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Annika Hoffmann: Drogenkonsum und -kontrolle

Rezensiert von Dipl. Päd. Michael Schabdach, 13.02.2012

Cover Annika Hoffmann: Drogenkonsum und -kontrolle ISBN 978-3-531-17994-0

Annika Hoffmann: Drogenkonsum und -kontrolle. Zur Etablierung eines sozialen Problems im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Springer VS (Wiesbaden) 2012. 330 Seiten. ISBN 978-3-531-17994-0. 39,95 EUR.
Reihe: Perspektiven kritischer sozialer Arbeit - Band 13.

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Thema

Anlässlich des 30-jährigen Bestehens der Kommission „Soziale Probleme und Soziale Kontrolle“ der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ wurde jüngst ein recht pessimistisches Bild gezeichnet, was den Zustand der Soziale-Probleme-Soziologie in Deutschland anbelangt. Folgt man der Diagnose Axel Groenemeyers (2006), dann befindet sich die deutsche Problemsoziologie angesichts eines geringen innerwissenschaftlichen Renommees und mangelnder theoretischer Innovationskraft in einer prekären Lage. Die im Folgenden zu besprechende Untersuchung von Annika Hoffmann mit dem Titel „Drogenkonsum und -kontrolle. Zur Etablierung eines sozialen Problems im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“ nimmt für sich in Anspruch, der „Soziale-Probleme-Soziologie“ neue Impulse zu verleihen. Ausgehend von dem theoretischen Konzept des „Kokon-Modells sozialer Probleme“, wie es von Michael Schetsche ausgearbeitet und in mehreren Fallstudien erprobt wurde, legt Hoffmann auf der Basis einer historischen Quellenanalyse – neben Aktendokumenten politischer Institutionen werden Presseartikel und wissenschaftliche Fachpublikationen ausgewertet – dar, welche diskursiven Bedingungsfaktoren sich dafür verantwortlich zeigten, dass Drogenkonsum – genauer: der Konsum von Opiaten und Kokain – im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als soziales Problem etabliert wurde. Der Konsum der heute nicht nur als illegal, sondern auch als gefährlich und moralisch anstößig deklarierten Substanzen stellt zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Deutschland noch kein soziales Problem im eigentlichen Sinne des Wortes dar, was freilich nicht heißt, dass Opiate und Kokain der Bevölkerung unbekannt waren. Neben ihrem Einsatz im medizinischen Bereich, z.B. bei der Behandlung von Kriegsverletzten, waren es v.a. Angestellte des medizinischen Personals, die angesichts des leichten Zugangs – der Vertrieb der Substanzen unterlag der Kontrolle von Medizinern und erfolgte über Apotheken – einen mitunter regen, allerdings von Politik und Öffentlichkeit nicht als problematisch bewerteten Konsum betrieben. Im Rahmen ihrer Untersuchung skizziert Hoffmann, wie sich diese gesellschaftliche und politische Bewertung gegenüber Drogenkonsum im Verlauf von gut zwanzig Jahren wandelte, welche Akteursgruppen für die Problemetablierung und -verfestigung verantwortlich waren und welche Diskursstrategien und Interessen diese jeweils verfolgten.

Autorin

Dr. Annika Hoffmann ist seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Pharmaziegeschichte und die historische Drogenkonsum- und Drogenpolitikforschung.

Entstehungshintergrund

Bei der Arbeit handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung einer Dissertationsschrift, die von der Autorin im Jahr 2010 an der Universität Bremen eingereicht wurde. Schon das Wissen um die Betreuung der Promotion weckt beim Leser eine gewisse Erwartungshaltung, wurde die Arbeit doch von Henning Schmidt-Semisch und Hasso Spode und damit von zwei sozialwissenschaftlichen Drogen- und Suchtforschern begutachtet, die angesichts einer langjährigen Forschungs- und einer profunden Publikationstätigkeit mit guten Gründen zu den renommierteren Wissenschaftern in diesem Forschungssegment gezählt werden können. So viel darf bereits an dieser Stelle verraten werden: Die Publikation enttäuscht die geweckten Erwartungen keineswegs.

Aufbau

Die Arbeit von Hoffmann gliedert sich in sechs Kapitel.

Im Rahmen der Einleitung (Kapitel 0) beschreibt die Autorin die Fragestellung, den Quellenkorpus und den theoretischen Rahmen ihrer Untersuchung.

Die Kapitel 1 bis 4 widmen sich der quellenbasierten Analyse der gesellschaftlichen Konstruktion des Drogenproblems vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik. Die einzelnen Kapitel nehmen dabei – auf der Basis eines den Problematisierungsprozess chronologisch rekonstruierenden Aufbaus – jeweils einen größeren Zeitabschnitt unter die Lupe: Kapitel 1 beschreibt das sukzessive ansteigende öffentliche Interesse für Betäubungsmittel bis 1919; Kapitel 2 thematisiert die Verdichtung des Wahrnehmungskokons in den Jahren zwischen 1919 und 1923; Kapitel 3 widmet sich der Problemverfestigung zwischen 1923 und 1929 und Kapitel 4 nimmt die Problemetablierung ab dem Jahr 1929 in den Blick.

Im letzten Abschnitt des Buches wird die Analyse resümierend zusammengefasst; darüber hinaus werden die Untersuchungsergebnisse im Kontext von kritischer Drogenforschung und kritischer Sozialer Arbeit eingeordnet und diskutiert.

Inhalt

In der Einleitung legt die Autorin dar, dass der gegenwärtige Blick auf die Weimarer Republik spezifisch strukturiert ist. Die erste deutsche Demokratie wird häufig als ein Zeitabschnitt repräsentiert, in welchem nicht nur erstmals die kulturelle Praxis des hedonistischen und genussorientierten Gebrauchs von Opiaten und Kokain weite Verbreitung fand, sondern – darüber hinausgehend – die erste Drogenwelle über Deutschland hereingebrochen ist. Der Konsum von Kokain und Opiaten wurde als soziales Problem erkannt. Mediziner machten das suchtbezogene Gefahrenpotential dieser Substanzen ausfindig, was zur Folge hatte, dass der Vertrieb einer rigideren Kontrollpraxis unterzogen und die Konsumenten im zunehmenden Maße als Fälle justizieller Strafverfolgungs- und medizinischer Behandlungsmaßnahmen in den Blick genommen wurden. Im Mittelpunkt der Untersuchung soll vor diesem Hintergrund die Frage stehen, „wie diese Deutung des Konsums von Opiaten und Kokain als soziales Problem entstand“ (11). Als theoretischer Referenzrahmen wird dazu das von Michael Schetsche entwickelte „Kokonmodell sozialer Probleme“ herangezogen. Entsprechend soll auf der Grundlage einer Quellenanalyse beschrieben werden, mittels welcher Diskursstrategien und von welchen Akteuren der soziale Sachverhalt „Gebrauch pharmakologischer Substanzen“ problematisiert wurde und wie sich die Wahrnehmungsfolie problematischen Konsumverhaltens etablieren und verfestigten konnte. Wie der vorliegende Forschungsstand deutlich macht, zeichneten sich v.a. drei eng miteinander verflochtene Akteursgruppen für den Prozess der Problemgenese verantwortlich: die politischen Akteure, die medizinisch-wissenschaftlichen Suchtexperten und die Tagespresse. Vor diesem Hintergrund setzt sich der von Hoffmann gewählte Quellenkorpus aus Aktendokumenten des Reichsgesundheits- und Auswärtigen Amtes und parlamentarischen Protokollen des Reichstags- und Reichrats, aus Zeitungsartikeln und aus wissenschaftlichen Fachpublikationen zum Thema Drogenkonsum zusammen.

Kapitel 1 beschäftigt sich mit der Phase der Etablierung von Drogenkonsum als sozialem Problem, wie sie sich vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs vollzogen hat. Auf internationaler Ebene wurde Betäubungsmittelkonsum bereits vor der Weimarer Republik als problematisches Phänomen eingestuft. Hoffmann macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass die deutsche Politik aufgrund der internationalen Abkommen und zwischenstaatlichen Aktivitäten unausweichlich dazu gezwungen war, sich mit dem Drogenthema zu beschäftigen. Opium entwickelte sich im Vorfeld des Ersten Weltkriegs zu einem Spielball im Kräftefeld imperialistischer Politik, da das Thema im Kontext des Opiumskonflikts von England und den USA auf die internationale politische Agenda gesetzt wurde. Dem steht gegenüber, dass der Gebrauch von Opiaten in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts von den deutschen Regierungsbehörden noch nicht als nationales Problem betrachtet wurde. Es bestand keine Veranlassung, den Konsum derjenigen Substanzen, die heute als „harte“ Drogen bezeichnet werden, strafrechtlich zu regulieren. Kokain und Opiate wurde als stark wirkende medizinische Heil-, aber nicht als zu problematisierende Suchtstoffe thematisiert. Sie unterstanden der Rezeptpflicht und wurden über Apotheken vertrieben. Zwar gab es in den Medien erste Problematisierungen, diese betrafen allerdings weniger den Konsum an sich, sondern die „unvorsichtige Verschreibung“ und die „unzulässige Abgabe an Kriegsverletzte durch Drogisten“ (56). Darüber hinaus problematisierten deutsche Medien den Betäubungsmittelgebrauch im europäischen Ausland (v.a. Frankreich). Im Rahmen einer z.T. dramatisierenden medialen Berichterstattung wurden angeblich in anderen Staaten zu registrierende Drogenexzesse ethisch disqualifiziert. Betäubungsmittel fungierten dabei mehr und mehr „als Transportmittel rassistisch-nationalistischer Stereotype (…), um die jeweiligen Gegner politisch und moralisch zu diskreditieren“ (95). Ohne dass ein innerdeutsches „Drogenproblem“ diagnostiziert wurde, wurde durch diese Thematisierungsweisen ein spezifischer Blick auf Drogenkonsum etabliert, der diesen als „bedrohlich“, „ordnungsgefährdend“ und moralisch verwerflich perspektivierte.

Kapitel 2 setzt sich mit dem Zeitraum von 1919 bis 1923 auseinander. Drogenkonsum wird innerhalb dieses Zeitabschnitts mehr und mehr als nationales Problem „entdeckt“, nicht zuletzt deshalb, weil ein neuer kollektiver Akteur die Bühne der Problematisierung betritt: die medizinischen Sucht-Experten. Wissenschaftler widmeten sich dem Thema nicht nur immer häufiger im Rahmen einschlägiger Fachpublikationen, sondern ihre Expertise wurde auch von den Medien im gesteigerten Maße in Anspruch genommen. Insgesamt überwog dabei bei den Ärzten die Einschätzung, den genussorientierten Gebrauch von Drogen als soziales Problem in den Blick zu nehmen. Kokain wurde als eine „Volksseuche“ (107) und damit als eine Bedrohung für die Gesundheit des deutschen „Volkskörpers“ stilisiert, wobei die Konsumenten zum einem als „willenlose Opfer“ der Substanz und der skrupellosen Drogenhändler, gleichzeitig aber auch als z.B. „willensschwache, psychopathisch minderwertige Menschen“ (115) thematisiert wurden. Kokainkonsumenten wurden damit zwar auf der einen als kranke und behandlungsbedürftige Personen bewertet, gleichzeitig aber als a-soziale, jenseits der herrschenden Moral- und Normalitätsvorstellungen situierte Gruppe in den Blick genommen. Die Möglichkeit eines kontrollierten Konsums von Kokain und Opiaten wurde von den Medizinern mit dem Argument des hohen Suchtpotentials dieser Substanzen zurückgewiesen. Besonders Kokainkonsum wurde als ansteckende, sich rasant ausbreitende und insofern die gesamte Bevölkerung gefährdende Krankheit thematisiert. Auffallend ist, dass die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaftlicher nicht in erster Linie auf belastbaren empirischen Studien, sondern auf eigenen praktischen Erfahrungen oder lediglich auf Mechanismen des „Hörensagens“ beruhten. „Die als Experten angesehenen Akademiker differenzierten ihre Aussagen nicht, verallgemeinerten vielmehr ihre negativen Eindrücke und blendeten dabei Informationen etwa über den unter Medizinalpersonen verbreiteten Konsum weitgehend aus“ (126). Festzuhalten bleibt, dass in den Jahren zwischen 1919 und 1923 die öffentliche, fachliche und staatliche Anerkennung von Betäubungsmitteln als Problem ihre Anfänge nahm.

Im 3. Kapitel wird der Zeitraum zwischen 1923 und 1929 unter die Lupe genommen. In dieser Phase wurden die bis heute weitgehend präsente Bewertung und der Umgang mit Betäubungsmitteln in Deutschland festgeschrieben. Dass der Konsum von Opiaten und Kokain ein an sich problematisches und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfendes Phänomen repräsentiert, wurde von politischen, medialen und wissenschaftlichen Akteuren nicht mehr in Frage gestellt. Hoffmann zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass sich die Drogenpolitik für die politischen Akteure zu einem zentralen „Vehikel“ entwickelte, „um international wieder Fuß zu fassen“ (147). Für die deutsche Politik standen hinsichtlich der internationalen Regulierungsbemühungen des Drogengebrauchs nicht gesundheits-, sondern außenpolitische Interessensmotive im Vordergrund. Durch ein resolutes Engagement im internationalen Anti-Opium-Kampf glaubte man, dass der deutsche Staat nach dem Reputationsverlust infolge des Ersten Weltkriegs auf internationalem Parkett wieder neues Ansehen gewinnen könnte. Vor diesem Hintergrund kam es 1929 zu einer Erweiterung und Verschärfung des ersten Opiumgesetzes von 1920, welches in seinen Grundzügen bis 1971 Geltung haben sollte. Erstmalig rückten mit dem Gesetz von 1929 die Konsumenten in den Blickwinkel der Rechtsprechung. Das Bestreben der Politik, Drogengebrauch strafrechtlich zu normieren, wurde ganz wesentlich durch den Diskurs der wissenschaftlichen Sucht-Experten gestützt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, zeichneten die Mediziner ein fatalistisches Bild des kokainkonsumierenden Subjekts, insofern sie ihm jegliche Möglichkeiten der Selbstkontrolle über den Konsum absprachen und ihm einen unausweichlich vorherbestimmten moralischen und gesundheitlichen Niedergang prognostizierten. Auffallend ist wiederum, dass sie ihre Erkenntnisse in den wenigsten Fällen auf solide wissenschaftliche Belege und Forschungen stützten, sondern auf der Basis persönlicher oder massenmedialer Erfahrungen referierten. Im Kontext des Bedeutungsaufschwungs eugenischer und sozialdarwinistischer Argumentationsfiguren wurden Drogenkonsumenten im zunehmenden Maße als „degenerierte Persönlichkeiten“ (204ff) beschrieben, so dass mit guten Gründen davon gesprochen werden kann, dass die Mediziner der Weimarer Republik entscheidende diskursive Vorarbeiten für die rassenhygienisch motivierte Ausgrenzungs- und Vernichtungspraxis des NS-Staates lieferten.

Kapitel 4 analysiert den Zeitabschnitt zwischen 1929 und 1933. Darüber hinaus wird am Ende jedes Unterkapitels ein den gesamten Untersuchungszeitraum bilanzierendes Fazit zur Bedeutung der einzelnen in die Problemkonstitution involvierten Akteure (Politik, Medien, Wissenschaft) gezogen. Hoffmann beschreibt in Kapitel 4, dass im Kontrast zum Ausland, wo nichtstaatliche Organisationen, wie etwa konfessionell gebundene Missionsbewegungen oder die „National Anti-Opium Association of China“, bei der Problemetablierung sehr früh eine gewichtige Rolle spielten, in Deutschland solche zivilgesellschaftliche Organisationen vergleichsweise spät auf den Plan traten. Erst gegen Ende der 1920er Jahre lässt sich laut Hoffmann ein Engagement spezifischer Moralunternehmer im Kampf gegen Opium und Kokain registrieren. Organisationen wie der „Deutsche Evangelische Missionsbund“ oder der „Deutsche Zweig der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“ positionieren sich in der Öffentlichkeit und übten auch auf reichspolitischer Ebene Druck aus, insofern sie sich für eine Intensivierung der drogenbezogenen Bekämpfungsmaßnahmen aussprachen.

Kapitel 5 trägt den Titel „Wie Opiate und Kokain von Arzneimitteln zu einem sozialen Problem wurden“. Der komplexe Prozess der Problemgenese wird in diesem Schlussabschnitt des Buches bilanzierend und interpretativ zusammengefasst. Eine der Hauptthesen Hoffmanns lautet, dass es keine stichhaltigen Belege für die auch heute noch gängige Auffassung gibt, die Weimarer Republik sei von einer Drogenwelle erfasst worden und strafrechtliche Regulierungen seien deshalb unausweichlich gewesen. Die Annahme einer die Gesellschaft bedrohenden Drogenwelle ist nach Meinung der Autorin in erster Linie auf das „Zusammenspiel von staatlicher Kontrolle und gesellschaftlicher Stigmatisierung zurückzuführen“ (299) – und nicht auf die quantitative Zunahme des Konsums und dadurch ursächlich bedingter individueller und sozialer Problemlagen. Drogenkonsum wurde im Rahmen sich wellenartig ausbreitender Aufmerksamkeitskonjunkturen mehr und mehr als problematischer Sachverhalt festgeschrieben, wobei die Substanzen insofern moralisch aufgeladen wurden, als ihr Gebrauch mit solchen Personengruppen – Prostituierten, Künstlergruppen, Ausländern usw. – assoziiert wurde, „die gesellschaftlichen Idealvorstellungen und Normen nicht entsprachen“ (ebd.). Am Ende des Buches leitet Annika Hoffmann aus den Erkenntnissen ihrer historischen Analyse Grundsätze für eine kritisch-reflexive Perspektive auf Drogenkonsum ab, wie sie ihrer Meinung nach besonders in der Sozialen Arbeit maßgebend sein sollte. Der Gebrauch spezifischer Substanzen sei nicht an sich problematisch; vielmehr werde das Drogenproblem erst durch spezifische kulturelle Diskurse und eine damit verbundene Institutionalisierung spezifischer Bekämpfungsmaßnahmen in seiner eigentlichen Struktur produziert: Konsumenten seien angesichts des prohibitiven Umgangs mit Betäubungsmitteln von Kriminalisierungs- und Ausgrenzungsprozessen betroffen, so dass nicht der Konsum von Drogen, sondern die gesellschaftlichen Interventionen gegenüber Drogenkonsum als entscheidender Bedingungsfaktor für die soziale Tatsache des Drogenproblems zu gelten hätte. Für die Soziale Arbeit müsse dies zur Konsequenz haben, den „Diskurs um immer neue Drogenwellen, um komasaufende Jugendliche, um Tabak- und Crackkonsum zu reflektieren, kritisch zu hinterfragen, zu relativieren und zu entdramatisieren“ (305).

Diskussion

Die Untersuchung Hoffmanns ist als überaus gelungen zu bezeichnen, insofern es ihr gelingt, den komplexen und vielschichtigen Prozess der Genese von Drogenkonsum als soziales Problem, wie er sich im ersten Drittel des 19. Jahrhundert gestaltet hat, minutiös und anhand akribischer Quellenarbeit zu rekonstruieren. Zwar ist es mit Blick auf den bestehenden Forschungsstand eine oft formulierte These, dass die Hintergründe des in der Weimarer Zeit realisierten Drogenverbots nicht in erster Linie im gesundheitsschädlichen Konsumverhalten, sondern „in nationalen wirtschaftspolitischen Interessen am Weltmarkt, in gesundheitspolitischen Anliegen, in berufsständischen Interessen der Ärzteschaft und der Apotheker und nicht zuletzt in xenophoben Strömungen zu suchen“(Eisenbach-Stangl u.a. 2000: 151) sind. Hoffmann kann mit ihrer Untersuchung allerdings das Verdienst zugesprochen werden, diese Hypothese erstmals auf eine mehr als solide Quellenbasis gestellt und dadurch empirisch abgesichert zu haben. Die Stärke der Arbeit besteht aber nicht nur darin, dass es der Autorin gelungen ist, die Motive und Interessenslagen der einzelnen am Problemkonstitutionsprozess beteiligten Akteure detailliert nachzuzeichnen; was die Analyse so ertragreich macht, ist - darüber hinausgehend – die Tatsache, dass Annika Hoffmann es zu Wege bringt, auf allen Stufen des Problemdiskurses die Interdependenzverhältnisse der einzelnen Akteursebenen nicht aus den Augen zu verlieren. So kann sie z.B. immer wieder zeigen, welche Relevanz die Presse oder die Sucht-Experten als jeweilige Problemdefinierer auf der politischen Ebene hatten, insofern sie die Rezeptionswege von publizistischen und wissenschaftlichen Artikeln im politischen Diskurs akribisch und detailliert nachzeichnet. Gewissermaßen en passant gelingt es der Autorin aufzuzeigen, wie wichtig eine kritisch-reflexive Quellenanalyse für historisches Arbeiten ist, da nur so zu verhindern ist, dass über den Modus von im geschichtlichen Verlauf sich tradierender und verselbständigender Zitationsketten ein spezifisches Bild einer bestimmten Epoche – wie eben die Annahme, die Weimarer Republik sei von einer Drogenflut und damit einhergehenden Suchtproblemen überrollt worden – verfestigt wird. Will man überhaupt etwas an Hoffmanns Arbeit aussetzen, so kann ein stilistisches und ein inhaltliches Defizit der Arbeit ins Feld geführt werden. Was die stilistische Kritik anbelangt, so sei der Autorin bei einer eventuellen Neuauflage des Buches empfohlen, des besseren Leseflusses wegen die aus dem französischen Sprachraum stammenden Originalzitate in einer Fußnote ins Deutsche zu übersetzen, da nicht davon auszugehen ist, dass jeder Leser der französischen Sprache mächtig ist. Inhaltlich ist die Arbeit mit einem Problem konfrontiert, dass eine konstruktivistisch orientierte Problemsoziologie immer wieder umtreibt. Gemeint ist das Phänomen des „ontological gerrymandering“ (vgl. Woolgar/Pawluch 1985), also die Manipulation der Grenzen zwischen einer objektivistischen und einer strikt konstruktivistischen Untersuchungsebene. So wirft Hoffmann z.B. an einer Stelle einem nicht namentlich genannten Autor, der sich im Jahr 1910 mit der Drogenproblematik in Paris auseinandersetzt, eine „hanebüchen[e]“ (67) Argumentation vor, insofern der Journalist ihrer Meinung nach die drogenbezogene Problemsituation in der französischen Metropole massiv überzeichnet hätte. Als Beleg für diesen Vorwurf greift Hoffmann u.a. auf eine neuere Studie einer französischen Historikerin zurück, die nachweisen kann, „dass das Bild der ,1000 Opiumhöhlen‘ in Paris nicht haltbar ist“ (ebd.). Den Vorwurf der verzerrten Realitätsbeschreibung kann allerdings nur derjenige treffen, der im objektiven Sinne weiß, wie problematisch das soziale Problem des Drogenkonsums zur damaligen Zeit unabhängig von seiner Thematisierung wirklich war. Da die Frage nach dem objektiven Problemgehalt eines sozialen Sachverhalts aus konstruktivistischen Problemanalysen per se ausgeschlossen ist, muss sich die Autorin den Vorwurf gefallen lassen, dass sie zur Stützung der eigenen Argumentation die Grenzen zwischen objektivistischer und konstruktivistischer Problemuntersuchung willkürlich verschiebt. Dieser Kritikpunkt wiegt allerdings insofern nicht so schwer, als diese Verschiebungen nur an sehr wenigen Stellen der Untersuchung zu finden sind, so dass die Analysekraft der von Hoffmann vorgelegten Untersuchung dadurch – wenn überhaupt – nur minimal verringert wird.

Fazit

Annika Hoffmans legt mit ihrer empirischen Untersuchung eine vorzügliche Arbeit vor, der das Potential zugesprochen werden kann, mit Blick auf kommende Forschungen im Bereich der (historisch orientierten) Problemsoziologie Vorbildwirkung zu entfalten. Wer etwas darüber in Erfahrung bringen will, wie sich die herrschende Sichtweise, dass der Konsum von („harten“) Drogen moralisch anstößig und sowohl für die Gesundheit des einzelnen Individuums als auch die Bestandserhaltung der gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen gefährlich ist, etablieren konnte, dem sei ein aufmerksames Studium der Monographie von Annika Hoffmann angeraten.

Rezension von
Dipl. Päd. Michael Schabdach
Universität Siegen, Fachbereich Sozialpädagogik
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Es gibt 2 Rezensionen von Michael Schabdach.

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