Jocelyn Maclure, Charles Taylor: Laizität und Gewissensfreiheit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 22.02.2012
Jocelyn Maclure, Charles Taylor: Laizität und Gewissensfreiheit. Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M) 2011. 145 Seiten. ISBN 978-3-518-58570-2. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 30,50 sFr.
Religion und Politik heute
„Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“, so proklamiert es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) in Artikel 18. In der Menschheitsgeschichte herrscht von Beginn an ein ungeklärtes Verhältnis zwischen Religion und Politik, zwischen dem Anspruch von religiös-institutionellen und laizistischen Ordnungen, von säkularen bis hin zu fundamentalistischen Machtäußerungen. Die UNESCO, die Kulturorganisation der Vereinten Nationen, hat Anfang des Jahres 1994 im indischen New Delhi eine Konferenz zum Thema „Religion und Politik“ veranstaltet, bei der die „Idee eines souveränen Individuums unabhängig seiner Religionszugehörigkeit und Herkunft“ in der Vielfalt des intellektuellen, kulturellen, historischen und politischen Denkens der Menschen auf der Erde thematisiert wurde (vgl. dazu: UNESCO-Kurier 12/1994). Eine dezidierte, westliche Meinung lautet: Die Berufung auf einen göttlichen Willen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme ist ein Teufelskreis (Flora Lewis); eine andere: Der Fundamentalismus hat eine Botschaft, die teilweise den unbefriedigten Erwartungen in der heutigen Welt entspricht (Mahmoud Hussein).
Entstehungshintergrund und Autoren
„Der Umgang mit moralischer und religiöser Vielfalt ist eine der größten Herausforderungen, mit denen unsere Gesellschaften gegenwärtig konfrontiert sind“; das zeigt sich alltäglich auf den Bildschirmen und den realen Lebens- und Gefahrenssituationen in der Welt. Wie ein friedliches, gerechtes, gleichberechtigtes und humanes Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft wie auch weltweit ermöglicht werden kann, wird in zahlreichen Deklarationen, Appellen und Verfassungen formuliert, als „Kampf der Kulturen“ (Samuel P. Huntington) manifestiert und „Jenseits vom Kampf der Kulturen“ postuliert (Shadia Husseini de Araújo, Jenseits vom „Kampf der Kulturen“. Imaginative Geographien des Eigenen und des Anderen in arabischen Printmedien, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12016.php). Die bange Frage, wie viel Transnationalismus die (eine) Kultur angesichts der globalen, kulturellen Mobilität verträgt (Willi Jasper, Hg., Wieviel Transnationalismus verträgt die Kultur?, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8437.php) steht in gleichen Maße zur Disposition, wie die nach dem Weltbewusstsein (Oliver Kozlarek, Moderne als Weltbewusstsein. Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12558.php).
Die beiden kanadischen Philosophen, die sich schon vielfach zu Fragen des Multikulturalismus und Religionsgeschichte geäußert haben, Jocelyn Maclure und Charles Taylor, waren Mitglieder einer von der kanadischen Regierung 2007 eingesetzten Kommission (CCPARDC), die Antworten auf die kontroversen Diskussionen und Positionen finden sollten, welche Bedeutung Religion in der Gesellschaft und Öffentlichkeit haben solle und welche politische (Ausnahme-)Regelungen zu setzen seien. Die beiden Verfasser waren dabei zuständig für das Kapitel „Laizität“. Im vorliegenden Band entfalten sie die in ihrem Bericht formulierten Thesen und politischen und gesellschaftlichen Handlungsempfehlungen.
Aufbau und Inhalt
Die Autoren gliedern das Buch in zwei Teile. Im ersten Teil geht es darum, die „Laizität (zu) denken“. Es reicht es nicht aus, eine allgemeingültige Begriffsbestimmung dafür zu finden, wie laizistische Auffassungen und Handhabungen gedacht und gemacht werden, die in der globalen, politischen Wirklichkeit vorhanden sind. Das zeigt sich bereits an den Unterscheidungen, wie sie bei den Begrifflichkeiten „Neutralität des Staates“, „Säkularisierung“ und „Laizisierung“ vorgenommen werden. Das Beispiel der interkulturellen und interethnischen Gesellschaft in Kanada verdeutlicht, dass es einer Festlegung der Begriffsbestimmung und des Verständnisses von „Laizität“ bedarf, um zu einer akzeptablen und gemeinschaftsfähigen Lösung zu kommen: Das Prinzip der gleichen Achtung und der Gewissensfreiheit und der Verfahrensmodi zur Verwirklichung dieses Prinzips: Trennung von Kirche und Staat, sowie Neutralität des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften.
Herrscht eine Einigung darüber, beginnt freilich erst die Last der gesellschaftlichen Konsensfindung, wie die Autoren in zahlreichen konkreten Beispielen aufzeigen. Dabei filtern sie zwei Modelle heraus, die sie als Grundlage für ihre weiteren Analysen benutzen: Das republikanische Modell der Laizität, die „über die Achtung der moralischen Gleichheit und der Gewissensfreiheit hinaus die Emanzipation der Individuen und die Herausbildung einer gemeinsamen staatsbürgerlichen Identität“ anstreben; und das liberal-pluralistische Modell, das danach strebt, „das optimale Gleichgewicht zwischen der Achtung der moralischen Gleichheit und der Achtung der persönlichen Gewissensfreiheit zu finden“. Bedeutsam dabei sind auch die Fragen, wie sich im laizistischen, gesellschaftlichen Verständnis Öffentlichkeit und Privatsphäre zueinander verhalten und welchen Stellen- und Präsentationswert religiöse Symbole und Rituale in der Öffentlichkeit haben sollen (dürfen). Zielsetzung ist, wie die Autoren am Beispiel von Quebec verdeutlichen, eine „offene Laizität“, bei der anerkannt wird, dass der Staat neutral zu sein habe, aber auch bereit sein müsse, die individuelle Gewissens- und Religionsfreiheit zu schützen.
Wenn man über Laizität nachdenkt, ist es auch unabdingbar, über „Gewissensfreiheit (zu) denken“. Darüber handelt der zweite Teil. Dabei geht es, weil Gewissen weder genormt noch verordnet werden kann, darum, in einer Gesellschaft individuelle Ausnahmebestimmungen zuzulassen, die nicht gemeinschaftsschädigend, sondern -förderlich sind. Dies ist, in einer demokratisch verfassten Gesellschaft, nur im Sinne eines Rechtsverständnisses denkbar, das auf der Grundlage der Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit der Individuen und der Gemeinschaft beruht. Die demokratischen Grundfesten ruhen dabei auf dem Verständnis, wie es in Artikel 20 der Menschenrechtsdeklaration formuliert wird: „Jedermann hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist“. Bedeutsam dabei ist das Verständnis von Moral, bei dem der Autor nihilistischen Auffassungen eine Absage erteilt, nämlich, „dass die Grenze zwischen dem Glauben und dem Nichtglauben nicht die ist und nie die sein wird zwischen denen, die glauben, und denen, die nicht glauben, weil sie in Wahrheit durch jeden von uns geht“. Das allerdings schließt ein, dass es vernünftige Grenzen der Gewissensfreiheit geben muss, die sich aus den ethischen Paradigmen des menschlichen, humanen Zusammenlebens, lokal und global, ergeben.
Fazit
In einer Welt, die nicht mehr bestimmt ist von nationalen Grenzen und Eingrenzungen ethnozentrierten Denkens und Handelns (vgl. dazu auch: Dirk Lange, Hrsg., Entgrenzungen, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12192.php), ist es an der Zeit, eine Neubestimmung laizistischer Politik vorzunehmen. Dabei plädieren die Autoren dafür, den Perspektivenwechsel in zweierlei Hinsicht vorzunehmen: Zum einen die von Unverständnis, Misstrauen und Intoleranz geprägten Beziehungen zwischen religiösen und nichtreligiösen Personen zu überwinden, zum anderen dafür einzutreten, dass die Staaten der Erde in selbstverständlicher und grundsätzlich demokratischer Weise anerkennen und verwirklichen, die innerhalb der Gesellschaft bestehende moralische und spirituelle Diversität anzuerkennen, ermöglichen und verteidigen. Es geht darum, „die soziale Kooperation in durch Diversität gekennzeichneten Gesellschaften in der möglichen Einigung zwischen vernünftigen Bürgern über die Grundprinzipien ihrer politischen Gemeinschaft (zu) verankern“. Die Wege dahin führen über eine Erweiterung des traditionellen Toleranzbegriffs hin zu einer „aktiven Toleranz“ (K. Peter Fritzsche) und die Einübung einer „Ethik des Dialogs, die unterschiedliche metaphysische und moralische Perspektiven respektiert“.
Die aus einer Expertise für einen humanen, demokratischen und ethisch fundierten Umgang mit moralischen und religiösen Unterschieden in der konkreten gesellschaftlichen Situation im kanadischen Quebec gefilterten Reflexionen und Empfehlungen zur Thematik „Laizität und Gewissensfreiheit“ liefern Maßstäbe für individuelles und kollektives Denken und Tun und für gesellschaftspolitisches Handeln.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 22.02.2012 zu:
Jocelyn Maclure, Charles Taylor: Laizität und Gewissensfreiheit. Suhrkamp Verlag
(Frankfurt/M) 2011.
ISBN 978-3-518-58570-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12786.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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