Dennis Carlson, Donyell L. Roseboro (Hrsg.): Sexuality Curriculum and Youth Culture
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Beck, 10.04.2012
Dennis Carlson, Donyell L. Roseboro (Hrsg.): Sexuality Curriculum and Youth Culture. Peter Lang Verlag (Bern · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford) 2011. 385 Seiten. ISBN 978-1-4331-1000-9. 26,90 EUR.
Thema
Der vorliegende Sammelband soll den sexualpädagogischen Diskurs in Richtung eines demokratischen Verständnisses lenken, das sich auf Veränderungen von Jugend und Populärkultur einstellt. Eine demokratische Sexualerziehung bekräftige das Recht aller Jugendlichen, ihr eigenes sexuelles Ich und ihre intimen Verhältnisse zu entwickeln, und das so weit wie möglich: Vorausgesetzt wird, dass Beziehungen niemanden ausbeuten sowie dass sie einvernehmlich und aufgeklärt eingegangen werden. Dabei sei es Aufgabe der Sexualpädagogik, dass Jugendliche sich kritisch mit Vorgaben aus Populär- und Jugendkultur auseinandersetzen.
Herausgeber und Herausgeberin
Carlson ist Professor für Cultural Studies der Erziehung und Bildung, Roseboro ist Assistenz-Professorin für Sekundarschulbildung – auch ihr Hintergrund sind Cultural Studies. Beide lehren an US-amerikanischen Universitäten.
Entstehungshintergrund
Die Ausgangsthese des Sammelbandes lautet, dass der Lehrplan in Sachen Sexualität für Jugendliche heute hauptsächlich erlernt wird über die Populärkultur und über die Jugendkultur. Schule spiele zwar eine Rolle: nicht nur der Sexualkundeunterricht, sondern noch mehr eine Art heimlicher Lehrplan, der in schulischen Ritualen des Alltags ein stillschweigendes Wissen vermittelt, das in die Konstruktion des sexuellen Selbst eingeht. Mindestens ebenso wichtig seien aber Kinofilme, Fernsehen, Musikvideos oder Videospiele und Orte wie das Shoppingcenter oder andere Treffpunkte von Jugendlichen.
Aufbau
Der Sammelband besteht aus einer Einleitung und dreiundzwanzig Beiträgen. Diese sind lose vier Teilen zugeordnet:
- „Ein Rahmen für sexuelle Bildung“ – theoretische Perspektiven einer Neuausrichtung;
- „Sexualität und jugendliche Subkulturen der Verschiedenheit“ – an Schnittpunkten wie Klasse, Rasse, Gender und sexuelle Orientierung;
- „Sexualität Jugendlicher im Film“;
- „Darstellungen jugendlicher Sexualität in Literatur, Fernsehen und virtuellen Medien“ (Übersetzung C.B.).
Inhalt
Der Theorieteil beginnt mit einem Beitrag Carlsons, in dem er die Sexualpädagogik als Gebiet der Cultural Studies und einer kritischen Erziehungswissenschaft verortet. Bezug nimmt er auf die US-amerikanische Jugend und US-amerikanische Populärkultur, und er beleuchtet Unterschiede zur üblichen Sexualerziehung. Weitere Beiträge befassen sich mit einer Ethik der gegenseitigen Sorge oder mit der Frage, was ein authentisches Begehren in einer kapitalistisch geprägten Kultur ausmacht. Beendet wird der Theorieteil durch eine Reflexion zur Sexualität und Intimität autistischer Jugendlicher.
Der zweite Teil versammelt eine Anzahl qualitativer Studien dazu, wie das Thema Sexualität sich in verschiedenen jugendkulturellen Kontexten darbietet. Dabei beziehen sich mehrere Beiträge zunächst auf die Schule: auf den Sexualkundeunterricht und spezielle Projekttage. Es wird gezeigt, wie geschlechterspezifische Sichten sich bilden und in Szene gesetzt werden, wie der heimliche Lehrplan wirkt und wie der Unterricht Mädchen mehr als Jungen in eine konflikthafte Lage bringt, wenn er die nachteiligen Konsequenzen sexueller Handlungen hervorhebt, er nur aus Vorträgen zwecks Informationserfassung besteht und wenn er die richtige Entscheidung der Einzelperson betont.
Die weiteren jugendkulturellen Kontexte, die teilweise bezogen auf Schule diskutiert werden, sind: der Ausdruck von Rasse, Gender und Sexualität durch Rap-Musik, eine überlegen-offensive Männlichkeit afroamerikanischer Jungen, eine Pubertätszeremonie der Navajo-Indianer, der Schulball („Prom“) und „Drag Kings“ (junge Frauen, die theatralisch als Männer auftreten). Betrachtet werden unter anderem Deutungen aus Sicht der Beteiligten, Auswirkungen auf die Lebenspraxis, die institutionelle Durchsetzung, aber auch die Durchkreuzung normierter Vorstellungen von Sexualität und die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Identitäten.
Der dritte Teil untersucht unterschwellige Botschaften bezüglich Sexualität in populären Filmen, die für Jugendliche auf den Markt gebracht werden. Am Anfang dieses Teils steht der Wiederabdruck eines Essays des bekannten US-amerikanischen Kulturkritikers und kritischen Erziehungswissenschaftlers Henry Giroux von 1997: Jugendliche würden demnach in der Medienkultur als wachsende Bedrohung für die öffentliche Ordnung angesehen – nicht nur wegen ihrer angeblich sexuellen Dekadenz, sondern auch wegen ihrer Kriminalität, Versessenheit auf Drogen und Ungebildetheit.
Der nachfolgende Beitrag betrachtet auf Jugendsexualität bezogene Themen in Hollywood-Filmen der vergangenen dreißig Jahre, wobei Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden, etwa Homophobie, sexuelle Leistung oder weiblicher Selbstwert durch sexuelle Anziehungskraft. Spezifischer auf einzelne Filme gehen dann die folgenden Beiträge ein – „She?s the Man“(2006) und „Just One of the Guys“(1985): Filme, die mit der Gender-Thematik spielten, letztlich aber Konformität einforderten. Bekanntere Filme sind:
- „Juno“ (2007): Der Beitrag untersucht aus einer feministischen Warte die Verkörperung von Teenagerschwangerschaft.
- „The Twilight Saga“ (seit 2008): Im zugehörigen Beitrag ist das vorrangige Thema die Ideologie der sexuellen Abstinenz.
Der letzte Teil des Sammelbandes bezieht sich eher auf gemischtes Untersuchungsmaterial, wobei Herausgeber und Herausgeberin das Thema Identitätsbildung als gemeinsamen Nenner betrachten. Der erste Beitrag greift zurück auf die Anfänge des US-amerikanischen Romans, auf Literatur, deren psychosexuelle Dynamik auch heute noch ein Echo finde; im zweiten Beitrag werden sodann gängige schulische Texte zur Sexualität analysiert, wobei der heimliche Lehrplan infrage steht. Wie LehrerInnen selbst die Sexualität Jugendlicher wahrnehmen, ist Gegenstand der folgenden Untersuchung: Zu den wichtigsten Wahrnehmungseinflüssen zählt demnach die Mainstream-Populärkultur.
Die drei letzten Beiträge liegen außerhalb des Kontextes Schule: Sie betreffen Fernsehshows, ein Online-Magazin und das Sexting (die Versendung sexuell freizügiger SMS oder Fotos per Handy). Welche Art sexueller Bildung wird in tagsüber ausgestrahlten Talkshows präsentiert, und zwar zu Mutter- und Vaterschaft in speziellen Vaterschaftsshows; welche Botschaften bezüglich sexueller Identität entwickeln sich beim Anschauen und Lesen eines bekannten Hip-Hop-Magazins, wenn dies online-spezifisch eher oberflächlich geschieht? In Bezug auf Sexting lautet die These, dass es sich nach einer Darstellung der Sexualität richtet, die sie zur Ware macht, sie von subjektiven, emotionalen Einflüssen befreit und sich an Pornografie orientiert.
Diskussion
Der Sammelband bietet eine inhaltliche Fülle interessant zu lesender Beiträge – allerdings mit einem sehr starken US-amerikanischen Bezug. Beispielsweise zeigt sich das in der Auseinandersetzung mit der in den USA starken „Abstinence-only“-Bewegung, worauf mehrere Beiträge eingehen. Der US-amerikanische Bezug wird teilweise schon im Titel des Beitrags bestimmt oder wird dann schnell an den Inhalten deutlich. Andererseits sind speziell die bekannteren Spielfilme auch im deutschsprachigen Raum bei Jugendlichen populär, oder Praktiken wie das Sexting finden Eingang in die hiesige Diskussion.
Nicht nur der Herausgeber und die Herausgeberin zeigen sich den Cultural Studies und einer kritischen Pädagogik verbunden, sondern zumindest implizit auch viele der AutorInnen. Es werden in den Beiträgen häufig pädagogische Anstöße gegeben, vor allem in Bezug auf die Schule. Da vielen Beiträgen qualitative empirische Studien zugrunde liegen, gewinnen die Darstellungen an Lebendigkeit (auch wenn der Sammelband völlig ohne Abbildungen auskommt, die den umfangreichen Text auflockern könnte).
Fazit
Der Band empfiehlt sich allen LeserInnen, die sich für einen aktuellen Einblick in US-amerikanische Sexualpädagogik interessieren, die einer kritischen Bewertung gegenüber offen sind und die dabei den Blick auf die Bedeutung einer vielgestaltigen Populärkultur richten mögen.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Beck
Pädagogische Forschung und Lehre
Website
Es gibt 53 Rezensionen von Christian Beck.
Zitiervorschlag
Christian Beck. Rezension vom 10.04.2012 zu:
Dennis Carlson, Donyell L. Roseboro (Hrsg.): Sexuality Curriculum and Youth Culture. Peter Lang Verlag
(Bern · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford) 2011.
ISBN 978-1-4331-1000-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12674.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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