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Ulrich Schmidt-Denter: Die Deutschen und ihre Migranten

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 09.02.2012

Cover Ulrich Schmidt-Denter: Die Deutschen und ihre Migranten ISBN 978-3-7799-2248-3

Ulrich Schmidt-Denter: Die Deutschen und ihre Migranten. Ergebnisse der europäischen Identitätsstudie. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2011. 390 Seiten. ISBN 978-3-7799-2248-3. 34,95 EUR. CH: 49,90 sFr.

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Homogenität versus Diversität

Was ist ein Europäer? Ein im geschichtlichen und kulturellen Werden geformter Angehöriger eines Kontinents? Ein doppel-(janus)gesichtiger Mensch, der vom historischen Prozess des Guten und Bösen geprägt ist (Enrique Barón Crespo, 1992)? Oder einfach nur ein auf einem geografischen (kulturellen und politischen) Konstrukt eines Kontinents geborenes, nationales Individuum? Oder eine eurozentrierte Identifikationsfigur? Gibt es so etwas wie eine „europäische Lebensart“? Gibt es vorfindbare und identifizierbare Kriterien, die einer

„differenzierten Abgrenzung des Kulturraums Europa gegenüber anderen Kulturen dienen bzw. eine kritische Hinterfragung des globalen Anspruchs der europäischen Kultur leisten“? (vgl. dazu: Michael Gehler / Silio Vietta, Hrsg., Europa – Europäisierung – Europäistik: Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, Böhlau Verlag, Wien – Köln – Weimar 2010, 543 S., in: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/9268.php). Im Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 8. Juni 1978 heißt es zur Begründung, das Thema Europa im schulischen Unterricht zu behandeln, u. a.: „Europa ist nicht nur ein geographischer Begriff. Das Europa-Bild ist wesentlich geprägt durch das gemeinsame historische Erbe und eine gemeinsame kulturelle Tradition“. Und im Entwurf der bisher nicht verwirklichten „Verfassung für Europa“ (2003) wird in der Präambel zum Ausdruck gebracht, „dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“.

Ist die Frage nach der europäischen Identität obsolet oder aktuell? Weil etwa in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt Nationen und Kontinente bedeutungslos werden? Zwar dürfte die Klassifizierungs- und Wertestufung, die Welt in Welten einzuteilen – in die Erste Welt: Europa, die Zweite Welt: Amerika, und die Dritte Welt: Entwicklungsländer, sogar in die Vierte… – überholt sein Die Frage nach der inter- und transkulturellen Bedeutung in einer globalisierten Welt wird ja überwiegend nicht mit der Utopie eines Weltbürgertums beantwortet; vielmehr mit der „lebensformbezogenen Werteethik“ und der „universalistischen Ethik der kommunikativen Konsensbildung“ (Karl-Otto Apel, 1992). Im internationalen Diskurs über Welt- und Menschenbilder wird deshalb von den „Vielfalten“ und einer „Vorstellung von einer Pluralität national oder nationalstaatlich verfasster Gesellschaften“ ausgegangen (vgl. dazu: Philip Thelen, Vergleich in der Weltgesellschaft. Zur Funktion nationaler Grenzen für die Globalisierung von Wissenschaft und Politik, transcript Verlag, Bielefeld 2011, in: www.socialnet.de/rezensionen/12557.php).

Entstehungshintergrund und Autor

In einem mehr als zehnjährigen Forschungsprojekt wurden, beginnend im Wintersemester 1999/2000, an den Universitäten Köln und Magdeburg, kurz darauf mit Eltern im Raum Köln/Bonn und Magdeburg und Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen, kulturvergleichende Untersuchungen zur „Homogenisierung der Bevölkerung hinsichtlich ihrer personalen und sozialen Identität“ durchgeführt. In einer weiteren Phase des Forschungsprojektes wurde nach den Identitätsvorstellungen und dem -bewusstsein von Jugendlichen und Erwachsenen in Deutschland (West/Ost) und in den Ländern Dänemark, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Schweiz, Österreich, Tschechische Republik und Polen gefragt. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden in den Jahren 2005 bis 2010 in 35 Forschungsberichten vorgelegt. Sie sind online unter www.schmidt-denter.de verfügbar bzw. können vom Autor angefordert werden. Das Buch „Die Deutschen und ihre Migranten“ stellt die wichtigsten Befunde des Forschungsprojektes dar.

Der Leiter des Forschungsprojektes, der Entwicklungs- und Erziehungspsychologe Ulrich Schmidt-Denter vom Department Psychologie der Universität Köln legt die bemerkenswerten Ergebnisse des Vorhabens vor, „das zunächst auf internationaler Ebene begann, schließlich mit einer genuin deutschen Problematik seinen Abschluss fand“.

Aufbau und Inhalt

Neben der Einleitung, den zusammenfassenden Schlussfolgerungen und die „Top 10“, die Auflistung der wichtigsten Fragen, auf die das Projekt Antworten geben, wird das Buch in elf weitere Kapitel gegliedert: Im ersten Teil wird die Forschungsfrage „Identität“, und zwar der personalen und sozialen Identität und den Beziehungen zwischen diesen, thematisiert und ihre theoretischen Grundlagen, Programmatiken und Konzepte diskutiert und Antworten auf die Fragen: „Wer bin ich?“ und „Wozu gehöre ich?“ gegeben. Im zweiten Kapitel wird der Untersuchungsansatz vorgestellt und das vom Forschungsteam entwickelte „Strukturmodell der personalen und sozialen Identität“ erläutert. Im dritten Teil wird über die Schritte der Untersuchungsphasen informiert.

Um schließlich im vierten Kapitel die kulturvergleichende Frage nach „Homogenisierung oder Diversität in Europa?“ zu beantworten, und zwar differenziert für die beteiligten Länder und unterschieden in den Ergebnissen bei Jugendlichen und Erwachsenen (Eltern). Gerade die Unterschiede bei den Identitätswerten, wie z. B. Selbstreflexion, Selbstkritik, Geborgenheitsbedürfnis, Informationsverhalten, Leistungsehrgeiz…, geben Hinweise auf unterschiedliche gesellschaftliche und historische Entwicklungen und Meinungsbildungen in den untersuchten Ländern, die ohne Zweifel bei der Analysierung und Innovierung bei der Bildung eines Gemeinsamen Europas und einer Erziehung hin zu einer „europäischen Identität“ hilfreich sind.

Das fünfte Kapitel thematisiert „Alters- und Geschlechtseffekte“ bei den Jugendlichen und Eltern. Es sind bemerkenswerte Aufweise von interschiedlichen Identitätsdimensionen, die sich wiederum im Vergleich der Befragten ergeben, etwa bei deutschen Jugendlichen bei der Nationalstolz-Skala und der Xenophobie-Werte.

Interessant auch die im sechsten Teil dargestellten Vergleiche zwischen Jugendlichen und Eltern, die sowohl bekannte Übereinstimmungen bzw. Diskrepanzen aufweisen, als auch Veränderungen, die sich als gesellschaftliche oder modernistische Entwicklungen darstellen; etwa der Nachweis, dass die in den 1970er und 1980er Jahren bei deutschen Probanden diagnostizierte Generationskluft-These in den neuen Studien nicht mehr erkennbar ist, sich jedoch z. B. in Polen, in Tschechien und in den Niederlanden verstärkt zeigt.

Das siebte Kapitel weist die Identitätsaspekte von Jugendlichen und Eltern mit Migrationshintergrund bezogen auf die jeweils einheimische Bevölkerung aus. Auch wenn die zur Verfügung stehende Datenlage einen Vergleich nicht mit allen beteiligten Ländern zuließ, sondern nur zwischen Deutschland, Dänemark, Luxemburg, Frankreich, der Schweiz und Österreich, zeigen sich doch bei den Einstellungs- und Zugehörigkeitsgefühlen eher gleiche als unterschiedliche Dyaden.

Im achten Kapitel wird die „nationale Identität“ als interkultureller Vergleichsmaßstab thematisiert. In der Unterscheidung und Abgrenzung zu Nationalbewusstsein und Patriotismus ist nationale Identität „als die Gesamtheit der Einstellungen zu einer wie immer definierten Nation (zu) verstehen“. Sowohl bei den Autochthonen, als auch bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund werden in den untersuchten Ländern unterschiedliche Identitätstypen charakterisiert: Der nationalistische, der internationalistische, der indifferente und der patriotische Typ.

Im neunten Kapitel werden die Ergebnisse der zu den Fragebogenerhebungen ergänzend durchgeführten qualitativen Vertiefungen durch Interviews dargestellt. Es ging darum, die erhobenen Aussagen der deutschen autochthonen Teilnehmer/innen und denen mit Migrationshintergrund zu Nationalstolz, Erleben der eigenen Nation, Einstellungen zur Europäischen Union, zu Fremdgruppen und Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus analysierbarer zu machen.

Im zehnten Kapitel wurden Beziehungsmuster zwischen Merkmalen der personalen und sozialen Identität erfragt und anhand der favorisierten Forschungsmethoden des Kohärenz- und Kompensationsmodells ausgewiesen. Dabei kommt dem Muster „reflektierendes Ich“ im interkulturellen Vergleich eine besondere Bedeutung zu.

Weil in den Untersuchungen bei den deutschen Jugendlichen und Eltern mit und ohne Migrationshintergrund die Auseinandersetzung und Erinnerungskultur mit dem Holocaust im Nationalsozialismus einen dominanten Stellenwert einnimmt, wird im elften Kapitel die Frage danach gestellt, ob diese Einflüsse auf Identitätsentwicklung und -probleme haben. Besteht zwischen dem sowohl in anderen relevanten Forschungsergebnissen wie auch in der europäischen Identitätsstudie festgestellten deutlichen Abfallen der Einstellung zur Nation im Alter von etwa 15 Jahren ein Zusammenhang damit, dass in den schulischen Lehrplänen überwiegend in der Jahrgangsstufe 9/10 die Behandlung des Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht ansteht? Dazu wurden eine Lehrplananalyse für die deutschen Bundesländer durchgeführt und die Bildungs- und Erziehungseffekte der „Holocaust Education“ analysiert. Herausgehoben wird, dass bestimmte didaktische Vorannahmen und Zielsetzungen dabei wissenschaftlich bisher nicht abgesichert sind und die spärlichen Forschungsergebnisse darüber in der Praxis der (schulischen) Identitätsbildung eine Reihe von Fehleinschätzungen sowohl bei den Lehrkräften, beim Lehrer-Schüler-Verhältnis und unter den SchülerInnen vorfindbar sind. Die Wirkungen auf die Identitätsentwicklung bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind in dem Zusammenhang noch deutlicher und dramatischer zu erkennen als bei den Autochthonen.

Fazit

Das Forschungsprojekt zur personalen und sozialen Identität von Jugendlichen und ihren Eltern, das in zehn europäischen Ländern durchgeführt wurde, startete mit der sich aus der vorliegenden Literatur und den bisherigen Forschungsergebnissen sich anbietenden (Homogenisierungs-)These, dass bei der Identitätsentwicklung von Jugendlichen in Europa keine relevanten Unterschiede oder Brüche auftreten. Dies bestätigen auch die vorliegenden Untersuchungen im wesentlichen. Gleichzeitig aber zeigen sich insbesondere bei der sozialen Identitätsentwicklung kultur- und länderspezifische Besonderheiten, die die Forschungsannahme absichern, dass es ein Spannungsfeld zwischen den Polen interkultureller Homogenität und Diversität gibt. Diese Unterschiede aufgezeigt und verifiziert zu haben, kann als ein Ergebnis des Forschungsprojektes angesehen werden.

Das ist nicht wenig: denn einerseits wirken die appellativen, programmatischen und aufgesetzt wirkenden Aufrufe und Aufforderungen von Politikern, Europäer zu werden, als wiederkehrende und konsequenzlose Pflichtrufe, andererseits greifen Europaskepsis und -müdigkeit immer mehr um sich, nicht zuletzt bei Jugendlichen. Da gilt es, die Ursachen zu ergründen und die Hemmschuhe aufzuzeigen, die bei der Bildung der personalen Identität vernachlässigen, be- oder sogar verhindern, dass sich im Rahmen der sozialen (politischen) Identität ein europäisches Bewusstseins bilden kann. Die Forschungsergebnisse konnten auch eine Reihe von bisher im Wissenschaftsdiskurs gehandelten Annahmen und Theoriebildungen widerlegen bzw. relativieren. Die vom Autor als Fazit formulierten „Top 10“, als „die wichtigsten Fragen, auf die das Projekt Antwort geben kann“, sind ein Service, die einen ersten Überblick über die Forschungsergebnisse ermöglichen und neugierig machen auf die Begründungen und den Forschungsverlauf.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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ISSN 2190-9245