Dietlinde Gipser, Heiner Zillmer: Der Fürsorge entkommen, der Forschung nicht
Rezensiert von Prof. Dr. Stephan Quensel, 21.02.2012

Dietlinde Gipser, Heiner Zillmer: Der Fürsorge entkommen, der Forschung nicht. Das Lieselotte-Pongratz-Projekt ´Lebensbewährung nach öffentlicher Erziehung´. Edition Zebra (Hamburg) 2011. ISBN 978-3-928859-07-3. D: 12,90 EUR, A: 13,30 EUR.
Thema
Sozialwissenschaftliche Forschung ist, was oft vergessen wird, ein zwischenmenschlich interaktiver Prozess, der jeweils in ‚seiner Zeit‘ verläuft. ‚Interaktiv‘ ist er, weil hier nicht nur ein Forscher sein Forschungs-‚Objekt‘ befragt, untersucht und bewertet, sondern weil beide sich als aktive Subjekte in diesen Prozess einbringen und aus ihm neue Erfahrungen gewinnen können. In ‚seiner Zeit‘ verläuft er, weil beide aus einer bestimmten historisch gesellschaftlichen Situation heraus handeln. Die einen im Rahmen der jeweils gültigen ‚Theorie‘ und Methodik, die anderen abhängig von ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Situation, und beide zumeist in unterschiedlicher ‚Macht‘-Position – etwa als professionell geschulter Interviewer oder aber als massenstatistisch verwerteter ‚Befragter‘.
In ihrem Buch geben uns Dietlinde Gipser und Heiner Zillmer an Hand einer von Lieselotte Pongratz im Jahr 1956 begonnenen Befragung von 960 ehemaligen Fürsorgezöglingen aus Hamburg einen, im etablierten Forschungsbetrieb zumeist unterdrückten, sehr persönlich gehaltenen Einblick in eben dieses ‚hintergründige‘ Forschungsgeschehen.
Aufbau und Inhalt
Eingebettet in die Forschungsbiographie von Lieselotte Pongratz (gestorben 2001), zuletzt Professorin für Kriminologie am Fachbereich Rechtswissenschaften II der Universität Hamburg (S.111ff), die ebenso sozialpolitisch wie wissenschaftlich engagiert u.a. Prostituiertenkinder, Kinderdelinquenz und das Schicksal drogenabhängiger Straftäter untersuchte, wird zunächst kurz das erste 1959 publizierte Projekt (zusammen mit Hans-Odo Hübner „Lebensbewährung nach öffentlicher Erziehung“) skizziert: „Verhaltensauffälligkeiten und Lebensbewährung“ standen hier noch im Vordergrund (26).
Auf dieser Basis wurden dieselben ‚Ehemaligen‘ in den Jahren 1966-70, also 20 Jahre nach ihrer Einweisung in die Fürsorgeerziehung, nunmehr in den 30-gern, erneut ‚untersucht‘, und zwar zur Hälfte über die damals noch leichter zu bekommenden Akten, und zur anderen Hälfte zusätzlich per Interview, wobei es gelang, die Ausfallquote unter 5 % zu halten (39).
Doch fehlte der Abschluss. Die angesammelten Datenmengen, mühsam gelochte Lochkarten, erste Chi-Quadrat-Berechnungen und zum Teil mit Hand berechnete, damals neuartige Faktoren- und Cluster-Analysen, sowie ein 100-Seiten-Manuskript von Dietlinde Gipser verschwanden in unzähligen Aktenordnern, auf die man zwar immer wieder zurückkommen wollte, doch misslang dies angesichts unzureichender Mittel, fehlender Motivation und anderweitiger professioneller Aufgaben. Ein leider keineswegs so seltenes Schicksal mancher aufwändiger Forschung, das auch meine eigenen Erhebungen – Testbefunde und mühsam abgeschriebene qualitative Tonbandinterviews – mit ca 200 jugendlichen Strafgefangenen aus den 60ger Jahren traf.
Die ehemaligen Mitarbeiter, die AutorInnen und Ilse Schwenkel (gestorben 2008), fanden die Aktenordner (und Zeit), die sie auf der Basis des erwähnten Manuskripts erneut verwerteten, und die – informativ auf dem Stande von 1970 – den größeren Mittelteil des Buches bilden. Deren Ergebnisse, auf die ich hier nicht näher eingehe, entsprechen den Erwartungen: In den unterschiedlichen acht cluster-mäßig errechneten Gruppierungen lebte um 1970 in Zeiten der Vollbeschäftigung der weitaus größte Teil dieser ‚Ehemaligen‘ im Rahmen ihrer von Beginn an bestehenden Zugehörigkeit zur sozial unteren Unterschicht ‚angepasst‘, „nur bei 4,5% der Befragten (ausschließlich Männer) finden wir so etwas wie eine ‚bestimmende Kriminalität‘. Die Vermutung, dass Fürsorgeerziehung zu einer kriminellen Karriere führt, kann damit als widerlegt gelten. Das Gegenteil können wir aber auch nicht behaupten!“ (104).
Insoweit böte das Buch lediglich einen historisch interessanten Einblick in die Forschungslandschaft der 70ger Jahre – deren Realität freilich erst in unserer Zeit im „Runden Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ öffentlich diskutiert wurde. Ein Einblick, der auch methodisch durch die im umfangreichen Anhang (157ff) wieder gegebenen Lochkarten und Lochkartenbefunde im Vergleich zu den gegenwärtigen Computer-Statistik-Paketen (SPSS etc) die damalige Forschungssituation anschaulich belegen kann.
Der eigentliche Wert dieses Buches liegt zunächst in der kurz aufgeworfenen ethischen Frage, inwieweit man die eigene Aktenkenntnis bzw. überhaupt die Forschungsfrage der ‚Bewährung‘ gegenüber den Befragten verschweigen konnte, sowie in der Frage, inwieweit der „veränderte wissenschaftliche Bezugsrahmen“ (33), der in den 70er Jahren den Blick von der ätiologischen ‚Verwahrlosung‘ hin zu den erlittenen Stigmafolgen schärfte, in ein solches Follow-up Unternehmen eingebaut werden könne.
Wichtiger noch sind die lebhaft geschilderten Passagen zur Eigenbeteiligung der Interviewerinnen selber: ihre Abenteuer-Lust und Neugier, ihre detektivische Suche (107ff) und vor allem ihre neuartigen mitmenschlichen Erfahrungen im unbekannten Milieu ihrer Interview-Partner. Ein notwendiger Bestandteil einer jeden engagierten Forschung, und zugleich ein überaus mühsames Geschäft, das sowohl ihre ‚Erfolgsquoten‘ bedingt, wie aber auch üblicherweise mit angeblich statistisch belegten irrelevanten ‚Ausfallsquoten‘ kaschiert wird.
Eine Problematik, die abschließend in der 2004-2008 erneut unternommenen Recherche nach den ‚Ehemaligen‘, nunmehr in den 70ern – lediglich nach vier Interviews mit gut integrierten Frauen (138ff) – u.a. wegen des Todes von Ilse Schwenkel abgebrochen wurde; 20 % der ‚Ehemaligen‘ – gleich verteilt auf alle 8 Clustergruppen – waren inzwischen verstorben.
Fazit
In einer Zeit, die gegenüber den 70er und 80er Jahren – qualitative Interviews, oral history, action-research – mehr und mehr ihre zeitperspektivischen Vorurteile in Prestige-trächtigen quantitativen Durchschnitts-Zahlen rechtfertigt, bietet dieses Buch eine erfrischende, selbstkritische und nachdenkliche Analyse eines eigenen 55-jährigen Forschungsprozesses, die dem Andenken an unsere gemeinsame Lehrerin und Kollegin Lieselotte Pongratz würdig ist.
Rezension von
Prof. Dr. Stephan Quensel
Mailformular
Es gibt 73 Rezensionen von Stephan Quensel.
Zitiervorschlag
Stephan Quensel. Rezension vom 21.02.2012 zu:
Dietlinde Gipser, Heiner Zillmer: Der Fürsorge entkommen, der Forschung nicht. Das Lieselotte-Pongratz-Projekt ´Lebensbewährung nach öffentlicher Erziehung´. Edition Zebra
(Hamburg) 2011.
ISBN 978-3-928859-07-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12792.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.