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Byung-Chul Han: Topologie der Gewalt

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 16.02.2012

Cover Byung-Chul Han: Topologie der Gewalt ISBN 978-3-88221-495-6

Byung-Chul Han: Topologie der Gewalt. Matthes & Seitz (Berlin) 2011. 191 Seiten. ISBN 978-3-88221-495-6. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 30,50 sFr.
Reihe: Batterien - N.F., No. 008.

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„Gewalt ist nicht nur das Übermaß an Negativität, sondern auch das Übermaß an Positivität“

Von der aristotelischen Bestimmung, dass das Gewaltsame widernatürlich sei, bis zu Thomas Hobbes‘ homo homini lupus ziehen sich die Reflexionen über die individuelle und kollektive, institutionalisierte Gewalt. Der Umgang mit der Unsicherheit in der Moderne hat das Schlagwort von der „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck, 1986) geprägt und in den Zeiten der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt die Ausweitung hin zur „Weltrisikogesellschaft“ erfahren (vgl. dazu: www.socialnet.de/rezensionen/4820.php). Die Menschheit lebt in einer „Weltgefahrengemeinschaft“, und die Menschen sind verunsichernden und gewaltsamen Einflüssen und Risiken ausgesetzt, ja sogar ausgeliefert. Oder ist es so, dass die größte Gefahr oftmals nicht das Risiko selbst ist, sondern vielmehr seine Antizipation und Wahrnehmung, in deren Folge die Gefahrenphantasien und ihre Gegenmittel freigesetzt werden, die die moderne Gesellschaft ihrer bisherigen Handlungsfähigkeit berauben könnten“ (Markus Holzinger, u.a., Weltrisikogesellschaft als Ausnahmezustand, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9743.php)? In der „Erklärung von Sevilla“, die anlässlich des Internationalen Jahres des Friedens (1986) von 20 internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verfasst und von der UNESCO als Bestandteil ihrer Friedensbemühungen in der Welt übernommen wurde, heißt es u.a.: „Gewalt ist kein Naturgesetz … Biologisch gesehen ist die Menschheit nicht zum Krieg verdammt…“ (Die Erklärung von Sevilla, in: Deutsche UNESCO-Kommission, Internationale Verständigung, Menschenrechte und Frieden als Bildungsziel. Drei Texte der UNESCO, 2. Aufl., Bonn 1992, S. 44ff, vgl. auch: Peter Schlotter, Simone Wisotzki, Hrsg., Friedens- und Konfliktforschung, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11889.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Weil „Macht und Moral“ (Wolfgang Kersting: Macht und Moral., 2010, www.socialnet.de/rezensionen/11429.php) immer auch gewalthaltig diskutiert werden müssen, ist die Frage, wie sich Gewalt im individuellen und gesellschaftlichen Leben der Menschen, lokal und global, darstellt, wirkt und verändert, von existentieller Bedeutung für eine friedliche Weiterentwicklung der Menschheit. Wenn es richtig ist, dass Gewalt in den verschiedenen Erscheinungs- und Ausdrucksformen in der Welt vorhanden ist (und bleibt) – ob natürlich oder menschengemacht sei erst einmal dahin gestellt – bedarf es der Auseinandersetzung darüber, wie sie erkannt werden kann, die Ursachen identifizierbar sind und den negativen Ausprägungen begegnet werden können.

„Die Gewalt ist (nämlich) proteisch“, also unzuverlässig und wandelbar in den Erscheinungsformen; so jedenfalls sieht es der Philosoph und Medientheoretiker der Karlsruher Staatlichen Hochschule für Gestaltung, Byung-Chul Han. Der aus Korea stammende Wissenschaftler hat sich im philosophischen, interkulturellen Diskurs schon mehrfach zu Wort gemeldet und den Zustand der Gesellschaft(en) analysiert (z. B. auch mit seinem bei Matthes & Seitz 2010 erschienenem Buch „Müdigkeitsgesellschaft“). Dort, wie auch bei der Auseinandersetzung mit „Gewalt“ und den aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten in unserer (Einen?) Welt, weist er darauf hin, dass sich die Erscheinungsformen der Gewalt verändern, „vom Sichtbaren ins Unsichtbare, vom Frontalen ins Virale, vom Brachialen ins Mediale, vom Realen ins Virtuelle, vom Physischen ins Psychische, vom Negativen ins Positive…“. Dabei sieht er das Problem, dass „die martialische Gewalt ( ) derzeit einer anonymisierten, entsubjektivierten, systemischen Gewalt (weicht), die sich als solche verbirgt, weil sie mit der Gesellschaft in eins fällt“. Mit dieser Einschätzung schließt er an den Diskurs an, wie er sich zur Thematik „Rassismus“ mittlerweile artikuliert, dass nämlich Rassismus (Gewalt) nicht von den Rändern, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kommt (Wilhelm Heitmeyer).

Aufbau und Inhalt

Die Analyse „Topologie der Gewalt“ wird in zwei Kapitel gegliedert. Im ersten Teil nimmt der Autor den Bereich der makrophysischen Erscheinungen der Gewalt zum Anlass, die Negativität des Freund-Feind-Denkens, die sich als archaische Gewalt des Opfers und des Blutes, als mythische Gewalt der eifer- und rachesüchtigen Götter, als Tötungsgewalt des Souveräns, der Gewalt der Folter, die Gewalt der Gaskammer, als virale Gewalt des Terrorismus, bis hin zur sprachlichen Gewalt darzustellen. Im zweiten Kapitel wird die „Mikrophysik der Gewalt“ thematisiert: „Die makrophysische Gewalt ent-innerlicht das Subjekt, indem sie in sein Innen eindringt und es vernichtet. Das Außen zerstört das Innen. Die mikrophysische Gewalt dagegen ent-innerlicht das Subjekt, indem sie es durch ein Übermaß an Positivität zerstreut“.

Dabei diskutiert Byung-Chul Han die verschiedenen Konzepte und Theorien zum Gewaltdiskurs, schaut bei Freud, Benjamin, Carl Schmitt, Richard Sennet, Girard, Agamben, Deleuze/Guattari, Foucault, Michel Serres, Galtung, Bourdieu, Heidegger u. a. nach, kommt dabei vermeintlich unhinterfragten Begrifflichkeiten und scheinbaren Selbstverständlichkeiten auf die Spur und findet schließlich zahlreiche Imponderabilien und bedenkenswerte Grundsätzlichkeiten, die es ermöglichen, negativer von positiver Gewalt zu unterscheiden und aus den Ja-Nein-Argumentationen heraus- und hineinzukommen in differenziertes Denken und Handeln, nicht zuletzt als zôon politikon.

Fazit

Die Analyse von Byung-Chul Han über Gewalt, wie sie sich heute darstellt, sichtbar und unsichtbar, ist mehr als eine intellektuelle Fleißarbeit, mehr auch als eine Auseinandersetzung mit den diskursiven, historischen und aktuellen Theorien und Konzepten zur Macht- und Gewaltthematik; es ist ein intelligenter und bemerkenswerter Versuch einer Gesellschaftsanalyse, angesichts der Infragestellung von bisher national und kulturell gültigen Wertevorstellungen in einer globalisierten (Einen?) Welt. Es ist ein Aufruf, gegen die lokal und global deutlichen Zerfallsprozesse des Sozialen, des Gemeinsamen und des Gemeinschaftlichen zu opponieren, um den scheinbar unaufhörlichen und unauflösbaren Prozess der Ermächtigung von egoistischen, antidemokratischen und konsumtiven Gewalttätigkeiten zu befreien und dem menschlichen Leben das zu geben, was es als Humanum ausmacht, nämlich das bloße Leben als heilig zu betrachten.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1688 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245