Andreas Manteufel: Nerven bewahren
Rezensiert von Dr. med. Daniel Sommerlad, 13.07.2012

Andreas Manteufel: Nerven bewahren. Alltag in der Akutpsychiatrie Aus dem Sudelheft eines Psychologen. Paranus Verlag (Neumünster) 2012. 192 Seiten. ISBN 978-3-940636-19-5. D: 14,80 EUR, A: 15,30 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
Als „Sudelheft“ bezeichnet man ein Notizheft mit vorläufigen Eintragungen. Der Autor führte ein solches Heft während zweier Jahrzehnte klinischer Tätigkeit als Psychotherapeut in der Akutpsychiatrie und trug interessante Geschichten aus dem psychiatrischen Krankenhausalltag zusammen. Besonderes Augenmerk galt dem studierten Sprachwissenschaftler der Darstellung psychiatrischer Sprachgebung mit ihrer Fülle an Verbildlichungen, Ungereimtheiten und Euphemismen.
Autor
Dr. phil. Andreas Manteufel wurde 1963 geboren und ist Psychologischer Psychotherapeut. Nach dem Studium der Psychologie und der Angewandten Sprachwissenschaften ist er seit 1992 in der LVR-Klinik Bonn in der Abteilung Allgemeine Psychiatrie 1 tätig. 1996 wurde er bei Prof. Günter Schiepek mit einer Arbeit über Selbstorganisation und Kompetenzentwicklung in sozialen Systemen promoviert. Er veröffentlichte darüber hinaus zahlreiche Rezensionen und Fachartikel (u.a. Neurobiologie der Psychotherapie, Fortschritte der systemischen Psychotherapie, Geschichte der Psychologie). Seine praktischen Arbeitsschwerpunkte sind systemische Einzel-, Paar- und Familientherapie, Supervision und Coaching.
Aufbau
Das Buch enthält zunächst ein kurzes Vorwort, anschließend den Hauptteil mit kommentierten Einträgen des Sudelhefts. Der chronologischen Entstehungsgeschichte folgend, lassen die Quelldaten keine weitere Sortierung erkennen. Die Kommentierungen bauen jedoch in loser Form aufeinander auf. Der Autor schließt mit einem orientierenden Resümee basierend auf Grundlagen der Systemkompetenz.
Inhalt
„Jetzt sagen Sie mal
mit unseren Worten, was Sie bei uns wollen.“ - Dass auch die auf
Behandlung seelischer Störungen spezialisierten Fachgebiete
gelegentlich eine gut geölte Maschinerie darstellen, wird nicht nur
durch dieses Bonmot einer Pflegekraft deutlich.
Auch in der
Psychiatrie herrscht ein operationalisiertes Werken mit oftmals nur
impliziter Heuristik, die ihre Behandlungspfade dann offenbart, wenn
diese gestört oder gar verlassen werden. Wo die Normabweichung
kuriert wird, stemmt sich der Therapeut machtvoll gegen die eigene
Devation. So identifiziert Manteufel Metaphern von Klempnern
bei gestörtem Patientenabfluss von Station, von Ingenieuren beim
Hoch- oder Herunterfahren von Medikamenten, beim Ansetzen von Hebeln
oder gar Bilder von Raubtieren, wenn etwa Gefühle nicht mehr zu
bändigen sind. Da werden Patienten an eine Tagesstätte
„angeschlossen“, „angebunden“ oder in der
Selbstwahrnehmung sogar „eingeflochten“.
Wo der Vorteil
der Bezeichnung „beschützte Station“ für eine
„geschlossenen Station“ liegt, erschließt sich Manteufel
nicht. Der schmale Grat zwischen „fürsorglichem Gewahrsam“
und nacktem Freiheitsentzug wird jedenfalls exemplarisch dort
entlarvt, wo eine Bettfixierung zum „Gang in die Gurte“,
gleichsam als Spaziergang beschönigt wird oder ein Patient
resigniert feststellt: „Ich muss wohl wollen.“
Wie die
Psychiatrie selbst, so bildet auch das Buch den bewegten Alltag der
Betroffenen ab. Sie schildern traumatische Erlebnisse, Sorgen und
Nöte aus den Therapien, fühlen sich wahnhaft via Internet verfolgt,
leiden unter einem „Lachflash“ oder beklagen
„Kontrollfürsorge“. Auch Berichte über Suizidalität
gehören dazu und werden vom Autor stets respektvoll behandelt.
Wer
einmal eine psychiatrische Diagnose, etwa einer Schizophrenie,
erhalten hat, unterliegt auch im symptomfreien Intervall häufig dem
Begründungszwang psychischer Normalität. So werden Episoden
berichtet, bei denen sich das unterstellte Trugbild von Pferden in
der Innenstadt als tatsächlich real herausstellte oder ein Besucher
statt vermeintlicher Dialoge mit seinen Stimmen tatsächlich ein
Handytelefonat führte. Auch das paranoide Beziehungserleben – das
Gefühl, von Personen verfolgt oder beobachtet zu werden – findet
im klinischen Massenbetrieb oft seine reale Entsprechung, etwa bei
Chefvisiten oder Fallkonferenzen. Manteufel lässt einen
Patienten dazu sagen: „Da sind so viele
Beobachtungspersonen!“
Das häufig nur geringe Ausmaß an
innerer und äußerer Bewegungsfreiheit akut psychisch Kranker wird
vom Autor an mehreren Stellen beleuchtet. So wird ein Patient mit den
Worten zitiert, er habe sich „entschieden, Antrieb zu haben“;
ein anderer berichtet nach einer Entweichung, er sei „freiwillig
abgehauen“. Mit unerhört wissenschaftlicher Präzision kommt
ein weiterer Patient daher, wenn er berichtet: „Ich habe seit
fünf Minuten eine Psychose!“
Doch nicht nur die die
Patienten kommen zu Wort. Auch Sorgen und Nöte der Therapeuten
finden Eingang, wenn etwa der Weg vom Schulendenken zum individuellen
Stil in der Psychotherapie diskutiert wird oder wenn feinsinnigen
Nuancen von Einleitungsfragen zur Sprache kommen. Der Autor warnt vor
unzulässiger Umdeutung von Korrelationen zu Kausalitäten und rät
zur Fähigkeit, Ungewissheiten zu akzeptieren, Unwägbarkeiten als
Teil der Normalität zu begreifen. Er erteilt einem platten
Reduktionismus des Individuums auf neurobiologische Grundlagen eine
klare Absage.
Doch wie soll man das aushalten? Manteufel
empfiehlt als hilfreiche Techniken Humor, Geduld, Perspektivwechsel,
Pausen, soziale Interaktionen, Gestaltung des Arbeitsplatzes und
Verzicht auf Unfehlbarkeit. Dass dies zu erreichen nicht einfach ist,
wird nach der Lektüre des Buches klar. Denn die wahrscheinlich
knappste und teuerste Systemkompetenz ist der Faktor Zeit.
Diskussion
Das vorliegende Buch ist aus
vielen Gründen lesenswert. Beginn der Aufzeichnungen ist das Jahr
1992, eine Zeit, in der die Enthospitalisierung psychisch kranker
Menschen ihren Abschluss fand und die bis dato häufig verwahrende
Fachdisziplin ihren heutigen modernen, den somatischen Fächern
gleichgestellten Charakter erhielt. Dennoch könnten viele der
aufgezeichneten Dialoge und Fragmente genauso gut gestern in einem
beliebigen Aufnahme- oder Visitengespräch gefallen sein. Offenbar
gibt es für die Dynamik der Interaktion zwischen Patienten und ihren
Behandlern auch im Wandel der Zeit eine Blaupause, die im O-Ton zu
uns spricht. Seien es unterschiedliche Auffassungen des
Behandlungsauftrags, das Spannungsfeld zwischen sicherer Umgebung und
Hospitalisierung, Freiheit und Kontrolle – jede dieser Aufzeichnungen
kann Schmunzeln, Erstaunen, Mitleid oder Erkenntnis auslösen.
Interessant gerade für ärztliche Leser dürfte auch der
Blickwinkel des Psychologen sein, der kraft seiner unterschiedlichen
Sozialisation auch das tradierte ärztliche Selbstverständnis
hinterfragt. So äußert eine Stationsärztin nach absolvierter
Ausschlussdiagnostik: „Es tut mir Leid, alle Befunde sind in
Ordnung!“
Das liebevoll kommentierte Buch dient nicht zuletzt
auch als mahnende Warnung, vor lauter Systemneuordnung den
Blickwinkel auf den inzwischen mündigen, aber hartnäckig
unreformierten Patienten nicht zu verlieren. Es liest sich
stellenweise als Manifest gegen die Denkart eines Orwell'schen
Neusprech, erfrischend gerade in Zeiten vorgeblich „alternativloser“
Milliardenrettungen.
Während die Wirkung der dargestellten
Phänomene in der Hektik des psychiatrischen Alltags häufig
unbeachtet oder jedenfalls unreflektiert bleibt, verortet der
wissenschaftlichem Blick des Autors hinter der Anstaltsfassade das
Bedürfnis nach Abgrenzung, Schutz oder Spannungsabfuhr des eigenen
Wirkens. Manteufels Erfahrung als Supervisor ist stets
greifbar. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Frage, wie
man als Mitarbeiter mit humorvoller Distanz „dort die Nerven
bewahrt“.
Fazit
Wenn Fritz J. Raddatz in der „Zeit“ einst über Thomas Manns Tagebücher schrieb, sie seien ein klatschsüchtiges Sudelheft, könnte man dies fälschlich auch einem so bezeichneten Büchlein aus dem Inneren der Akutpsychiatrie unterstellen. Es bedient jedoch auf humorvolle und kritische Art das Bedürfnis nach einem Blick hinter die Kulissen, ohne die Grenze zum Voyeurismus zu überschreiten. Der Autor bleibt dabei stets warmherzig, menschlich und empathisch. Nebenbei weckt Andreas Manteufel kenntnisreich und mit großem Sendungsbewusstsein Interesse für die Denkweise der systemischen Psychotherapie. Das Buch ist Selbsterfahrung und Lehrstück für gegenwärtige und altgediente Psychiatriemitarbeiter – sicherlich besonders lesenswert für alle jene, die verpasst haben, selbst ein solches Sudelheft zu führen.
Rezension von
Dr. med. Daniel Sommerlad
Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Mailformular
Es gibt 5 Rezensionen von Daniel Sommerlad.
Zitiervorschlag
Daniel Sommerlad. Rezension vom 13.07.2012 zu:
Andreas Manteufel: Nerven bewahren. Alltag in der Akutpsychiatrie Aus dem Sudelheft eines Psychologen. Paranus Verlag
(Neumünster) 2012.
ISBN 978-3-940636-19-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12623.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.