Inés de Castro, Ulrich Menter (Hrsg.): Weltsichten - Blick über den Tellerrand!
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 29.02.2012

Inés de Castro, Ulrich Menter (Hrsg.): Weltsichten - Blick über den Tellerrand! Verlag Philipp von Zabern GmbH (Darmstadt / Deutschland) 2011. 359 Seiten. ISBN 978-3-8053-4366-4. 29,90 EUR. CH: 41,90 sFr.
Der Mensch in seinen Welten
Völkerkundemuseen ordnen ihre Bestände und präsentieren ihre Objekte meist nach kulturgeographischen, -ethnologischen und -anthropologischen Großräumen oder „Kulturkreisen“ und vermitteln dadurch nicht selten ein Bild von Fremdheit, das oft genug Exotik und kuriose Andersartigkeit spiegelt und die „Wildheit“ und „Primitivität“ von Völkern in den Vordergrund rückt. Es waren nicht zuletzt Humanisten und Ethnologen, wie etwa Leo Frobenius (1873 – 1938), die darauf aufmerksam machten, was später in den internationalen Proklamationen, wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948), als Postulat in die Geschichte der Menschheit eingeschrieben wurde, dass alle Menschen einer Menschheitsfamilie angehören, mit Würde und Rechten geboren, mit Vernunft und Gewissen begabt sind und die kulturelle Vielfalt der Menschen auf der Erde ein bestimmendes Merkmal der Menschheit darstellt, wie dies die UNESCO im „Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen am 20. Oktober 2005 zum Ausdruck bringt, weil „Kultur in Zeit und Raum vielfältige Formen annimmt und … diese Vielfalt durch die Einzigartigkeit und Pluralität der Identitäten und kulturellen Ausdrucksformen der Völker und Gesellschaft verkörpert wird, aus denen die Menschheit besteht“.
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
Weil sich Kulturen als ebenbürtige Ausdrucksformen des intellektuellen und alltagsorientierten Daseins der Menschen in ihrem Lebensraum zeigen, ist es – auch (oder vielleicht gerade) in den Zeiten der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt – unverzichtbar, Weltbilder und -sichten auch in Museen zu präsentieren, als Begegnungs-, Vergleichs- und Konfrontationsorte des Blicks über den eigenen, kulturellen Gartenzaun hinweg; nicht zuletzt, um im Vergleich mit anderen als den eigenen Auffassungen und Gewohnheiten, zum Nachdenken über sich selbst und die Festgefügtheit der eigenen Identität zu befragen. Interkulturelle Begegnung, so ein Credo des interkulturellen und globalen Lernens, kann eine Bereicherung des eigenen Selbstbewusstseins darstellen.
Die Ethnologin und Direktorin des Linden-Museums Stuttgart, des einzigen ethnologischen Landesmuseums in Baden-Württemberg, Inés de Castro und der Projektleiter am Linden-Museum, Ulrich Menter, legen, anlässlich des 100jährigen Bestehens des Stuttgarter Museums, mit „Weltsichten“ den Begleitband zu einer bemerkenswerten Ausstellung mit dem Anspruch vor, ausgewählte Objekte aus der umfangreichen Sammlung des Museums „exemplarisch und einem Kultur vergleichenden Ansatz folgend…, den Blick auf die faszinierende Vielfalt unserer Welt (zu richten)… und die Grundfragen menschlicher Existenz und Zusammenlebens anhand der Themen Ästhetik, Raum und Zeit“ zu präsentieren.
Aufbau und Inhalt
Auch wenn die Jubiläums-Sonderausstellung mittlerweile abgeschlossen ist (8. 1. 2012), hat die Ausstellungskonzeption zum einen dazu geführt, die rund 160.000 Objekte des Linden-Museums als (inter-) kulturellen Fundus in den öffentlichen Blick zu nehmen; zum anderen aber auch mit dem Begleitband den museologischen Diskurs über Formen der Präsentation und des Vergleichs-Sehens und -wahrnehmens auf eine neue Grundlage zu stellen (vgl. in dem Zusammenhang auch: Doris Harrasser, Wissen spielen. Untersuchungen zur Wissensaneignung von Kindern im Museum, Bielefeld 2011, in: www.socialnet.de/rezensionen/11470.php, sowie: Neil MacGregor, Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten, München 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12413.php).
Der Begleitband, der gleichzeitig Katalog der Ausstellung ist, stellt die verschiedenen Blickrichtungen der kulturellen Vielfalt der Menschen in ihrer Welt dar, immer belegt und kommentiert mit ausgezeichnet reproduzierten Abbildungen von Objekten und Kulturgütern und verfasst von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Museums: Im ersten Kapitel, neben einem Grußwort des Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, einem Vorwort (und mit dem siebten Kapitel einer Geschichte des Linden-Museums) von Inés de Castro, führt die Ethnologin Ingrid Heermann in den Zusammenhang von „Ethnologie, Ästhetik und Kunst“ ein. Sie diskutiert dabei die unterschiedlichen Sicht-, Betrachtungsweisen und Handhabungen von Kulturgegenständen durch die originären Nutzer, wie die fremdkulturellen Betrachter.
Im zweiten Kapitel „Raum – Ordnung und Verortung der Welt“ reflektiert der Kurator der Afrika-Sammlung des Museums, Hermann Forkl, „Konstruktionen, Aneignung und Kontrolle von Land“, indem er Gebrauchsgegenstände und Handwerksgeräte in Zusammenhang mit mythischen Bedeutungen bringt, ergänzt durch die Darstellung von Geräten, wie sie von Bewohnern der Arktis (Nathalie Scholz), beim Reisanbau in Japan (Uta Werlich), dem Landbau der australischen Aborigines (Ingrid Heermann) und den sakralen Landschaften der Inka (Doris Kurella) benutzt werden. Mobilität als Bewegungs-, Entwicklungs- und Lebensform der Menschen, etwa auf Flüssen und im tiefen Schnee (Nathalie Scholz), mit Lamas und Booten im südamerikanischen Andengebiet (Kurella), auf Landstraßen und Seewegen in Afrika (Forkl), mit den traditionellen Orientierungsmitteln (Heermann), in der Spannweite von „Abgrenzen und Einladen“ beim Leben im Haus und in der Jurte (Annette Krämer) und dem Hausbau, am Beispiel der Batak auf Sumatra (Susanne Faller).
Das dritte Kapitel widmet sich den Zeitvorstellungen und Weltbildern, wie sie in den verschiedenen Kulturen im Laufe der Menschheitsgeschichte deutlich werden, etwa durch den Lebens- und Jahreszyklus der Hopi (Sonja Schierle), durch den Maya-Kalender (Kurella), den Wissenschafts- und Zeitauffassungen im Islam (Krämer), dem chinesischen Kalender (Werlich), dem astrologischen Kalender auf Bali und Sumatra (Faller), den verschiedenen Kalendertypen, wie sie – nicht zuletzt durch den Einfluss der Weißen – in Afrika südlich der Sahara benutzt (Forkl) und am Beispiels des Totenkults in Mexiko die Vorstellung von „Ewigkeit und die Wiederkehr der Toten“ deutlich (Kurella), im Buddhismus praktiziert (Faller), im Daoismus zelebriert werden (Werlich), sich in zyklischen und linearen Eschatologien zeigen (Forkl), im Koran verdeutlichen (Krämer) und bei den Völkern in Neuguinea lebendig sind (Heermann).
Im vierten Kapitel werden Verbindungen, Kontakte und Zusammenhänge bei „Familie, Verwandtschaft und Generationen“ thematisiert, z. B. bei Hochzeitsbräuchen in Indien (Faller), der Bedeutung des „Brautgeldes“ bei melanesischen Kulturen (Heermann), der „Brauttruhen“ in der islamisch geprägten Welt (Krämer), der Dualität von Männlich und Weiblich als kosmisches Urprinzip (Faller), den Bräuchen bei „Liebe und Leidenschaft“ in der Edo-Zeit in Japan (Werlich), dem Totenkult und der Ahnenverehrung in China (Werlich); die Diskussion der Bedeutung des Erinnerns und Vergessens, wie sie als „malanggan-Feiern“ bei den Bewohnern der Inselgruppe im Bismarck-Archipel praktiziert wird (Heermann), beschließt das Kapitel.
Im fünften Kapitel geht es um „Auszeichnung und Ansehen“, also um Fragen von Macht, Autorität und Herrschaft. „Textilien als Statussymbole“, die auf kulturelle Zugehörigkeit verweisen, wie bei den Quechua im Andengebiet (Kurella), der Bedeutung von Seide in China (Werlich), dem usbekischen Männermantel (Krämer); es werden die Bestrebungen von indigenen Völkern auf der Suche nach ihrer Identität verdeutlicht (Schierle), die Zusammenhänge von Macht und Opposition anhand von Kultgegenständen aufgezeigt (Forkl) und „Schneckengeld und Ahnengeister“ in Zusammenhang gebracht (Heermann).
Das sechste Kapitel setzt sich auseinander mit „Schutz und Behauptung“ – „was Männer im Schilde führen“ (Menter). Es sind die Bedeutungen der Schilde als Waffen, wie als Zeremonie- und Statussymbole, die sich in den verschiedenen Kulturen wieder finden.
Fazit
Mit dem Begleitband und Katalog „Weltsichten – Blick über den Tellerrand“, der zur Ausstellung des Stuttgarter Linden-Museums anlässlich des 100jährigen Bestehens der völkerkundlichen Sammlungen herausgegeben wurde, ist den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ohne Zweifel ein Blickwechsel bei der Aufgabe gelungen, Kultur- und Kultgegenstände als Zeugnisse für kulturelle Identitäten, Sitten, Gebräuche, Werte und Normen des Lebens von Menschen darzustellen. Es ist nicht zuletzt der ebenbürdige Vergleich von eigenen Verhaltensvorstellungen mit denen von Menschen aus anderen kulturellen Herkünften, der es der Menschheit ermöglicht, friedlicher, gerechter und humaner zusammen zu leben. So kann der Begleitband mehr sein als Dokument einer Ausstellung; nämlich ein Wegweiser für ein friedliches, interkulturelles Zusammenleben der Menschen in unserer EINEN WELT; und er bietet nicht nur Museumsleuten und an Kultur Interessierten die Chance, einen Blick über den Tellerrand zu werfen, sondern auch für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit neue Einsichten.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 29.02.2012 zu:
Inés de Castro, Ulrich Menter (Hrsg.): Weltsichten - Blick über den Tellerrand! Verlag Philipp von Zabern GmbH
(Darmstadt / Deutschland) 2011.
ISBN 978-3-8053-4366-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12782.php, Datum des Zugriffs 22.03.2023.
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