach Auffassung der Autorinnen wird erst in der gegenwärtigen Ethikdiskussion der Care-Aspekt ausreichend berücksichtigt. Trotz dieses Befundes stellen die Autorinnen auch fest, dass Haltungen auch in der Tradition der Ethik ein wichtiges Thema waren. In diesem Zusammenhang folgt eine Darlegung und Erörterung der Aristotelischen Ethik. Es folgen Diskussionen zum aktuellen Ethikdiskurs, insbesondere zur Positionen von M. Nussbaum. Auch der Careaspekt in Bezug auf die eigene Person (Selbstsorge) wird angesprochen. Hierbei orientieren sich die Autorinnen an den Darlegungen von M. Foucault.
Ethikkommissionen in sozialen Berufen. Ethikkommissionen können ein zentrales Instrumentarium zur Umsetzung der Reflexionskategorien bilden. Dabei können Ethikkommissionen keine ein für alle Mal gültigen Entscheidungen treffen. Sie beraten in Konfliktsituationen, z.B. wenn Professionelle mit ihrem Ethos in Widerspruch zur Institution geraten.
Diskussion
Das Lehrbuch beinhaltet als Kernelement die Darlegung der vier Reflexionskategorien (57-168). Die vorgelagerten und nachgelagerten Kapitel bereiten die Einführung der Reflexionskategorien vor bzw. ziehen daraus Konsequenzen. Mit Beispielen und Kontrollfragen gelingt es den Autorinnen die Inhalte verständlich und praxisrelevant nahezubringen. Insbesondere die Bedeutung der Ethik für soziale Berufe wird sehr klar und nachvollziehbar herausgearbeitet. Dabei stehen nicht die Reflexionen des Einzelnen im Zentrum, sondern vorrangig die Bedeutung der Ethik in etablierten Strukturen (Fallbesprechung, Teamsitzung, Supervision) sowie der Entwurf und die Forderung nach den neu zu etablierenden Ethikkommissionen.
Praktiker wie Forscher erhalten eine fundierte Hilfestellung zur Implementierung von Ethik in die Praxis der sozialen Berufe. Die Praxisbeispiele machen jeweils deutlich wie dies konkret geschehen kann.
Ethische Grundbegriffe, die als Reflexionskategorien bezeichnet werden, stellen die Autorinnen der Reihe nach dar. Die einzelnen Grundbegriffe werden differenziert dargelegt, indem einzelne Konzepte z.B. der Gerechtigkeit usw. aufgezeigt und diskutiert werden.
Unter systematischem Anspruch fällt auf, dass die Autorinnen die von ihnen als zentral benannten Reflexionskategorien nicht weiter begründen und mit dem Hinweis, dass diese Begriffe häufig benutzt werden, einführen. Auch die Auswahl der einzelnen theoretischen Perspektiven innerhalb der Kategorien wird nicht eigens erläutert. Für die Autorinnen ist dies unproblematisch, da der Praktiker zwischen den Kategorien frei wählen und ggf. auch zwischen ihnen springen kann. Alles andere wäre – so kann man vermuten – für die Autorinnen ein Prokrustesbett, das den Praktiker in seiner Freiheit begrenzen würde.
Problematisch erscheint diese Herangehensweise, weil letztendlich der Praktiker Kriterien benötigt, warum er sich in welcher Situation für welche Reflexionskategorie als maßgebliche entscheiden soll und wieso er nach einer derartigen Entscheidung innerhalb einer Reflexionskategorie sich weiter auf einen bestimmten Ansatz z.B. den von Honneth oder Foucault festlegen soll.
Konkret vermisst man z.B. Ausführungen zu Glück, Wohlergehen, Menschenechten. Auch der Pflichtcharakter der Ethik (das Sollen) wird nur am Rande thematisiert. So verbleibt das Lehrbuch auf einer Seite des ethischen Diskurses und bezieht die andere Seite (Werte, Normen, Sollen usw.) nicht bzw. kaum in die Betrachtung ein.
Fazit
Insgesamt legen die Autorinnen ein sehr hilfreiches Buch vor, das insbesondere Praktikerinnen und Praktikern Unterstützung geben kann, Ethik in bestehende (z.B. Teamberatung) und neu zu schaffende Strukturen (Ethikkommissionen) einzubauen. Die zahlreichen Beispiele machen das Lehrbuch sehr praxisrelevant. Der ethische Diskurs wird teilweise gut und übersichtlich dargelegt. Es fehlen allerdings Begriffe, die die Autorinnen aussparen, ohne dafür eine ausreichende Begründung darzulegen.
Rezension von
Prof. Dr. Anton Schlittmaier
Professur für Philosophie und Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Berufsakademie Sachsen
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