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Rüdiger Hansen, Raingard Knauer et al.: Partizipation in Kindertageseinrichtungen

Rezensiert von Prof. Dr. phil. Kathrin Aghamiri, 20.12.2011

Cover Rüdiger Hansen, Raingard Knauer et al.: Partizipation in Kindertageseinrichtungen ISBN 978-3-86892-046-8

Rüdiger Hansen, Raingard Knauer, Benedikt Sturzenhecker: Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern! verlag das netz GmbH (Kiliansroda) 2011. 384 Seiten. ISBN 978-3-86892-046-8. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.

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Thema

Ob Bürger und Bürgerinnen demokratisch handeln wollen und können, hat weitreichende gesellschaftliche Folgen. Mit Blick auf Kinder und Jugendliche stellt sich die Frage, wo und wie diese DemokratIn werden können. „Demokratie ist die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss.„(7) Mit dieser Feststellung leitet Oskar Negt sein Vorwort zu dem von Hansen, Knauer und Sturzenhecker gemeinsam verfassten Buch „Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern!“ ein und verweist damit auf die elementare Verknüpfung von Partizipation als das Recht und die Möglichkeit, sich im gesellschaftlichen Rahmen einbringen und beteiligen zu können, und der Herstellung und Notwendigkeit von demokratisch organisierten Bildungsprozessen.

Partizipation ist darüber hinaus seit dem 8. Jugendbericht (1990) auch ein zentrales Struktur- und Handlungsprinzip der Sozialen Arbeit im Allgemeinen und der Kinder- und Jugendhilfe im Besonderen. In dieser Eigenschaft wird sie in den meisten Konzepten der Kinder- und Jugendhilfe gefordert und verkommt doch oftmals in der Realität zur „Spielwiese“ oder zum Feigenblatt pädagogischer Legitimation – nach dem „Motto„: Beteiligung ja – aber erst, wenn wir alle so weit sind. Demokratische Beteiligung in der Kindertageseinrichtung scheint dabei randständig. Die Kleinsten? Unvorstellbar! Wie soll das funktionieren? Wie soll Beteiligung denn mit Kleinstkindern gehen?

Dieser Einschätzung und den sich daraus ergebenden Fragen stellt das vorliegende Handbuch ein vielversprechendes, umfassendes, demokratiepädagogisches Konzept von Beteiligung entgegen und entwickelt erstmalig den Partizipationsbegriff für die Kindertageseinrichtung sowohl theoretisch fundiert als auch praxisgerecht aufgearbeitet. Die drei Autor_innen gehen davon aus, dass Beteiligungsmöglichkeiten von Kindern in der Realität maßgeblich von der Bereitschaft und der Fähigkeit der erwachsenen Pädagogen und Pädagoginnen abhängen, Partizipationsgelegenheiten herzustellen, den Beteiligungsprozess zu begleiten und reale Entscheidungsmacht reflektiert und bewusst abzugeben. Die Analysen und Handlungsanregungen basieren dabei vor allem auf den Erfahrungen des Modellprojekts „Die Kinderstube der Demokratie“ in Schleswig-Holstein, das von 2001 – 2003 durchgeführt wurde und die Grundlage für weitere Projekte in verschiedenen anderen Bundesländern war und ist.

Rüdiger Hansen, Raingard Knauer und Benedikt Sturzenhecker geben mit diesem Handbuch allen, die sich in Theorie, Politik und Praxis mit der Partizipation von Kindern in Kindertageseinrichtungen beschäftigen, ein gut lesbares, mit zahlreichen Beispielen unterfüttertes Instrument an die Hand, das die oben gestellte Frage beantworten hilft: Ja! Partizipation geht. Und zwar so.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in fünf Teile und wird von einem ausführlichen Anhang ergänzt:

  1. Partizipation in Kindertageseinrichtungen – Grundlagen
  2. Partizipation – Wege zu Bildung, Demokratie und gesellschaftlichem Engagement
  3. Demokratische Pädagogik – Eine Partizipationskultur entwickeln
  4. Kinder beteiligen – Didaktisch-methodische Anregungen
  5. Partizipation lohnt sich – Auswirkungen demokratischer Beteiligung von Kindern in Kindertageseinrichtungen

In ihrem Einführungstext fassen Hansen, Knauer und Sturzenhecker die zentralen Ergebnisse des Modellprojekts „Die Kinderstube der Demokratie“ zusammen: Partizipation ist ein Schlüssel zu Bildung und Demokratie (12), Partizipation gelingt nur, wenn die Erwachsenen dazu bereit sind, Kinder zu beteiligen (11), die Erwachsenen brauchen dafür methodische Kompetenzen (12), die sich durch Erfahrung und Reflexion erweitern und verfestigen (12). Des Weiteren werden durch die Auseinandersetzung mit dem Thema Kinderrechte und Machtabgabe mit hoher Wahrscheinlichkeit Teamentwicklungsprozesse ausgelöst, die sowohl zur Stärkung als auch zur Trennung von Teams führen können (12). Bereits hier wird deutlich, dass das Handbuch zentrale Fragen pädagogischer Grundhaltung berührt.

1 Partizipation in Kindertageseinrichtungen – Grundlagen

Diese Grundhaltung entwickeln die Autor_innen im ersten Kapitel des Handbuches von der Frage ausgehend, welche Berechtigung den Kindern zugestanden wird, über sich selbst und den Alltag in der Kindertageseinrichtung mitzuentscheiden (18). „Partizipation heißt, Entscheidungen, die das eigene Leben und das Leben der Gemeinschaft betreffen, zu teilen und gemeinsam Lösungen für Probleme zu finden.“ (Schröder 1995, S. 14) Sollen Kinder tatsächlich und selbstwirksam mitbestimmen, verlangt das von den pädagogischen Fachkräften ein grundsätzliches Umdenken in der Vorstellung vom Kind: statt als hilflose Objekte von Erziehung werden sie hier als selbstbestimmungsfähige, aktive, handlungsmächtige Subjekte verstanden. Für die Partizipation in Kindertageseinrichtungen bedeutet dies, dass die Erwachsenen einen Teil ihrer Macht abgeben, indem sie den Kindern garantierte Rechte der Selbst- und Mitentscheidung einräumen. Sie gewährleisten zudem einen verlässlichen Rahmen aus Information, Transparenz, Freiwilligkeit und Unterstützung (23ff.). Eindrucksvoll arbeitet der Abschnitt heraus, dass es dabei gerade nicht darum geht, die pädagogische Verantwortung hinsichtlich der Erziehungsbedürftigkeit der Kinder abzugeben, sondern um den demokratischen Grundsatz der Notwendigkeit, Macht zu legitimieren und die Anerkennung von Machtausübung durch die Gemeinschaft der Kinder und Erwachsenen herzustellen. Die Autor_innen positionieren sich dazu, dass eine Umsetzung der Kinderrechte nur pädagogisch gelingen kann (52) und Rechte der Kinder strukturellin der Kita verankert werden müssen (56), um so die Kinder von der „pädagogischen Willkür“ der Erwachsenen zu entbinden. Ziel einer emanzipatorischen Pädagogik sei die weitgehende Mündigkeit der Subjekte, die sich in der Selbstbestimmung der eigenen Handlungen repräsentiert (84).

Das erste Kapitel verweist bereits auf konkrete Themen und Formen der Kindermitbestimmung, die in den späteren Kapiteln jeweils wieder aufgenommen und vertieft werden. Die einzelnen Abschnitte sind mit zahlreichen Beispielen aus der Praxis von Kindertageseinrichtungen unterlegt, die den jeweils entwickelten, grundlagentheoretischen Gedanken in die Realität der Praxis übertragen und transparent machen.

2 Partizipation – Wege zu Bildung, Demokratie und gesellschaftlichem Engagement

Das zweite Kapitel begründet sowohl den gesellschaftlichen Nutzen als auch den individuellen Eigensinn einer partizipativen Pädagogik. Zunächst wird deutlich, wie sich die Forderung der Eröffnung von Beteiligungsgelegenheiten mit aneignungstheoretischen Konzepten der Selbstbildung verschränken (105f.). Aneignung meint im Kern die aktive, selbsttätige Auseinandersetzung der Kinder mit den vorgefundenen Gegenständen der sie umgebenden Gesellschaft/Kultur, die wechselseitig zu Veränderungen des Innen und des Außen führt. Sowohl Bildung als auch demokratische Beteiligungsformen stellen sich prozessorientiert und in ihrem Ergebnis notwendigerweise offen dar. Beteiligung an pädagogischen Projekten, die Orientierung an den Interessen der Kinder und die Mitbestimmung im gemeinsamen Alltag – elementare Inhalte einer partizipativen Pädagogik – bringen Bildungsgelegenheiten hervor, die sich auf die Selbstbildungsfähigkeiten der Kinder richten. Die Erzieherinnen und Erzieher werden in diesem Verständnis von Vermittlern zu Bildungsassistentinnen, die als Ko-Produzenten den Selbstbildungsprozess der Kinder unterstützen, aber nicht steuern (108). Demokratische Aushandlungsprozesse und die demokratische Organisation sozialer Zusammenhänge funktionieren auf diese Weise in zwei Richtungen: sie sind zum einen Aneignungsmittel, zum anderen Aneignungsgegenstand selbst, d.h. indem demokratisch strukturierte Bildungsprozesse ermöglicht werden, wird Demokratie angeeignet – und indem Demokratie durch konkretes Mitbestimmungshandeln angeeignet wird, ergeben sich daraus zahlreiche Bildungsanlässe (114). Partizipation zeigt sich auf diese Weise als ein Schlüssel zu Bildung und Demokratie, indem alle Formen demokratischer Verfasstheit – Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform (Himmelmann 2005) – in dem vorliegenden Konzept Berücksichtigung finden (115ff.). Kinder bekommen in der Kita garantierte Rechte, beteiligen sich aktiv am sozialen Leben und übernehmen Verantwortung für sich selbst und die Gruppe, bzw. Gemeinschaft (138). Beeindruckend ist, wie diese scheinbar radikale Zumutung für die (früh-)pädagogische Behütungsmentalität wiederum mit zahlreichen Beispielen beschrieben und damit vorstellbar wird.

3 Demokratische Pädagogik – eine Partizipationskultur entwickeln

Diese Argumentation konkretisieren die Autor_innen im dritten Kapitel: Um die Voraussetzungen für gelingende demokratische Selbstbildungsprozesse zu ermöglichen, sei eine partizipative Alltagskultur in Kindertageseinrichtungen zu entwickeln. „Bis jetzt hing alles vom guten Willen … des Erziehers ab. Das Kind war nicht berechtigt, Einspruch zu erheben. Dieser Despotismus muss ein Ende haben.“ Mit dieser Bezugnahme auf Korczak (1967, S. 304) plädieren Hansen, Knauer und Sturzenhecker für eine Begrenzung der pädagogischen Willkürerfahrungen der Kinder (149) und für die Einführung einer „konstitutionellen Monarchie“ (ebd.), in der garantierte Rechte im sicheren Rahmen pädagogischer Verantwortung der Erwachsenen hergestellt und wahrgenommen werden. Das Autor_innenteam stellt dafür ein grundlegendes Verfahren vor: die Verfassunggebende Versammlung (150ff.), die aus den pädagogischen Fachkräften einer Kindertageseinrichtung besteht und die Mitbestimmungsrechte der Kinder klärt. Leitende Fragen dabei sind: Was sollen die Kinder auf jeden Fall mitentscheiden? Was sollen die Kinder auf keinen Fall mitentscheiden? Die Rechte und Strukturen der Mitbestimmung können nur funktionieren und mit Leben gefüllt werden, wenn die pädagogische Beziehung im Alltag demokratisch ausgerichtet wird, d.h. eine Kultur des Dialogs an Stelle einer hierarchischen Alltagsbeziehung tritt.

4 Kinder beteiligen – Didaktisch-methodische Anregungen

Das vierte Kapitel widmet sich der Darstellung und Auswertung der methodischen Erfahrungen und Ergebnisse des Modellprojekts „Die Kinderstube der Demokratie“. Die dort entwickelten und erprobten Methoden und Verfahren – von der Vielfalt projektorientierter Beteiligungsverfahren (293ff.), über die Notwendigkeit, Fragen zu stellen, die offene Prozesse herausfordern und zulassen (262ff.), und die Kunst, die Kommunikation mit und zwischen Kindern in der Erwachsenenrolle als Moderation zu verstehen, nicht als Belehrung (287f.), bis hin zu der ausführlichen Darstellung von Entscheidungsverfahren (321ff.) – werden beispielhaft und ausführlich dargelegt und erklärt. Statt also idealistische Hoffnungen zu formulieren, wird hier gezeigt, dass Demokratie schon mit kleinen Kindern gelingen kann. Dabei schaffen es die Autor_innen, ihren eigenen Lernprozess nachvollziehbar zu machen. Auch der innere Zweifel kommt zu Wort: in grau gedruckte Passagen, die das innere „…Aber…“ (280) einer die Machbarkeit von Partizipation mit Kindern anzweifelnden Lernkultur repräsentieren, tritt die Leserin in Kommunikation mit sich selbst und dem Handbuch. Selten wurden methodische Fragen so nachvollziehbar und ermutigend aufgearbeitet.

5 Partizipation lohnt sich – Auswirkungen demokratischer Beteiligung von Kindern in Kindertageseinrichtungen

Gemeinsam mit Rehmann und Richter geben Hansen, Knauer und Sturzenhecker im fünften Kapitel einen ersten wirkungsorientierten Ausblick auf das von ihnen aufgefächerte Feld der Partizipation in Kindertageseinrichtungen. Eine erste Evaluation der Universität Hamburg in zwei Kindertagesstätten unterstützt die Grundlegungen des Handbuches: Partizipation in Kindertagesstätten ist ein Schlüssel zu Bildungsprozessen und fördert Entscheidungs- und Aushandlungsfähigkeiten der Kinder (350).

Diskussion

Das engagierte Konzept klingt einsichtig, aber in manchen Ohren vielleicht auch idealistisch. Die große Stärke des Handbuchs liegt hingegen in der überzeugenden reflexiven Aufarbeitung und Auswertung der praktischen Erfahrungen des Modellprojekts „Die Kinderstube der Demokratie“. Vorbehaltlich weiterer Forschungstätigkeiten erscheint die Verschränkung einer partizipativen Alltagskultur und Verfasstheit in Kindertageseinrichtungen mit dem Herstellen demokratischer Bildungs- und Aneignungsgelegenheiten als notwendig und sinnhaft begründet. Partizipation zu ermöglichen liegt in der Macht der Erwachsenen und hängt damit von ihrer bewussten Entscheidung ab. Darüber hinaus ist gelingende Partizipation abhängig von einer methodisch reflektierten und sorgfältigen Begleitung der kindlichen Akteure durch die Erwachsenen. Partizipation verlangt als Kultur der Anerkennung dreierlei: die Reflexion der eigenen Haltung, die strukturelle Verankerung von Entscheidungsrechten und eine dialogische Kommunikationskompetenz der Erwachsenen. Partizipation bedeutet damit nicht, die Aufgabe der pädagogischen Verantwortung, sondern im Gegenteil die Übernahme der Verantwortung von aktiver Bildungsassistenz durch die Erwachsenen. Die pädagogische Urangst, Kinder mit pseudo-demokratischen Herausforderungen allein zu lassen und so pädagogische Verwahrlosung und zwischenmenschliche Haltlosigkeit zu reproduzieren, die in dem Neuerstarken der Rufe nach einer Erziehung durch Zwang und Disziplin deutlich werden, entkräften die Autor_innen, indem sie nachvollziehbar sowohl ihre pädagogische Haltung theoretisch begründen als auch die praktische Umsetzbarkeit modellieren und reflektieren. Dies wird umso überzeugender, da sich das Handbuch in einem pädagogischen Handlungsfeld verortet, das den Betreuungs- und Schutzgedanken repräsentiert wie kaum ein zweites: die Kleinkindpädagogik.

Fazit

Das vorgelegte Handbuch kann so als ein äußerst faszinierendes pädagogisches Projekt und Konzept gelesen werden, das dem normativen Handlungsprinzip Partizipation in der Jugendhilfe ein theoretisch fundiertes, erstmalig aber vor allem praxisnahes Handlungskonzept der Partizipation von Kindern zur Seite stellt. Praktiker_innen wird eine Fülle von methodischen Bausteinen an die Hand gegeben, die stets mit Beispielen und Geschichten aus dem Feld illustriert werden, Theoretiker_innen können sich erfolgversprechend zu pädagogischer Reflexivität anregen lassen. Beides überzeugt durch die sichtbare Verbindung zu Prozess und Erfahrung in einem sorgfältig dokumentierten Praxisprojekt. Ein herausforderndes Buch, das sich elementaren pädagogischen Fragen stellt.

Literatur

  • Korzak, J. (1967): Das Recht des Kindes auf Achtung. Göttingen
  • Schröder, R. (1995): Kinder reden mit! Beteiligung an Politik, Stadtplanung und Stadtgestaltung. Weinheim und Basel

Rezension von
Prof. Dr. phil. Kathrin Aghamiri
Dipl. Sozialpädagogin
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Es gibt 3 Rezensionen von Kathrin Aghamiri.

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Zitiervorschlag
Kathrin Aghamiri. Rezension vom 20.12.2011 zu: Rüdiger Hansen, Raingard Knauer, Benedikt Sturzenhecker: Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern! verlag das netz GmbH (Kiliansroda) 2011. ISBN 978-3-86892-046-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12652.php, Datum des Zugriffs 10.11.2024.


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