Alexander Spencer (Hrsg.): Terrorismusforschung in Deutschland
Rezensiert von Tilda Roth, Sebastian Wagner, 08.06.2012

Alexander Spencer (Hrsg.): Terrorismusforschung in Deutschland.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2011.
321 Seiten.
ISBN 978-3-531-17729-8.
49,95 EUR.
Reihe: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Sonderheft - 1.
Vorbemerkung
Im Vorwort des vorliegenden Bandes schreiben die Herausgeber u.a., dass die Autorinnen und Autoren, die sie für das Buch gewonnen haben „eine gute Mischung aus etablierten ProfessorInnen, Wissenschaftlichen MitarbeiterInnen und NachwuchswisssenschaftlerInnen“ (s. 7) darstellen. Dieser Hinweis veranlasste Prof. Dr. Wolfgang Frindte ein Lehrexperiment zu wagen und diese Rezension gemeinsam mit zwei NachwuchswissenschaftlerInnen zu verfassen, von denen die eine mit ihrer Bachelor- und der andere mit seiner Masterarbeit beschäftigt ist. Die Beiträge des vorliegenden Bandes wurden also von drei Personen gelesen, gemeinsam diskutiert und letztlich von zwei Personen verfasst.
Entstehungshintergrund und Thema
Die Terroranschläge des 11. September 2001 haben die Welt verändert. Die internationale Forschung, aber auch die deutschen WissenschaftlerInnen haben darauf reagiert. Zumindest für die Politikwissenschaft, die Geschichtswissenschaft und das Völkerrecht lässt sich – wie die Herausgeber in der Einleitung und Kapitel 1 zeigen - nachweisen, dass die Folgen von 9/11 zu zentralen Forschungsthemen wurden. Und so haben sich die Herausgeber des Bandes das Ziel gesetzt, eine Bestandsaufnahme der deutschen Terrorismusforschung zu erbringen, das Forschungsfeld von anderen Forschungsfeldern abzugrenzen und den „spezifisch ‚deutschen Beitrag‘ innerhalb des Forschungsfeldes herauszuarbeiten“ (S. 12). Die in diesem Sammelband vereinten Beiträge beschäftigen sich dabei sowohl mit konzeptionellen, theoretischen und empirischen Fragen des Forschungsfeldes Terrorismus als auch mit verschiedenen Methoden der Terrorismusforschung.
Herausgeber
Alexander Kocks ist Diplomsozialwissenschaftler am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximillians-Universität München und arbeitet an einem Dissertationsprojekt zu internationalen Friedensmissionen und den damit verknüpften nationalen Interessen. Alexander Spencer hat 2010 promoviert, ist als wissenschaftlicher Assistent ebenfalls am Geschwister-Scholl-Institut tätig und beschäftigt sich momentan mit Fragen der Vergebung oder Aussöhnung (reconciliation) nach terroristischen Ereignissen. Kai Harbrich ist Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Internationale Politik und Konfliktforschung an der Universität der Bundeswehr in München.
Aufbau
Die im Band vereinten Beiträge sind drei Teilen zugeordnet.
Zu Teil I
Im ersten Teil wird die deutsche Terrorismusforschung in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen beleuchtet. Dabei geht es vor allem um die Frage, „welche Einsichten ergeben sich, wenn das Phänomen Terrorismus aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Blickwinkeln betrachtet wird“ (S. 14).
Eingeleitet wird dieser erste Teil des Bandes mit dem Kapitel 2 und dem Beitrag von Christopher Daase (Professor für Internationale Organisation an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.) und Alexander Spencer: „Stand und Perspektiven der politikwissenschaftlichen Terrorismusforschung“. Die Autoren liefern einen guten Einstieg in das Thema des Bandes und eine gelungene Darstellung der bisherigen Erkenntnisse und Problemstellungen sowie zukünftiger Perspektiven relevanter politikwissenschaftlicher Fragen bezüglich der Terrorismusforschung. So zeigt sich mit den Worten der Autoren, dass sowohl die traditionelle als auch kritische Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Terrorismus‘ oft mit denselben Problemen behaftet zu sein scheinen und Schwierigkeiten bezüglich einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung evozieren.
Im Kapitel 3 gelingt es Mindia Vashakmadze (Institut für Völkerrecht und Europarecht an der Georg-August-Universität Göttingen) die Crux deutlich zu machen, die sich auftut, wenn Terrorismusbekämpfung an die Grenzen des aktuell fixierten Völkerrechts zu gelangen scheint.
Dennis Bangerts Beitrag (Diplomsozialwirt am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg) (Kapitel 4) zu Rational Choice und Spieltheorie in der Terrorismusforschung versucht die Erklärung terroristischer Rationalität und den Kampf gegen den Terrorismus, sozusagen spielerisch darzustellen. Dabei erscheinen jedoch die spieltheoretischen Modelle und die Verwendung von wirtschaftswissenschaftlichen Begriffen, um dem Terrorismus und der Terrorismusabwehr auf die Spur zu kommen sehr abstrakt und etwas verstörend.
Sylvia Schraut (Professorin am Historischen Institut der Universität der Bundeswehr in München) zeigt im Kapitel 5 sehr eindrucksvoll den Beitrag, den die Geschichtswissenschaft zur Erforschung des Terrorismus geleistet hat; wie wichtig es aber auch für die historische Quellenarbeit (und nicht nur für diese; die Rezensenten) ist, auf eine einheitliche Terrorismusdefinition zurückgreifen zu können. Erhellend sind ebenfalls die mittels historischer Terrorismusanalyse erbrachten Nachweise, dass die Erscheinungen, Aktionen und Folgen des modernen Terrorismus so neu nun auch wieder nicht sind.
Zu Teil II
Im zweiten Teil des vorliegenden Bandes werden aktuelle Forschungsbefunde zu Ursachen, Interpretationen, Prozessen und Folgen des Terrorismus vorgestellt. Eingeleitet wird dieser Teil mit dem Beitrag (Kapitel 6) von Christine Hikel (wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität der Bundeswehr München). Die Autorin spannt zwischen dem Ende der Weimarer Republik und den 1970er Jahren der BRD einen Bogen und weist nach, wie stark die Interpretationen und Bewältigungsstrategien im Umgang mit dem Terrorismus in der Weimarer Republik als Bezugssysteme für die bundesdeutschen Debatten nachwirkten. In ihren geschichtswissenschaftlichen Analysen gelingt es Christine Hikel sehr anschaulich nachzuweisen, dass und wie Angst vor der Unsicherheit im Lande und vor politischen Umbrüchen das Terrorverständnis zu beeinflussen vermag.
Stefanie Rübenach (wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Regensburg) unternimmt im Kapitel 7 den Versuch, die „Lebenslaufdynamik“ terroristischer Gruppen zu beschreiben. Durch eine Verknüpfung des Lebenslaufmodells nach Straßner und der Theorie zur Motivation terroristischen Verhaltens nach Creshnaw bemüht sich die Autorin die lückenhafte Betrachtung, die sie in der deutschen Forschung hinsichtlich der Entwicklung terroristischer Netzwerke wahrzunehmen meint, zu schließen. Das von der Autorin präsentierte Entwicklungsmodell terroristischer Gruppen verweist auf spezifische Entwicklungsdeterminanten, anhand derer sich vier Entwicklungsszenarien identifizieren lassen. An zwei Fallbeispielen – der Roten Armee Fraktion und der nordirischen IRA – illustriert die Autorin die Validität des Modells und kommt zu der vorsichtigen Prognose, dass auch eine Übertragung auf den neuen Terrorismus – z.B. die Betrachtung eines Phänomens wie Al-Qaida – möglich sei.
Der Beitrag von Ralph Rotte (Professor am Institut für Politische Wissenschaft an der Universität Aachen) und Christian Schwarz (wissenschaftlicher Mitarbeiter ebendort) im Kapitel 8 betont die unzureichende Wahrnehmung deutscher strategischer Ansätze zur Analyse des transnationalen Terrorismus. Die Autoren gehen dabei u.a. der Frage nach, ob sich der traditionelle, auf staatliche Akteure ausgerichtete strategietheoretische Untersuchungsansatz nicht auch auf nicht-staatliche Akteure – wie Mitglieder terroristischer Gruppierungen – übertragen lässt. Einen besonderen Schwerpunkt ihrer Untersuchung, an deren „Ende“ ein Modell zur Analyse terroristischer Gewalt stehen soll, bildet für Rotte und Schwarz die „Mobilisierungsstrategie“ von Al Qaida. Lassen sich – so könnte vermutet werden – Strategien terroristischer Gruppen definieren, dann wären auch die Defizite dieser Gruppen erkennbar und darauf aufbauend erfolgsversprechende Gegenstrategien zu entwickeln.
Eine den Rezensenten sehr entgegenkommende Auffassung vertritt Sebastian Huhnholz (Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximillians-Universität München) im Kapitel 9: Politik und Sicherheitsbehörden würden allzu schnell organisierte Gewalt von Muslimen mit dem Dschihadismus in Verbindung bringen ohne aber eine konsistente Antiterrorstrategie zu besitzen (vgl. auch Frindte, Boehnke, Kreikenbom & Wagner, 2012).
Zu Teil III
Der dritte Teil des Bandes widmet sich den Strategien der Terrorismusbekämpfung und beginnt mit dem Beitrag (Kapitel 10) von Christian Kreuder-Sonnen (Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximillians-Universität München). Kreuder-Sonnen analysiert das Vorgehen des UN-Sicherheitsrats im Umgang mit dem internationalen Terrorismus und kommt zu dem spannenden Schluss, „dass sich der Sicherheitsrat angesichts des globalen Terrorismus-Risikos als Diktator konstituiert, der über die Suspendierung des Rechts versucht, Terroristen als ‚Feinde der Menschheit‘ präventiv von der Materialisierung ihrer Gefahr abzuhalten“ (S. 251).
Demgegenüber und im Kontrast steht der Aufsatz (Kapitel 11) von Franz Eders (Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck) zur Evaluierung moderner gegenterroristischer Maßnahmen – am Beispiel des „Bundestrojaners“ – mittels kontrafaktischer Analyse. Der Beitrag ist äußerst pragmatisch und technisch aufgebaut und zeigt die Vorzüge kontrafaktischer Analyse ohne diese jedoch einer Kritik zu unterziehen.
Im Kapitel 12 bieten Hendrik Hegemann, Regina Heller und Martin Kahl (alle MitarbeiterInnen am Institut Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg) eine interessante Analyse moderner Politiken im Kampf gegen Terrorismus. Die Autoren merken kritisch an, dass Entscheidungs- und Handlungslogiken politischer Akteure in risikoreichen Situationen oft durch Handlungsdruck und Unsicherheit geprägt sind und folglich wenig funktionalistisch und kontraproduktiv erscheinen. Konkret geht es um die zentralen Fragen, wieso, wie und wann solche erklärungsbedürftigen Maßnahmen auf die politische Agenda gelangen und sich schlussendlich auch durchsetzen. Mit Überlegungen zu möglichen Entscheidungs- und Handlungslogiken bieten die Autoren folglich einen deutlichen Mehrwert für die politikwissenschaftliche Analyse von Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung.
Abschließend (Kapitel 13) kommen noch einmal die Herausgeber (Kai Harbrich, Alexander Kocks und Alexander Spencer) zu Wort und fragen: „Beginn eines goldenen Zeitalters der Terrorismusforschung oder macht der Letzte bitte das Licht aus?“ (S. 305). Um effiziente, wissenschaftlich produktive und politisch anwendbare Terrorismusforschung zu betreiben – so kann man das Fazit der Herausgeber sicher auf den Punkt bringen – bedarf es a) einer kritischen Terrorismusforschung, b) einer interdisziplinären Anschlussfähigkeit (was die psychologisch und kommunikationswissenschaftlich orientierten Rezensenten sehr begrüßen würden) und c) einer stärkeren Betonung der Alleinstellungsmerkmale der „deutschen“ Terrorismusforschung (gemeint sind hier vor allem die politischen Erfahrungen und wissenschaftlichen Befunde über den Terrorismus in der Weimarer Republik und in der RAF-Ära).
Fazit
Nun gut: Die Herausgeber, Autorinnen und Autoren sind vor allem Politikwissenschaftler, Historiker und Völkerrechtler. Ein Überblick über die „Terrorismusforschung in Deutschland“ kann das Buch also nicht liefern. Insofern ist der Titel etwas irreführend. Dass es spannende und neue Einsichten in die Terrorismusforschung liefert, ist aber keine Frage. Und: Es kann den interdisziplinären Dialog auch mit den Vertretern jener Wissenschaftsdisziplinen, die in diesem Band entweder zu kurz gekommen sind oder gar nicht berücksichtigt wurden, auf jeden Fall befruchten. Übrigens: Die Herausgeber hatten Ende 2009 einen Call for Papers veröffentlicht, um eben auch jene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Disziplinen „jenseits der Politikwissenschaft“ (S. 7) aufzufordern, Abstracts für mögliche Beiträge einzureichen. Also sind wir auch selbst schuld, wenn wir nun als Rezensenten und nicht als Autoren fungieren.
Zitierte Literatur
- Frindte, W., Boehnke, K., Kreikenbom, H. & Wagner, W. (Hrsg.) (2012): Lebenswelten junger Muslime in Deutschland: Ein sozial- und medienwissenschaftliches System zur Analyse, Bewertung und Prävention islamistischer Radikalisierungsprozesse junger Menschen in Deutschland. Berlin: Bundesministerium des Inneren – Schriften zur inneren Sicherheit.
Rezension von
Tilda Roth
Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Kommunikationswissenschaft – Abteilung Kommunikationspsychologie
Website
Sebastian Wagner
B.A., Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Kommunikationswissenschaft – Abteilung Kommunikationspsychologie
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