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Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim: Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter

Rezensiert von Prof. Dr. Brigitte Wießmeier, 05.06.2012

Cover Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim: Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter ISBN 978-3-518-42232-8

Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim: Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter. Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M) 2011. 280 Seiten. ISBN 978-3-518-42232-8. D: 19,90 EUR, A: 23,60 EUR, CH: 34,90 sFr.

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Entstehungshintergrund

Seit Jahren beschäftigen sich diese beiden Soziologen, ein Paar mit Fernliebeerfahrung, mit dem ganz normalen Chaos der Liebe (1990), der Risikogesellschaft (1986) und neuen Familienformen.

Aufbau

Die gut 250 Seiten sind in zehn Kapiteln und einer Zwischenbetrachtung untergliedert, wobei der Begriff der Weltfamilie alleine in sechs Überschriften erscheint. Damit wird bereits ein deutlicher Hinweis auf das zentrale Thema dieses Buches geliefert. Mit dem Komitee für nachhaltige Liebesethik schließen die Autoren augenzwinkernd ab.

Inhalt

Die Autoren nehmen eine mehrdimensionale Beleuchtung von Weltfamilien vor, die sie als weitgehende familiale Beziehungen vorstellen, seien es nun Paarbeziehungen im globalisierten Kontext, Familien in trennenden Migrationsprozessen, Familien bei Auslandsadoptionen, bei Leihmutterschaften, Familien mit Pflegehelferinnen.

Sie beschreiben zwei Dimensionen von Weltfamilien, denn zum Einen leben Familienmitglieder über Grenzen hinweg zusammen. Zum Anderen leben Familien mit ihren Mitgliedern unterschiedlicher Kultur, Geschichte gemeinsam an einem Ort. Diese Mitgliedschaft ist keineswegs immer (gesetzlich) geregelt, sie kann auch über Organspende, Adoption, Leihmutterschaft, Zusammenleben etc. verstanden werden. Es geht um Bindung, um Beziehung, um Liebe zwischen Familienmitgliedern aus und in der Ferne.

Sie halten fest, dass sich drei existentielle Bindungen gelöst haben, die an Ort, Nation und Familie und sie fragen folgerichtig, ob eine gelebte Weltinnenpolitik auf diesem Hintergrund noch eine Zukunft hat? Sie erkennen beim Blick auf die weltweit verbreiteten Lebensformen als Arbeits-, Heirats-, Hausarbeitsmigranten ein Paradox, das der „globalen Intimität“, und fragen, was familiäre Herkunft noch bedeutet?

Beck, Beck-Gernsheim unterscheiden bei den vielen zugrunde gelegten Daten und Forschungsergeb-nissen zwischen feministischen, nationalvergleichenden und integrationsfocussierenden Studien mit je eigenen Arbeitsansätzen. Übergreifend sehen sie, wie der Binnenraum der Familien die Ungleichheiten in der Welt widerspiegelt (S. 232), gleichwohl nur die Flexibilität von Verwandtschaftsnetzwerken für den Aufstieg des Einzelnen und somit für die Gemeinschaft sorgt. Diese Netzwerke halten die Werte der Familien letztlich hoch, auch wenn Familien phasenweise ein Bild der Auflösung bieten, weil in ganzen Dörfern die Mütter oder Väter fehlen.

So beobachten sie unter den Weltfamilien beispielhaft binationale Paare und halten fest, je massiver, hörbarer, sichtbarer der ausländische Partner ein „Fremder“ ist, fallen die Vorurteile und Widerstände der Umwelt aus, müssen sie „zunächst durch die Vorhölle der Bürokratie“!(S. 45) Auf Weltfamilien ist das nationalstaatliche Rechtssystem nicht zugeschnitten. Die ständige Betonung nichts Besonderes zu sein, was auch durch steigende statistische Zahlen begründet sein mag, und persönlichen Erfahrung, doch anders zu sein, u.a. angestarrt zu werden, kann dazu führen, dass binationale Paare Experten des interkulturellen Dialogs werden, geübt im ständigen Decodieren. Nicht selten führt die häufige Auseinandersetzung mit Kultur, Kulturen zu einer stärker werdenden Identifikation mit eigener Herkunft.

Auch ihre Beschäftigung mit weltweiter Heiratsmigration führt zur Erkenntnis, dass in Ländern der sogenannten 2. und 3. Welt Partner nach der Migrationschance ausgewählt werden, denn globale Gerechtigkeit und globale Ressourcenverteilung sind nicht nur eine Sache des persönlichen Lebensstils, es spiegeln sich darin politische, ökonomische und soziale Hierarchien. Interessant sieht auch die geschlechterspezifische Situation aus, denn eine Ost-West-Migration ist für Frauen mit mehr Rechten, eine West-Ost-Migration (bzw. Nord-Süd) dagegen mit Verlusten von Rechten verbunden. Für Männer sieht das nicht so aus, denn Frauen, z.B. türk. Herkunft, wählen Männer aus dem gleichen Herkunftsland, da sie hoffen, die Machbalance zu ihren Gunsten verschieben zu können. Für Frauen und Männer aber gilt, dass die jeweiligen Horizonte der Partner verstanden werden müssen, denn eine beobachtbare Ohnmacht im Immigrationsland kann Machtzuwachs im Herkunftsland bedeuten.

Diskussion

Die Globalisierung bietet eine größere Auswahl in familialen Angelegenheiten, sie fordert dadurch mehr Flexibilität bei Entscheidungen und weltweite Kommunikationstechniken bieten Ersatzmöglichkeiten für Intimität. Wie hilfreich ist die Globalisierung für eine Verwirklichung von Liebe in Paarbeziehungen und Familie? Wenn die Partnerwahlmotive viel mit den gesellschaftlichen Positionen und Rollen, also auch kulturellen Normen, zu tun haben, sind diese Motive dann vielleicht das bedeutsamste Kulturspezifische an einer bikulturellen Beziehung (S. 132). Wenn die medialen Bedingungen (Internet, Skype, Facebock…) wesentlich zum Erhalt der Beziehungen über Grenzen hinweg beitragen können, wie unterscheiden sich diese mediengestützten Beziehungen von anderen?

Nicht das Ende der Familie, gar das Ende der Liebe wird von den Autoren gesehen, eher versuchen sie die andere, veränderte Logik zu entschlüsseln. Auf diese aufregende, lohnende und keinesfalls abgeschlossene Suche nach Antworten können die Leser und Leserinnen mit dem Autorenpaar gehen. Weltfamilien stellen neuartige Gebilde aus Tradition und Moderne, aus Nähe und Ferne, aus Vertrautheit und Fremdheit, aus Gleichheit und Ungleichheit dar, so die Autoren (S. 94f).

Diese Veränderungen zu erfassen, sie auf einen wissenschaftlichen Boden zu stellen, bevor sie denn bereits überholt sind, stellt die Herausforderung dieses Buches dar. Die vielen herangezogenen deutsch- und englischsprachigen Studien, weitgehend aus den letzten drei Dekaden, verdienen eine Bearbeitung auf der Metaebene und dies auf dem Hintergrund aktueller soziologischer Feldstudien im internationalen Kontext, verbunden mit mutigen und sicher auch provokanten Thesen.

Fazit

Ein Lehrbuch der Soziologie ist dieses Buch nicht, eine wertvolle Anregung für vielfältige Diskussionen ist es mit Sicherheit. Die erfrischende, weltoffene und kenntnisreiche Art kann viele Leser und Leserinnen erreichen, die weitreichende Familienthematik sorgt darüber hinaus für ein großes Interesse, welches dieses moderne Buch unbedingt verdient hat.

Rezension von
Prof. Dr. Brigitte Wießmeier
Forschungskoordinatorin Institut für Innovation und Beratung an der Evangelischen Hochschule Berlin, INIB
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Es gibt 10 Rezensionen von Brigitte Wießmeier.

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Zitiervorschlag
Brigitte Wießmeier. Rezension vom 05.06.2012 zu: Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim: Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter. Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M) 2011. ISBN 978-3-518-42232-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12787.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.


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