Wolfgang Bergmann: Sterben lernen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 30.12.2011

Wolfgang Bergmann: Sterben lernen. Kösel-Verlag (München) 2011. 80 Seiten. ISBN 978-3-466-30939-9. D: 10,00 EUR, A: 10,30 EUR, CH: 16,90 sFr.
„Hungerstunden des nahen Todes“
Metapher sind nicht selten hilflose Worte, vor allem wenn es darum geht, das Wissen über den eigenen, frühzeitigen, unerwarteten und nahen Tod auszudrücken. Die persönlichen Auseinandersetzungen damit sind so unterschiedlich, wie Menschen verschieden sind. Sie reichen von Verzweiflung bis zur Euphorie, vom Verdrängen bis zum Verstehen. Im Goldmann-Taschenbuch 1280/6889 vom November 1985 sammelt K. H. Kramberg als Herausgeber „Vorletzte Worte“ von 45 Schriftstellern, die ihren eigenen Nachruf notiert haben, „Nachrufe zu Lebzeiten“, die gebrochen, schelmisch, beiläufig, verbrämt oder literarisch daherkommen, nicht Spaß sein sollen, sondern Als-ob-Texte zum Nachdenken über das eigene Sterben bereits zu Lebzeiten sind.
Autor und Inhalt
Der Erziehungswissenschaftler, Kinder- und Jugendpsychologe, Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie an der Universität Hannover und erfolgreiche Sachbuchautor Wolfgang Bergmann, geboren 1944, erfährt im Frühjahr 2011, dass er unheilbar an Knochenkrebs erkrankt ist. Als „Mann der Schrift“, dessen „Geschriebenes immer klüger war als ich“, wie er angesichts des nahen, unabwendbaren Todes bekennt, schreibt er sich seine Verzweiflung, seine Wut, seine Ängste und sein Nichtbegreifen der Tatsache von der Seele. „Der Tod ist das Böse, das kein Innen und Außen hat“. Es ist das Erstaunen darüber, dass man sich, als Lebender, das Sterben nicht vorstellen kann. Die Erzählung vom Weiterleben nach dem Tode ist etwas, was in der Situation weder tröstet, noch erklärt. Der Körper stirbt, und mit ihm der Geist, der sowieso nur eine Konstruktion des jeweiligen Lebens ist. Eine (tröstliche) Erklärung vielleicht: „Der Tod ist die Bedingung unseres Existierens, wie unser Tod Bedingung des Weiterexistierens kommender Geschlechter ist“. Die quälende, manchmal sogar versprechende Frage nach dem „Wohin?“ findet nur unzureichende Antworten; manchmal aber eine Ahnung von Erkenntnis in einem literarischen Text, im Gespräch mit einem mitfühlenden Freund. Es klingt wie ein Hammerschlag oder ein Schwerthieb, wenn er notiert: „Es gibt kein richtiges Leben, wie es kein richtiges Sterben gibt!“. Es ist nicht auszumachen, ob die Erkenntnis an sich selbst oder an andere gerichtet ist: „Bevor wir das Sterben lernen, müssen wir leben lernen, lebenslang und in jedem Augenblick, den wir bis zum letzten Atemzug vor unserem Tod noch atmen“.
Die Bremer Sozial- und Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil engagiert sich unter anderem bei Palliative Care, der Beratung, Versorgung und Begleitung von Sterbenden in Palliativstationen. In ihrem Memoriam nimmt sie einige Gedanken von Wolfgang Bergmann auf und verweist darauf, dass Zuwendung und das Gefühl des Geborgenseins für Sterbende die besten Begleiter beim Sterben sind; aber auch, dass Trauer über einen Verstorbenen die Hinterbliebenen auffängt und zum Weiterleben ermutigt.
Fazit
Wolfgang Bergmanns Gedanken beim Sterbeprozess bewirken beim Leser nicht hemmende und ausweglose Gefühle der Hilflosigkeit, auch kein unangemessenes und euphorisches Empfinden; vielmehr hinterlassen sie wahre und realistische Eindrücke von der Last des Sterbens – und trösten gleichzeitig. Bergmanns Worte sind deshalb nicht Ratgeber zur Sterbebegleitung und Schreie des Sterbens, sondern empfindsame und emotionale Anreger zum Leben!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 30.12.2011 zu:
Wolfgang Bergmann: Sterben lernen. Kösel-Verlag
(München) 2011.
ISBN 978-3-466-30939-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12581.php, Datum des Zugriffs 22.03.2023.
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