Ursula Bertels, Irmgard Hellmann de Manrique (Hrsg.): Interkulturelle Streitschlichter
Rezensiert von Tatjana van de Kamp, 08.03.2012

Ursula Bertels, Irmgard Hellmann de Manrique (Hrsg.): Interkulturelle Streitschlichter. Interkulturelle Kompetenz als Schlüsselqualifikation für Jugendliche.
Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2011.
234 Seiten.
ISBN 978-3-8309-2310-7.
D: 19,90 EUR,
A: 20,50 EUR.
Reihe: Praxis Ethnologie - Band 4.
Thema und Entstehungshintergrund
In Deutschland leben immer mehr Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaften, und die Interkulturelle Kompetenz ist zu einer Schlüsselqualifikation geworden. Da Kinder und Jugendliche heute in einer multikulturellen Gesellschaft aufwachsen, wächst auch die Bedeutung der interkulturellen Erziehung im Rahmen der schulischen Sozialisation.
Der Verein Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung (ESE) vermittelt seit 1992 interkulturelle Kompetenz, insbesondere auch als Teil der schulischen Bildung. Nach der erfolgreichen Durchführung einiger Pilotstudien an Schulen kamen die Fragen auf, wie man interkulturelle Kompetenz an Schulen weiter fördern kann und, wie man Kinder und Jugendliche als Multiplikatoren einsetzen könnte. Dies führte zu einem Projekt, finanziert durch das Bundesamt für Migration Flüchtlinge, Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Kulturen in interkultureller Kompetenz, als interkulturelle Streitschlichter und als Trainer für Interkulturelle Kompetenz auszubilden. Das vorliegende Buch gibt neben dem Projektdesign auch die Konzepte der Ausbildungen, deren Evaluation sowie Erfahrungen über den Einsatz der ausgebildeten Jugendlichen wieder.
Herausgeberinnen und Autoren
Die beiden Herausgeberinnen, Dr. Ursula Bertels und Irmgard Hellmann de Manrique sind Ethnologinnen und Mitarbeiterinnen des Vereins Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung (ESE) e.V. Ursula Bertels war von 2007 bis 2009 Projektleiterin des Projektes „Interkulturelle Streitschlichter“. Sabine Eylert und Sandra de Vries sind ebenfalls Mitarbeiterinnen des ESE und interkulturelle Trainerinnen. Sabine Eylert ist zudem ausgebildete Mediatorin für interkulturelle Schulmediation und verantwortlich für die Projektteile ethnologischer Unterricht und interkulturelle Streitschlichterausbildung. Sandra de Vries beschreibt den Verlauf der interkulturellen Trainerausbildung. Der Politikwissenschaftler und Ethnologe Niko Gebauer zeichnet verantwortlich für die Evaluation, und Hans-Joachim Temme, Leiter der Bezirksverwaltung Nord in Münster, charakterisiert den Stadtteil Münster-Kinderhaus, in dem das Projekt durchgeführt wurde.
Aufbau
Dem kurzen Vorwort, der Einleitung und der Skizzierung des Projektdesigns folgt eine sozio-kulturelle Darstellung des Stadtteils Münster-Kinderhaus. Einführend werden interkulturelle Aspekte in der schulischen und außerschulischen Bildung erläutert. Darauf folgen werden jeweils eigene Unterkapitel zu den Unterrichtseinheiten „ethnologischer Unterricht zur interkulturellen Kompetenz“, „Ausbildung zu interkulturellen Streitschlichtern“ und „Ausbildung zu Trainern für interkulturelle Kompetenz“. Zu jeder Ausbildung werden der theoretische Hintergrund, der Ablauf der Ausbildung und die Evaluation geschildert und mit einer kurzen Zusammenfassung abgeschlossen. Das Buch endet mit einem kurzen Fazit zum Gesamtprojekt von Ursula Bertels, dem das Literaturverzeichnis, ein 50-seitiger Anhang zu den Methoden und Materialien der Unterrichtsbausteine und Evaluationsbögen sowie ein Abbildungsverzeichnis und Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren folgen.
Inhalt
1. ProjektdesignInterkulturelle Bildung wird als Ziel sowohl schulischer als auch außerschulischer Bildung über die offene Kinder- und Jugendarbeit verstanden. Der ethnologische Unterricht wurde in den Unterricht der Jahrgangsstufe 7 einer Haupt- und einer Realschule integriert, die einen hohen Anteil an Schülern mit Migrationsvorgeschichte haben. Darauf aufbauend wurden Schülerinnen und Schüler auf freiwilliger Basis zu Streitschlichtern ausgebildet, einmal als Wahlpflichtfach und einmal als AG. Die Trainerausbildung hingegen wurde außerschulisch in einem Kinder- und Jugendzentrum freiwillig angeboten.
2. Ethnologischer Unterricht zur Vermittlung von Interkultureller KompetenzDer schulische ethnologische Unterricht hatte fünf Lernziele:
- Informationsaneignung und -beschaffung sowie Entwickeln von Interesse
- Einüben des Perspektivenwechsels sowie Erkennen und Überwinden von Ethnozentrismus
- Reflektieren von Situationen des interkulturellen Umgangs
- Fördern von Einstellungen und Werten
Diese Lernziele wurden in 10 Unterrichtsreihen übersetzt. Der methodische Aufbau der Unterrichtsreihe wird am Beispiel des Themas „Wohnen – weltweit gleich?“ ausführlich beschrieben und mit Fotos der Arbeitsstationen illustriert. So wurde auch gezeigt, wie mit einem Thema verschiedene Lernziele anschaulich umgesetzt werden können.
Die einzelnen Unterrichtsreihen wurden im Hinblick auf die Erreichung der Lernziele und die Eignung der Methoden anhand standardisierter Fragebögen und Bemerkungen der Dozenten und anwesenden Fachlehrkräfte evaluiert. Die Evaluationsergebnisse flossen in die laufende Projektarbeit ein und konnten diese kontinuierlich verbessern, indem zum Beispiel zu schwierige oder zu zeitaufwändige Aufgabenstellungen vermieden oder vereinfacht wurden. Zusammenfassend zieht Ursula Bertels den Schluss, dass das Ziel dieser Projektphase, die schulische Vermittlung von Interkulturelle Kompetenz, erreicht wurde.
3. Ausbildung zur interkulturellen Streitschlichterin bzw. -schlichterAus einen Literaturüberblick zur Peer Mediation und Interkulturellen Mediation werden als Ausbildungsinhalte die Vermittlung mediatorischer Fähigkeiten ebenso wie die Vermittlung interkultureller Kompetenz abgeleitet, insbesondere Sensibilisierung für die kulturspezifische Konfliktwahrnehmung, Konfliktverhaltensstile und Konfliktlösungsstrategien. Ziel des Programms war es, die Schüler dazu zu befähigen Streitfälle zwischen Jugendlichen in der Schule und im Stadtteil interkulturell kompetent zu schlichten.
Die Ausbildung wurde an beiden Schulen als AG bzw. als Wahlpflichtfach in 24 Sitzungen durchgeführt und ist im Text Einheit für Einheit beschrieben und mit Bemerkungen und Beispielen versehen sowie im Anhang ausführlich dokumentiert. Die Ausbildungseinheiten beinhalteten:
- 1. – 2. Einheit: Kennen lernen
- 3. Einheit: Kultur
- 4. – 5. Einheit: Eigene Konflikterfahrungen und eigenes Konfliktverhalten
- 6. Einheit: Konfliktursachen
- 7. – 8. Einheit: Interkulturelle Begegnungen
- 9. Einheit: Was bedeutet Interkulturelle Streitschlichtung?
- 10. – 19. Einheit: Phasen der Interkulturellen Streitschlichtung und Methoden/Grundlagen
- 20. – 24. Einheit: Übungsphase an vorgegebenen und eigenen Konfliktbeispielen
In der Endphase wurden die interkulturellen Streitschlichter an den Schulen und Jugendeinrichtungen im Stadtteil eingesetzt und von den Projektmitarbeiterinnen begleitet. Nach anfänglichen Berührungsängsten wurden die Streitschlichter allmählich routinierter.
Die Evaluation der Ausbildung umfasste Schülerfragebögen zur Ermittlung der kulturellen Kompetenz sowie Evaluationsbögen zur Bewertung der fachlichen Vermittlung von Inhalten, der eingesetzten Materialien und Methoden durch die Dozenten und Einrichtungen. Zusätzlich dokumentierte eine Beobachterin die Einheiten nach Stimmung, Mitarbeit und Interesse der Schüler, ebenso wie auch Methoden und Inhalte. Durch Gespräche mit den Dozentinnen wurde eine weitere Kontextualisierung vorgenommen.
Offenheit und Interesse der Jugendlichen waren groß, ihre Vorstellungen und Verständnis unterschieden sich aber in Bezug auf Wahrnehmung und Beilegung von Konflikten. Inhalte, Methoden sowie das Verhalten der Schüler wurden gut beurteilt, aber es gab einen signifikanten Unterschied zwischen den beiden Schulen. Insgesamt wird die Ausbildung als Erfolg gewertet und eine einjährige Dauer der Ausbildung als sinnvoll erachtet, um die komplexen Inhalte und Materialien hinreichend kleinschrittig vermitteln zu können und genügend Zeit zum Einüben der Techniken zu haben.
Sabine Eylert weist in ihrer Zusammenfassung auf den Wert und die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen Schulen und Jugendeinrichtungen hin sowie die Roller der jugendlichen Streitschlichter als Multiplikatoren für Interkulturelle Kompetenz in Stadtteileinrichtungen.
4. Ausbildung zur Trainerin bzw. zum Trainer für Interkulturelle KompetenzJugendliche können Brücken zwischen Kulturen bauen, da sie eigene Erfahrungen einbringen und untereinander einen anderen Zugang haben als Erwachsene. Ein einfacher interkultureller Kontakt reicht nicht, um Vorurteile abzubauen und Verständnis zu verbessern. Dazu bedarf es auch Vorbedingungen wie Offenheit, Interesse und Freiwilligkeit. Deshalb war die Ausbildung ein freiwilliges Angebot im Jugendzentrum. Jugendliche sind auf der Suche nach ihrer Identität und befinden sich mitten in einem Prozess von Lernerfahrungen. Dies mag einer der Gründe sein, weshalb Jugendliche bislang wenig als Trainer eingesetzt werden. Insofern ist dieser Ansatz innovativ.
Für die methodische Konzeption war auch wichtig, dass die Jugendlichen vor allem an der praktischen Umsetzung des Themas interessiert sind, so dass Fallbeispiele, Handlungsstrategien und Empathie-Übungen besser angenommen werden als die Vermittlung von Theorie. In der Trainerausbildung ging es vor allem um die Verknüpfung von Methoden und Inhalten, d.h. die Dozentin demonstrierte an den Unterrichteinheiten die Methoden, die dann später von den Jugendlichen für die Bausteine ihres Trainings geübt wurden.
Die Ausbildung bestand aus 18 Einheiten, die ausführlich im Text und im Anhang dargestellt werden.
- 1. Einheit: Kennenlernen
- 2. Einheit: Einstieg in das Thema
- 3. Einheit: Baustein 1 – Begrüßung
- 4. Einheit: Baustein 2 – Einstieg in das Thema
- 5. Einheit: Baustein 3 – Ursachen von Missverständnissen
- 6. Einheit: Baustein 4 – Die eigene Gesellschaft
- 7. Einheit: Baustein 5 – Die eigene Gesellschaft und meine Person
- 8. – 9. Einheit: Baustein 6 – Interkulturelle Begegnungen
- 10. Einheit: Baustein 7 – Wo sind meine Grenzen?
- 11. Einheit: Baustein 8 – Abschluss
- 12. Einheit: Vorbereitung der Praxisphase
- 13. – 14. Einheit: Vorbereitung der Praxisphase – Entwicklung von Konzepten
- 15. – 18. Einheit: Vorbereitung der Praxisphase – Vorstellung der Konzepte
Die jugendlichen Trainer erprobten ihre Konzepte zunächst bei den ausgebildeten Streitschlichtern. Die Trainerteams und die Dozentin bewarben den Kurs und trafen sich regelmäßig zu Fortbildungen, um die Bausteine zusammenzustellen und einzuüben. Nach anfänglicher Nervosität liefen die Trainings sehr gut und die Jugendlichen bekamen positives Feedback von den Teilnehmern. Enttäuschung kam bei denjenigen auf, die nicht gleich mit einem Einsatz die Möglichkeit hatten, ihr Wissen und Können unter Beweis zu stellen.
Die Evaluation der Trainerausbildung lief methodisch analog zu der der Streitschlichter. Die Bewertung war insgesamt gut, lag aber unterhalb der der Streitschlichter. Dies wurde der Unterschiedlichkeit der Ausbildungen und den schwankenden Teilnehmerzahlen bei der freiwilligen Trainerausbildung zugeschrieben. Die Stimmung hing von äußeren Umständen ab. Einige Aufgaben wurden als schwer empfunden, einzelne Sequenzen als zu oft geübt und langweilig. Diese Sichtweise änderte sich jedoch, als die Dozentin den Sinn der Übung erklärte. Sandra de Vries unterstreicht in ihrem Fazit, wie wichtig es ist, den Lebensraum des Jugendlichen als Ganzes zu sehen, einschließlich Schule, Jugendeinrichtungen, Elternhaus, sowie eine enge Zusammenarbeit anzustreben.
Weitere Wirkungen des Programms waren eine Steigerung des Selbstwertgefühls und eine Stärkung der Identität der Jugendlichen durch ihre Rolle Trainer, Vermittler und Übersetzer. Ihr Status ging nun über den des „lernenden Kindes“ hinaus. De Vries fiel auf, dass nur ein Mädchen an der Ausbildung teilnahm, was mit unterschiedlichen kulturellen Werte („öffentlicher Raum ist männlich“) aber auch mit Transportproblemen zu Jugendeinrichtungen erklärt werden könnte. Dies würde bedeuten, dass einige Angebote unter Umständen gerade Mädchen nicht erreichen oder für sie als unpassend empfunden werden. Die Jungen mussten sich mit verschiedenen kulturellen und neuen Formen der Männlichkeit auseinander setzen und lernen, Kompromisse und Synthesen zu finden. Auch Teamarbeit und Kommunikation wurden von der Ausbildung berührt.
Am Ende zieht Ursula Bertels ein kurzes Fazit über das Gesamtprojekt. 120 Schüler sind in Interkultureller Kompetenz geschult worden, 21 als Streitschlichter und 5 als Trainer ausgebildet worden. Die Ausbildungseinheiten sind aufgrund der Evaluation bereits soweit überarbeitet und optimiert worden, dass sie auch in anderen Kontexten angewandt werden können. Dabei war die nachhaltige Vernetzung von Schulen und Jugendeinrichtungen und Einbindung in den Stadtteil ebenso Ziel des Projektes wie die Vermittlung Interkultureller Kompetenz in verschiedenen Bereichen. Als schwer evaluierbar und von unschätzbarem Wert erwiesen sich die Persönlichkeitsentwicklung der einzelnen Schüler sowie ihre positivere Einstellung zum bürgerschaftlichen Engagement.
Diskussion
Das Buch liefert eine ausführliche und vor allem praxisnahe Beschreibung des Ausbildungsablaufs mit Plänen der einzelnen Bausteine im Anhang, ergänzt durch Erfahrungs-und Evaluationsberichte, wobei auch aufgetretene Schwierigkeiten ganz offen thematisiert werden. Damit bietet es eine fundierte Grundlage für die Entwicklung und Durchführung ähnlicher Projekte in anderen Umgebungen, da nicht nur Projekt und Methoden vorgestellt, sondern auch Wissen und Erfahrungen der Beteiligten weitergegeben werden.
Die beschriebenen Methoden selbst sind nicht alle neu, aber selbst für Trainer liefert das Buch einen Mehrwert von Erfahrungen aus erster Hand mit diesen Methoden in einem Kreis von Jugendlichen unterschiedlichen kulturellen Hintergrundes. Aufgrund dieser Erfahrungen lädt der Bericht dazu ein, einige unserer gängigen Methoden vor einer interkulturellen und einer jugendlichen Perspektive neu zu überdenken.
Ebenfalls interessant ist dabei der Vergleich dreier Ausbildungen mit unterschiedlichen Zielsetzungen und Zielgruppen. Das Projekt zeigte, dass einige engagierte Jugendliche durchaus eine aktivere Rolle in der interkulturellen Mediation oder als Multiplikatoren spielen können und wollen.
Das Buch spricht Interessierte und Beteiligte an interkulturellen Themen und Konflikten in Jugendarbeit oder Schule an, die vielleicht auch über die Realisierung ähnlicher Konzepte nachdenken.
Fazit
Das Buch enthält eine ausführliche Darstellung und Kommentierung dreier Ausbildungen für Jugendliche im multikulturellen Umfeld: Unterricht zur Vermittlung interkultureller Kompetenz, Ausbildung zu Streitschlichtern und Ausbildung zu Trainern der Interkulturellen Kompetenz. Es zählt zu den wenigen Fachbüchern, die einen sehr handfesten und praktischen Fokus haben und sich auch nicht zieren, ihre Methoden und Erfahrungen mit den Lesern zu teilen.
Rezension von
Tatjana van de Kamp
Dipl. Kauffr., MA (Arbeits- und Organisationspsychologie)
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