Sabine Bode: Nachkriegskinder
Rezensiert von Dipl.-Psychol. Wolfgang Jergas, 04.06.2012

Sabine Bode: Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2011. 302 Seiten. ISBN 978-3-608-94678-9. 19,95 EUR. CH: 29,90 sFr.
Thema
Angeblich war der Krieg schon lange vorbei, es ging wieder aufwärts und die politische Lage war insoweit geklärt, als es einen westdeutschen und einen ostdeutschen Staat gab – so konnten sie denn in aller Gelassenheit aufwachsen – die nach 1950 Geborenen. Dass 5 Jahre kein Zeitraum sind, in dem die Schrecken von Diktatur und Weltkrieg, von Töten und Sterben, Vertreibung und neuem Anfang der „Normalität“ Platz machen, schildert die Autorin sowohl im gesellschaftlichen Kontext als auch an vielen einzelnen, exemplarisch ausgewählten, Biographien.
Sabine Bode, geboren 1947, lebt als freie Journalistin in Köln. Nach ihren Büchern über die Kriegsenkel nun über die Generation, die auch zu deutlichen Teilen den „68ern“ – wie aktiv auch immer – zuzurechnen ist.
Entstehungshintergrund
Entstehungshintergrund waren die zahlreichen Anfragen ihrer Leser als auch im Zuge ihrer Recherchen aufgehäuftes Material, das sie hier in Buchform vorlegt.
Aufbau
In acht Kapiteln beschreibt S.Bode die personale Situation der Nachkriegskinder als da sind die Situation der Kindheiten allgemein („Der Krieg war aus und überall“), von „Vatertöchtern“ und „Söhnen im Schatten“, von „Nachkrieg und Kinderdressur“, von der „DDR-Variante“ und der Orientierungslosigkeit in der Zeit. Fünf der acht Kapitel werden durch meist wörtlich wiedergegebene Interviews von Zeitzeugen oder von Menschen, die sich mit dieser Zeit auseinandergesetzt haben, abgerundet.
Inhalt
„Der Krieg war aus und überall“, so überschreibt Bode das erste Kapitel. Die Jahrgänge bis 1953, die sie als die „älteren“, die „früh geborenen“ einteilt, noch umgeben von vielen Ruinen und erst spärlichen Erfolgen der Eltern, fragen die Eltern nicht mehr so drängend wie die Kriegskinder, sondern setzt eher an einer Kriegsteilnahme an: mehr, um genaueres zu Wissen, und nicht, um sich unreflektiert mit nachgelassenen oder identifikatorischen Schuldgefühlen zu plagen. Hemmungen macht Bode auch in dieser Generation aus, etwa, wenn es um das ungebrochene Nationalbewusstsein geht, da sind die Schranken noch gesetzt, die Freude, Deutsch zu sein, nicht ungebremst.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der „gut getarnten Vergangenheit“. Aus einem längeren Interview heraus beschreibt die Autorin, wie die Familien, die nach dem Krieg „intakt“ sein konnten (Vater heimgekehrt, Mutter und Kinder zusammen) mit den Kriegserfahrungen der Väter umgingen: durch Verschiebung der Auseinandersetzungen um die persönliche Schuld auf die politischen Konstellation (sich gegen die Russen gewehrt haben zu müssen), durch politisches Interesse und diskussionsfreudige Atmosphäre einerseits, ausklammern persönlicher Gefühle oder Entwicklungen (Pubertät, nationalsozialistisch eingestellte Lehrer) andererseits.
Mit „Vatertöchter“ und „Söhne im Schatten“ sind das dritte und vierte Kapitel überschrieben – naheliegend, um was es geht. Ihre Intervieweten sind u.a. ein 1924 geborener Leutnant der Wehrmacht, der in russischer Kriegsgefangenschaft eine relativ gute Position in Moskau innehatte und ein 1912 geborener Metzgergeselle, der den Krieg als Koch erlebte, aber auch von sich sagen kann, dass er vieles weiß (von den Einsätzen der Wehrmacht neben den Kampfeinsätzen), aber „darüber nicht reden“ möchte. Wie S.Bode schreibt: ein „Rückblick ohne Glorifizierung und Rechtfertigungen. Keine Rede von Jugend, Kraft und großem Abenteuer. Aber auch keine Rede von schlecht vernarbten Wunden oder seelischen Belastungen. Friedrich S. gehörte zu jenen, die später schwiegen, aber er war kein Verdränger.“ (S. 151)
Das fünfte Kapitel,“Ermittler in eigener Sache“ geht der Frage nach, was passiert, wenn die Fragen der Kinder beantwortet werden. An zwei Beispielen und in einem Interview mit einem Historiker wird deutlich, dass es nicht ausreicht, sich verbal von den gewussten und gespürten Erlebnissen der Eltern zu lösen, die als Charakterinstanzen doch in uns weiterleben und dass es andererseits eine große Befreiung sein kann, sich der Täterschaft der Eltern zu vergewissern – auch um auseinanderzuhalten, was nicht zusammen passt und um die Wahrheit keinem Versöhnungszwang zu opfern.
Wie die Tochter eines nationalsozialistischen Vaters der Autorin sagt, die zwar in Folge ihrer Recherchen das einsame Kind im einsamen Mann erkennt und „gewisse mütterliche Gefühle“ für ihn retrospektiv entwickelt: „eines kann ich meinem Vater nicht verzeihen: das, was er als aktiver Propagandist des Rassenwahns den Opfern angetan hat, direkt und indirekt. Hier verläuft die absolute Grenze jeder familiären Aufarbeitung.“ (S. 178)
In dem das Kapitel abschließenden Interview versucht der Historiker Sönke Neitzel eine Antwort auf die Frage, wie das Wehrmachtssystem dazu beitrug, die rassistischen Eroberungskriege durchzuführen, warum die Wehrmachtsausstellung nötig war und aus welcher Mentalität heraus Vernichtungsfeldzüge passierten. Sozialpsychologische Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten, die keineswegs nur, „wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen“ (Goethe,Faust I, Vers 862f.) stattfinden sondern denen leider auch die eigenen Familienmitglieder unterlagen. Aber: wie die Autorin und auch der Historiker feststellen: „So etwas will man über die eigenen Eltern nicht wissen. Die Wahrheit hätten wir als junge Menschen nicht verkraftet. Muss man diesen Vätern für ihr Schweigen danken ?“ (S. 193)
Wieviel Wahrheit wollen wir tatsächlich hören?
In dem Kapitel „Die DDR-Variante“ läßt Sabine Bode den Pfarrer Wolfram Hülsemann zu Wort kommen über seinen Kriegsvater und den Umgang der DDR mit der NS-Zeit, das Interview nimmt denn auch ca. zwei Drittel diese Kapitels ein.
„Nachkrieg und Kinderdressur“ die Kombination des siebten Kapitels beschreibt die Kontinuität der schwarzen Pädagogik nach dem 2.Weltkrieg und die Mühsal, andere Erziehungsparameter festzulegen. Wer hat sie nicht noch im Ohr, die Parolen: „Das ist nichts für Kinder“, „Sei keine Memme“, „Nun hör schon auf zu Heulen“, „Dazu bist Du noch zu klein“, meistens gefolgt von „das verstehst Du noch nicht“.Das, was da nicht verstanden werden sollte, was an Fragen unbeantwortet blieb, waren ja nicht immer die großen schuldbeladenen oder -behafteten Ereignisse während des Russlandfeldzuges, in Griechenland oder Italien – schon die kleinen Fragen, wie das als Soldat war, wenn es keine Urlaube gab oder ähnliches wurden entweder nicht beantwortet oder durch vage und nur halbwahre Antworten vernebelt, so dass das Fragen irgendwann unterblieb. Der Psychotherapeut Jürgen Müller-Hohagen schildert, wie dieser Nebel sich über ganze Ortschaften legen konnte, am Beispiel der Stadt Hohenlimburg im Ruhrgebiet, eine Hochburg der Nazis schon sehr früh, die dem Heranwachsenden als irgendwie nicht ganz klar zu erkennen vorkam und erst Recherchen in den 80ger Jahren enthüllten das Bild einer vom Luftkrieg bedrohten Stadt, die durchaus auch Kriegsfolgen zu erleiden hatte.
„Woher kommt Orientierung?“ (achtes Kapitel) – wenn die Väter schweigen, die Mütter sich wegducken und auch die älteren Geschwister oder Onkel und Tanten, die vielleicht weniger verstrickt waren, zu weit entfernt leben oder zu rasch gestorben sind, ehe man sie fragen konnte?
Die Autorin versucht hier verschiedene Antworten, die schlußendlich die Frage trotzdem unbeantwortet lassen. Gemeinsamer Nenner am ehesten, dass es einfache Antworten nicht gibt, dass die Väter zwar kein Vorbild mehr abgaben, aber es recht und schlecht trotzdem versucht haben so gut sie es konnten, daß ein Stehen-bleiben bei Ablehnung oder einfacher Negation ebensowenig praktikabel scheint wie nur das Gute auszusortieren und mit den schlechten Seiten irgendwie zurecht zukommen. Möglicherweise ist Pragmatismus im Umgang mit der Vergangenheit der Eltern noch das Beste, was als Erkenntnis aus den verkorksten Beziehungen der Nachkriegskinder zu ihren Vätern und Müttern zu gewinnen ist.
Diskussion
Wissenschaftliche Ergebnisse müssen sich am Einzelfall bewähren, gewonnen werden sie aus der disziplinierten Auswertung der Fülle des Materials oder aus sorgfältig zielender Beobachtung.Über die Erforschung des psychosozialen Schicksals der Kriegskinder konnte der Rezensent an dieser Stelle schon häufiger berichten. Sabine Bode liefert mit diesem Band das persönliche Erleben der nachfolgenden Generation auf die Folgen des Krieges in nachvollziehbarem und lesbarem Umfang nach und bestätigt durch die eindrücklichen Einzelbiographien, wie tief sich das Leben und Sterben oder Überleben noch in die Kinder und Enkel eingräbt. Die Fülle der verarbeiteten Interviews beleuchtet vielfältig verschiedene mögliche Eltern-Kind-Konstellationen mit ebenfalls verschiedenen politischen Orientierungen in der Zeit des Nationalsozialismus – von stillen katholischen Opponenten, von Vätern, die in ihrem Beruf als Ingenieur kriegswichtig waren, von kriegsversehrten Heimkehrern, von Schriftstellern, die sich erst Jahrzehnte später auf die Ursachen ihrer Körperbehinderung besinnen. Und von Töchtern, die erst spät die Nähe zu ihrer Familie leben können.
Fazit
Wer nach sozialwissenschaftlichen Lektüren über die Kriegskinder, Kinder des 2.Weltkriegs u.a., wissen möchte, wie diese sich selber sehen, wie diese ihre Kindheit und Jugend und die (Nicht-)Auseinandersetzungen mit ihren Soldatenvätern erleben und verarbeiten oder verleugnen, der findet in diesem Buch eine Fülle persönlicher Berichte, von den 1950er Jahrgängen und auch von deren Elterngeneration. Man verweilt nicht bei Betroffenheit, sondern versucht, zu verstehen. Fast könnte man sagen, das Buch schreibt Hartmut Radebolds „Abwesende Väter und Kriegskindheit“ (Stuttgart 2010, Klett-Cotta, vgl. die Rezension) fort für die in den 50ger Jahren Geborenen.
Wer wissen möchte, wie die jetzt und demnächst in Rente gehende Generation aufwuchs, kann sich ebenfalls hier informieren, S.Bode liefert auch Stoff für die Atmosphäre jener Zeit. Eine lohnende Anschaffung, meint der Rezensent.
Rezension von
Dipl.-Psychol. Wolfgang Jergas
Jahrgang 1951, Psychologischer Psychotherapeut, bis 2006 auf einer offenen gerontopsychiatrischen Station, 2007-2015 Gedächtnissprechstunde in der Gerontopsychiatrischen Institutsambulanz der CHRISTOPHSBAD GmbH Fachkliniken
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