Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.02.2012

Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2011. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. 243 Seiten. ISBN 978-3-476-02386-5. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 41,00 sFr.
Soziokulturelle Dimensionen des Erinnerns
In der philosophischen Betrachtung ist anamnêsis, Erinnerung, die „Wiedergewinnung“ des früher im Gedächtnis Gespeicherten oder von etwas, was schon einmal gewusst war (Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005, sowie: Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, 2009). Dabei wird hervor gehoben, dass wahres Erinnern nicht nur ein zufällig stattfindender Akt ist, sondern ein aktives, willentliches Sicherinnern im Jetzt-Bewusstsein erfordert, also eine intellektuelle Fähigkeit des Denkens ist. Das betrifft sowohl die individuelle Erinnerung, wie auch das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft, eines Volkes oder der Menschheit.
Entstehungshintergrund und Autorin
Am wissenschaftlichen Erinnerungsdiskurs beteiligen sich verschiedene akademische Fächer, wie z. B.: Kulturwissenschaften, Pädagogik, Geographie Geschichte, Literatur, Philosophie, Psychologie, Psychotherapie, Rechtswissenschaft, u. a. Als „Erinnerungskultur“ wird dabei das Phänomen bezeichnet, das eine Gemeinschaft von Menschen veranlasst, positiv oder negativ bedeutsames Vergangenes, Historisches oder Identitätsstiftendes im kollektiven Gedächtnis aufzubewahren, im Geschichtsbuch eines Volkes aufzuschreiben und/oder in Denkmalen und Erinnerungsorten sichtbar zu machen. Die moderne kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung beruft sich insbesondere auf den französischen Soziologen und Philosophen Maurice Halbwachs, der von den Nationalsozialisten 1945 im KZ Buchenwald umgebracht wurde. An der Justus-Liebig-Universität in Gießen gibt es seit mehreren Jahren eine interdisziplinäre Forschungsgruppe, die sich mit den Fragen von „Gedächtnis und Erinnerung“ und insbesondere den Aspekten der Erinnerungskulturen befasst.
Die Autorin, Professorin für Anglophone Literaturen und Kulturen an der Goethe-Universität in Frankfurt/M., Astrid Erll, hat 2004 ein Handbuch mit dem Ziel vorgelegt, einen Überblick über die Geschichte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung zu geben, die wesentlichen, wissenschaftlichen Konzepte der beteiligten Disziplinen darzustellen, ein integratives Modell für die interdisziplinäre, wissenschaftliche Arbeit zu entwerfen und die Medialität und Narrativität des kollektiven Gedächtnisses zu diskutieren. Im August 2011 legt nun die Autorin die zweite Auflage vor, indem sie auf die steigende Bedeutung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung reagiert; und zwar mit zwei wesentlich erweiterten Aspekten: Auf dem Feld der Medienkulturwissenschaft und den Auseinandersetzungen um nationen- und kulturübergreifendes Erinnern.
Aufbau und Inhalt
Astrid Erll gliedert das Handbuch in sieben Kapitel und schließt die Arbeit mit einer Auswahlbibliografie ab.
Im ersten Kapitel wird eine Abgrenzung und Fokussierung vorgenommen und deutlich gemacht, dass es hier nicht darum gehen kann, eine „Sachgeschichte kollektiver Erinnerung“ zu schreiben oder eine philosophische Gedächtnisreflexion zu formulieren; vielmehr ist es das Ziel, die kulturwissenschaftlichen Theorien des kollektiven Gedächtnisses darzustellen, wie sie seit den 1920er Jahren insbesondere in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, den USA und Großbritannien entwickelt und diskutiert werden und sich als „Memory studies“ darstellen.
Im zweiten Kapitel vermittelt die Autorin eine kurze Geschichte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung und arbeitet die unterschiedlichen Formen der kollektiven Vergangenheitsbildung heraus, wie sie von Maurice Halbwachs, Aby Warburg, Pierre Nora, bis zu Aleida und Jan Assmann entwickelt wurden; um schließlich die verschiedenen Theorien im „Konzept des Gießener Sonderforschungsbereichs 434 – Erinnerungskulturen“ zusammen zu führen.
Das dritte Kapitel befasst sich mit der wichtigen, forschungstheoretischen und -praktischen Fragestellung, wie die verschiedenen disziplinären Zugänge zur Gedächtnisforschung zu einer interdisziplinären Zusammenarbeit gebracht und transnational und transkulturell vernetzt werden können. Entsprechend der Schwerpunktsetzung widmet Astrid Erll der Kunst und Literaturwissenschaft als „Gedächtnis material“ und der psychologischen Gedächtnisforschung als „Gedächtnis mental“ eine besondere Aufmerksamkeit.
Im vierten Kapitel entwirft die Autorin ein „kultursemiotisches Modell“, wie kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen zusammen gebracht und gedacht werden können. Als Arbeitshypothese formuliert sie dabei „kollektives Gedächtnis als Gesamtheit all jener Vorgänge (organisch, medial und institutionell), denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenem und Gegenwärtigem in soziokulturellen Kontexten zukommt, findet seine jeweilige Ausprägungen in Erinnerungskulturen“ (hervorgehoben im Original).
Das fünfte Kapitel handelt von „Medien und Gedächtnis“ und trägt damit der Bedeutung des medialen Rahmens auf der individuellen und der Speicherung, Zirkulation und Abruf auf der kollektiven Ebene Rechnung. In der medienkulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung kommt der mediatisierten Erinnerung eine neue Aufmerksamkeit zu, die sich als Prämediation und Remediation darstellt und die „Gedächtnismedien mit der Aura des Authentischen ausstatten“.
Im sechsten Kapitel wird „Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses“ thematisiert. Dabei wird die Bedeutsamkeit von Literatur als symbolische Form der Erinnerungskultur an Beispielen aufgezeigt und der Bezug zur Wirklichkeit der Erinnerungskultur diskutiert: Collective und collected memory als bedeutsame Zeichen des biografischen Lernens und der Identitätsbildung als Medium der Gedächtnisbildung und der Gedächtnisreflexion ( vgl. dazu auch: Thorsten Fuchs, Bildung und Biographie. Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, 2011, in: www.socialnet.de/rezensionen/11821.php; sowie: Tobias Künkler, Lernen in Beziehung. Zum Verhältnis von Subjektivität und Relationalität in Lernprozessen, 2011, in: https://www.socialnet.de/rezensionen/12017.php ).
Mit dem siebten Kapitel unternimmt die Autorin eine erzähltheoretische Annäherung an Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses und diskutiert dessen Rhetorik: „Erzähltheoretische Kategorien“, indem sie fünf Modi für eine „erinnerungshistorische Narratologie“ ausbreitet: den erfahrungshaftigen, den monumentalen, den historischen, den antagonistischen und den reflexiven Modus. Dabei wird deutlich, dass der Bedeutungsgehalt einer Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses stark verknüpft ist mit der literaturwissenschaftlichen Betrachtung: „Erzählen als eine der Haupttätigkeiten in Erinnerungskulturen ist stets bedeutungsgeladen, machtvoll, wirklichkeits- und vergangenheitskonstituierend“.
Fazit
Die Einführung in die „transdisziplinäre( ) und transnationale ( ) Dimension des Phänomens ‚Gedächtnis‘“, als narratologischer und erinnerungshistorischer Zugang zu einer Erweiterung des aktuellen Erinnerungsdiskurses, stellt zweifellos einen wichtigen Baustein für eine kollektive Gedächtnis- und Erinnerungsforschung dar. Durch den interdisziplinären Anspruch des Gegenstandes dürften Studierende und in Theorie und Praxis Tätige von der erweiterten und aktualisierten Auflage des Buches profitieren.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 20.02.2012 zu:
Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH
(Stuttgart, Weimar) 2011. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-476-02386-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12634.php, Datum des Zugriffs 28.11.2023.
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