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Erika Schärer-Santschi: Trauern. Trauernde Menschen [...] begleiten

Rezensiert von Prof. Johanna Kohn, 23.04.2012

Cover Erika Schärer-Santschi: Trauern. Trauernde Menschen [...] begleiten ISBN 978-3-456-95030-3

Erika Schärer-Santschi: Trauern. Trauernde Menschen in Palliative Care und Pflege begleiten. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2012. 309 Seiten. ISBN 978-3-456-95030-3. 29,95 EUR. CH: 39,90 sFr.

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Thema

Laien und in Pflege und Palliative Care beruflich Tätige begleiten tagtäglich trauernde Angehörige und Patienten. Fachpersonen wie Betroffene interessiert dabei, was in Trauernden vorgeht und was ihnen gut tut. Sie möchten Orientierung darüber, was im weitesten Sinne „normale“ Ausdrucksformen von Trauer sind, und sie möchten erkennen können, wann das Leben von Trauernden so nachhaltig beeinträchtigt wird, dass fachliche Hilfe angeraten ist. Seit einigen Jahren stehen Trauer und Trauernde wieder im Fokus des Forschungsinteresses. Dieses Buch führt dazu Fachwissen, Erfahrungswissen und Handlungswissen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen.

Obwohl Pflegende und in der Palliative Care Tätige oft meinen, sie wüssten, was in trauernden Personen vor sich geht, zeigt sich in der Praxis eine grosse Verunsicherung. „So stellt sich die Frage: kann eine Pflegefachperson den Gefühlen und Verhaltensweisen Trauernder begegnen, so dass sie sich verstanden fühlen? Wie gelingt es, Trauernde zu unterstützen ohne ein Erfolgsrezept anzubieten? „Mitfühlenden Nähe, Präsenz und die Fähigkeit zuzuhören“ sind Basiskompetenzen. Doch die professionelle Sorge erfordert mehr: „professionelles Engagement, Wissen und Können, das die Fähigkeit von Laien deutlich übersteigt“ (S. 17). Dieses Engagement in belastenden Situationen aufrecht zu erhalten, ist eine komplexe Aufgabe. Pflegende sind einerseits als spürbares Gegenüber in der Begegnung mit Patienten und ihren Angehörigen persönlich gefordert, sind aber andererseits auch selbst Mittrauernde. Zugleich gehören sie einem interdisziplinär arbeitenden Team an. Gesundheitliche Probleme bis zum Burnout sind nicht selten Folgen dieser Belastung. Erst vor kurzem kam die Trauer der Professionellen, die ständig Zeugen vielfacher Verluste sind, in den Blick der Fachwelt (s. Bailey, Murphy & Porock 2011; Hall & Høy 2011). Als „Palliative Care“ bezeichnet man die umfassende, bedürfnisorientierte und schmerzlindernde Versorgung von Menschen mit einer nicht heilbaren Erkrankung und begrenzter Lebenserwartung. Sie ist darum besorgt, in dieser Situation die bestmögliche Lebensqualität zu erreichen und ein würdiges Sterben zu ermöglichen. Das soll durch eine interdisziplinäre Betreuung erreicht werden, zu der neben Fachkräften aus Medizin, Pflege, Sozialer Arbeit und Religion auch Freiwillige gehören. Unterschiedliche Therapieangebote ergänzen dabei die Arbeit des Kernteams. In diesem komplexen Gefüge von Professionellen verschiedener Berufsgruppen und aus unterschiedlichen Disziplinen, Patienten, Freiwilligen und Angehörigen ist Trauer und Trauern ein zentrales Thema.

Herausgeberin

Erika Schärer-Santschi, diplomierte Pflegefachfrau HF, MAS Palliative Care; ausgebildete Trauerbegleiterin mit eigener Praxis; Berufsschullehrerin für Gesundheits  und Krankenpflege und Dozentin, NLP Master.

Aufbau und Inhalt

Die Herausgeberin macht in diesem Band gegenwärtig verfügbare wissenschaftliche Erkenntnisse zugänglich, stellt neue methodischen Zugänge vor und gibt berufliche Erfahrungen für die Praxis von Palliative Care und Pflege weiter.

Mit mehreren eigenen Kapiteln und Beiträgen weiterer Autoren schlägt die Herausgeberin den Bogen vom aktuellen wissenschaftlichen Diskurs und der gegenwärtigen Forschungslage über den Berufsalltag verschiedener Professionen bis hin zu den trauernden Patienten, ihren Angehörigen und den Pflegenden.

Dabei werden die fachlichen Kontroversen im Ringen um ein richtiges Verständnis von Trauer und Trauern in der Palliative Care nicht geglättet. Es gibt aber eine Wende weg von der Freudschen Sicht, dass man Trauer „überwinden“ und das betrauerte geliebte Objekt „loslassen“ müsse, ja, dass Trauer eine Krankheit sei. Die gegenwärtige Diskussion zeigt, dass es vielmehr um die Integration des betrauerten Menschen oder Gegenstandes in eine neue, andersartige Art der Beziehung geht (Kachler 2011). Trauer wird als Gefühl verstanden, das sich durch das ganze Leben hin immer wieder meldet und beachtet werden will. Viele Ausdrucksformen von Trauer erschienen dadurch normaler als vorher. Das hat Folgen für das Handeln der Trauerbegleiter. Die Wünsche der Trauernden nach Zeit und nach Ausdrucksmöglichkeiten für ihre Trauer werden eher akzeptiert. Die sich verändernden Beziehungsformen der Trauernden zu betrauerten Personen oder Objekten werden differenzierter und wertschätzender wahrgenommen, werden weniger schnell als abweichend oder krankhaft stigmatisiert. Das führt zu einer bedürfnisorientierten Ausrichtung und zu einer neuen diagnostischen Bewertung in der pflegerischen, medizinischen und psychologischen Betreuung. Diese veränderte Haltung verlangt nach flexiblen und individuellen Unterstützungsangeboten durch die Soziale Arbeit und nach sensiblen spirituellen Deutungsangeboten. Trauerbegleitung als pflegerische, therapeutische und sozialpsychologische Aufgabe steht vor einer Entwicklung, zu der dieser Band Anstösse gibt.

Das Thema wird in insgesamt sieben Kapiteln ausgelotet.

Im ersten Kapitel erarbeitet Erika Schärer-Santschi Perspektiven gelingender Trauerbegleitung in Palliative Care. Sie stellt die verschiedenen Phasen und Zeiten der Begleitung von Trauernden vor. Trauer beginnt bereits bei der Diagnose einer nicht heilbaren Krankheit und geht weit über den Tod hinaus. In jeder Phase verändern sich die Themen und Bedürfnisse der Trauernden.

Für die institutionalisierte Palliative Care stellt sich vermehrt die Frage nach ihrem Auftrag gegenüber den Trauernden. Folgerichtig widmet sich denn auch der ebenfalls von Erika Schärer-Santschi verfasste erste Teil des zweiten Kapitels den institutionellen und professionellen Rahmenbedingungen. Wissenschaftliche Erkenntnisse über Trauerprozesse werden im zweiten Teil dieses Kapitels von Hansjörg Znoj, einem der massgeblichen Trauerforscher in der Schweiz, geschichtlich hergeleitet und „entmythifiziert“.

Eine Abschiedskultur in der Institution gibt der vielfältig erlebten Trauer erst einen für alle Beteiligten nachvollziehbaren Ort. Über deren Notwendigkeit und verschiedene praktische Beispiele aus Pflegeinstitutionen gibt das dritte Kapitel Auskunft, das wiederum von der Herausgeberin stammt.

Ausgewählte Aspekte der Trauer werden im vierten Kapitel in 14 kürzeren Beiträgen verschiedener Autoren angesprochen, insbesondere Trauer bei Kindern und Jugendlichen und bei Eltern, Trauer und Demenz, Gender-Aspekte der Trauer, Trauer und Schuld, Trauer und Religion, Trauer und Spiritualität, Trauer und Seelsorge, Trauer und Trost, antizipatorische (vorweggenommene) Trauer und aberkannte Trauer. Darstellungen aus Pflege, Theologie, Sozialer Arbeit und Medizin ergänzen sich dabei.

Beratungskonzepte, kreative Arbeitsformen, Foren der Selbsthilfe und der mediengestützten Trauerbegleitung sind konkrete Unterstützungsangebote, die heute zur Verfügung stehen. Erfahrungen damit werden im fünften Kapitel geschildert (das wiederum größtenteils von Erika Schärer-Santschi stammt) und daraufhin bewertet, für wen und für welchen Aspekt von Trauer sie geeignet sind.

Abgerundet wird das Buch durch ein Interview mit Colin Murphy Parkes. Er ist ein Mitbegründer der Palliative Care und vermittelt Einsichten in deren Entstehung im englischen Kontext.

Schliesslich äußerst sich die Herausgeberin in der Zusammenfassung dazu, was Trauernde brauchen, was Angebote für sie hilfreich macht; sie schließt mit einer berührenden wahren Geschichte, die zeigt, dass ganz normale Trauer ein ganzes Leben lang dauern kann.

Das umfangreiche Sach  und Namensregister erlaubt es, den verschiedenen Hinweisen in den Texten nachzugehen und selbst weiter zu forschen.

Diskussion

Wer ein theoretisch einheitliches und konsistentes Werk erwartet, wird sicherlich enttäuscht. Man hält vielmehr ein anregendes, nicht widerspruchfreies, wissenschaftlich fundiertes und praxisnahes Arbeitsbuch in Händen, das mit Beispielen und Bildern angereichert ist. Der Anspruch der Herausgeberin, ein Buch für Praktiker zu erstellen, in dem der Transfer von Theorie und Praxis wechselseitig gelingt, wird durchaus eingelöst. Die Leserinnen und Leser sind dabei aufgefordert, sich selbst mit ihrem eigenen Wissen und Können ins Spiel zu bringen, denn nicht alle Transferleistungen werden vorgekaut.

Das Buch bezieht österreichische, schweizerische und britische Trauerforschung ein. Verschiedene deutsche Ansätze, darunter der hypnotherapeutische von Roland Kachler (Kachler 2010), werden dagegen nicht erwähnt, obwohl sie im Hintergrund eine Rolle spielen. Ihre explizite Berücksichtigung hätte die Intention der Herausgeberin noch theoretisch und empirisch untermauern können.

Die Zusammenfassung (Kap. 7) enthält nebenbei einen knappen Überblick über die gegenwärtige Diskussion und Erkenntnis zu Trauerprozessen. Einer der Unterschiede, die dabei angerissen werden, sei hier aufgegriffen: Hansjörg Znoj spricht im Hinblick auf einen gelingenden Trauerprozess von einer „Copingstrategie“ als einem Wechsel zwischen Trauer als Gefühl und aufgabenorientierter zukunftsbezogener Haltung (S.42). Im Deutschen hat das Wort „Coping“ (anders als im Englischen) den Beigeschmack von Überwindung oder Abarbeitung. Schärer-Santschi dagegen gesteht der Trauer, die ja nicht pathologisch ist, einen festen Ort im Individuum zu, von dem aus sie sich immer wieder durch das Leben hindurch meldet. Trauer kann dauern. Sie muss kein Ende haben, sie wird transformiert in eine neue bleibende Beziehung. Trauergefühle können sich trotz einer tröstenden Integration des Verlustes ein ganzes Leben lang immer wieder einmal Gehör verschaffen.

Überraschend klar ist eine weitere Aussage des Buches: Trauern tut gut – nicht nur den Angehörigen, sondern auch den Pflegenden. Wie kann das sein? Trauer wird als ein Gefühl verstanden, das lebendiger Ausdruck der inneren Verbindung zu einem Verlorenen zeigt. Sie ist, sofern das nicht in die Erstarrung führt, ein energiespendender Akt, der im Dasein hält.

Fazit

In ihrem Geleitwort schreibt Margret Stroebe, Professorin für klinische Psychologie an der Universität Utrecht: „Dieses Buch ist von besonderem Wert, weil es die Aufgeschlossenheit, die Weisheit und die Expertise einer führenden Pflegefachfrau widerspiegelt“ (S. 18). Dem kann man zustimmen. Erika Schärer-Santschi gibt den Pflegekräften in der Praxis ein modernes Werkzeug in die Hände. Die Beiträge wertschätzen, was bereits an guter und wichtiger Arbeit im Bereich von Palliative Care und Pflege geleistet wird. Interdisziplinarität ist ein wichtiges Merkmal der Palliative Care und dieses Bandes. Diese Praxis soll durch theoretische und forschungsbasierte Erkenntnisse vertieft, durch methodische Weiterführungen professionalisiert und durch praktische Erfahrungsberichte erhellt werden. Zu diesem Zweck wurden die Texte in einer einfachen und verständlichen, oft erzählenden Sprache verfasst. Das Buch lädt zum Dialog ein, zur Auseinandersetzung, zum Weiterarbeiten.

Literatur

  • Cara Bailey / Roger Murphy / Davina Porock (2011): “Professional tears: developing emotional intelligence around death and dying in emergency work?, Journal of Clinical Nursing 20, 3364-3372
  • Hall, Elisabeth O.C. / Høy, Bente (2011): “Re-establishing dignity: nurses' experiences of caring for older hospital patients?, Scandinavian Journal of Caring Sciences, Online-Vorabveröffentlichung (http://onlinelibrary.wiley.com)
  • Kachler, Roland (2010): Hypnosystemische Trauerbegleitung. Ein Leitfaden für die Praxis, Heidelberg: Auer
  • Kachler, Roland (2011): Meine Trauer wird dich finden. Ein neuer Ansatz in der Trauerarbeit. 11. Aufl., Freiburg: Kreuz

Rezension von
Prof. Johanna Kohn
Fachhochschule Nordwestschweiz
Hochschule für Soziale Arbeit
Institut Integration und Partizipation – Alter – Biographie – Ethik
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Es gibt 4 Rezensionen von Johanna Kohn.

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ISSN 2190-9245