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Michael Gehler, Maddalena Guiotto (Hrsg.): Italien, Österreich und [...] Deutschland in Europa

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 17.02.2012

Cover Michael Gehler, Maddalena Guiotto (Hrsg.): Italien, Österreich und [...] Deutschland in Europa ISBN 978-3-205-78545-3

Michael Gehler, Maddalena Guiotto (Hrsg.): Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland in Europa. Ein Dreiecksverhältnis in seinen wechselseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen von 1945/49 bis zur Gegenwart. Böhlau Verlag (Wien Köln Weimar) 2011. 670 Seiten. ISBN 978-3-205-78545-3. 79,00 EUR.
Reihe: Arbeitskreis Europäische Integration. Historische Forschungen. Veröffentlichungen - 8.

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Deutsch-Italienisch-Österreichische Beziehungen der Neuzeit: Ambivalent und/oder konstruktiv?

Die Frage nach den Gründen und Angelpunkten, wie sich die internationalen Beziehungen und Aushandlungsprozesse zwischen europäischen, demokratischen Staaten in der Moderne gestalten, hin zu den Einigungsbemühungen für ein gemeinsames Europa, ist sowohl außen- als auch innenpolitisch zu beantworten (vgl. dazu auch: Frank R. Pfetsch, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von Adenauer zu Merkel, Wochenschau-Verlag, 2011, 286 S.). Es sind nicht zuletzt die wissenschaftlichen Bemühungen, die oft allzu dramatisch und oberflächlich daher kommenden alltäglichen Reaktionen zu Fragen der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte zwischen (Nachbar-)Ländern zu relativieren und auf eine objektive und überprüfbare Kommunikations- und Handlungsbasis zu bringen. Dies gilt in besonderem Maße bei der Bewertung von Einigungsprozessen, wie sie sich in Europa vollziehen (vgl. dazu auch: Michael Gehler, Silvio Vietta, Hrsg., Europa – Europäisierung – Europäistik, 2009, in: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/9268.php).

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

Eine Bestandsaufnahme bringt es an den Tag: Das „Dreiecksverhältnis“ der wechselseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen der neuzeitlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zwischen Italien, Österreich und Deutschland ist (eigentlich) ein duales italienisch-deutsches; wobei der „Zwischenstaat“ Österreich eher peripher und nebensächlich zur Sprache kommt. So jedenfalls stellt es sich dar, betrachtet man die Berichte, Analysen und Forschungsprojekte, die sich der Frage widmen, welche Bedeutung und welche Einflüsse die drei Länder auf die Entwicklung Europas seit Beginn der Nachkriegszeit ausgeübt haben und aktuell ausüben.

Eine zeitgeschichtliche Betrachtung darüber hat eine internationale Konferenz vom 12. bis 14. März 2009 vorgenommen, die vom Institut für Geschichte der Stiftungsuniversität Hildesheim und dem Trientiner Italienisch-Deutschen Historischen Institut der Fondazione Bruno Kessler in Hildesheim durchgeführt wurde. Die Ausgangsbasis des Konferenzvorhabens war, „dass es trotz bilateral angelegter Geschichtswerke… keine systematisch-vergleichend angelegten und gleichzeitig archivquellen-basierten historischen Untersuchungen zum Verhältnis Nachkriegsitalien und der Zweiten Republik Österreich gibt, ganz zu schweigen vom trilateralen Beziehungskontext“.

Der Inhaber des Jean Monnet Chairs für Vergleichende europäische Zeitgeschichte und die Geschichte der europäischen Integration, Leiter des Instituts für Geschichte der Universität Hildesheim, Michael Gehler und die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Trienter Instituts, Maddalena Guiotto, legen den umfangreichen Tagungsband mit dem Ziel vor, „nicht nur in der deutsch-italienischen Beziehungsgeschichte Defizite zu orten, sondern diese auch zu beheben, vor allem aber in den österreichisch-italienischen und deutsch-österreichisch-italienischen Beziehungs- und Geschichtsfeldern die vorhandenen Lücken zu thematisieren und so gut wie möglich zu füllen. Selbstredend lässt sich das Vorhaben nur interdisziplinär und nur als internationale Kooperation durchführen.

Aufbau und Inhalt

Neben der Einleitung durch das Herausgeberteam, einem Grußwort des damaligen deutschen Bundesaußenministers Frank-Walter Steinmeier und dem Eröffnungsvortrag des italienischen Botschafters Luigi Vittorio Graf Ferraris, der die mentalitätsgeschichtlichen und faktisch historischen Entwicklungen in diesem „Dreiecksverhältnis“ thematisiert und feststellt: „Deutschland, Österreich und Italien… (sind) Eckpfeiler im Aufbau Europas“, gliedern die Herausgeber das Buch in sieben Kapitel und schließen es mit einem Schlusskommentar ab.

Im Kapitel „Vergleichende Analyse des Forschungsstands“ fasst der Historiker der TU Berlin, Christian Jansen, als „Momentaufnahme … die deutschsprachige Forschung zur Geschichte Italiens seit 1945“ zusammen, indem er zwar auf eine Reihe von wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Forschungsaktivitäten verweist, jedoch

im wesentlichen zahlreiche Lücken in der wissenschaftlichen Kommunikation und Institutionalisierung in der deutschen historischen Italienforschung aufzeigt. Aufschlussreich ist seine Analyse, wonach die rund 300 Publikationen, die zur Thematik in den letzten 40 Jahren veröffentlicht wurden, zu mehr als der Hälfte aus der Politikwissenschaft stammen, ein Viertel aus den Geschichtswissenschaften, und der Rest aus sonstigen publizistischen Aspekten und ethnologischen bzw. soziologischen Fragestellungen kommen.

Der Ordinarius für Zeitgeschichte an der Universität Trient, Gustavo Corni, stellt in italienischer Sprache (Rileggendo la Storia della Germania di Enzo Collotti) die Forschungsarbeiten des emeritierten Fiorentiner Professors für Zeitgeschichte und Kenners der deutschen Geschichte, Enzo Collotti vor, insbesondere verweist er dabei auf die Einschätzungen zur Entwicklung der beiden deutschen Staaten in der Nachkriegszeit („Dalle due Germanie alla Germania unita“) und dem Bemühen, die bei der italienischen Geschichtsschreibung gegenüber dem nördlichen Nachbarn mit Blick auf die inneritalienische Politik Eigenständigkeit zu bewahren.

Der Brixener Historiker und Abgeordneter des Südtiroler Landtags, Hans Heiss, informiert über den „Stand der österreichischen zeitgeschichtlichen Italienforschung und der italienischen Österreichforschung“, indem er bereits im Titel seines Vortrags „Rücken an Rücken“ das Verhältnis von „zwei Nachbarn in wohltemperierter Gleichgültigkeit“ charakterisiert. Die bisher nicht überwundene “grundsätzliche Fremdheit der politischen Sphären“, wie z. B. die politischen Systeme und Kulturen Italiens und Österreichs, schreien nach Veränderungen, die sich in einem konzentrierteren, wissenschaftlichen Dialog zur Zeitgeschichte zwischen den Historikern beider Länder realisieren ließen.

Im Kapitel „Politische Akteure und Kontexte“ diskutiert Maddalena Guiotto die Beziehungen des italienischen Politikers Aleide De Gasperi zu Leopold Figl und Konrad Adenauer: „Drei Protagonisten des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg“. Erstaunlicherweise gibt es in der Rezeption des Wirkens De Gasperis kaum Aufmerksamkeit darüber, wie sich seine Empathie zu den deutschsprachigen Nachbarländern und insbesondere die deutlichen Sympathien zu den (christdemokratischen) Politikern in Österreich und Deutschland positiv auf den europäischen Einigungsprozess gestaltet haben.

Der Historiker von der Universität Cagliari, Federico Scarano, erinnert in seinem Beitrag an einen weiteren italienischen Politiker und seine Beziehungen zu Deutschland: den Sarden Antonio Segni, der als Mitbegründer der Democrazia Christiana und Mitarbeiter De Gasperis Einfluss auf die fruchtbaren Entwicklungen zur europäischen Einheit hatte.

Michael Gehler setzt sich mit dem Leben und dem Werk des österreichischen Sozialisten Bruno Kreisky auseinander: „Bruno Kreisky, Italien und die Deutsche Frage“. Dabei wird deutlich, dass der während der nationalsozialistischen Zeit verfolgte und im schwedischen Exil lebende österreichische Politiker eine durchaus ungleichgewichtige Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der beiden Nachbarländer richtete; während er gegenüber den beiden deutschen Staaten eine pragmatische und wohlwollende, auf Eigenständigkeit bedachte Außenpolitik betrieb, war sein Verhältnis zu Italien überwiegend von der ungelösten und schließlich für ihn unbefriedigend entschiedenen Südtirol-Frage bestimmt.

Der Politikwissenschaftler von der Universität Padua, Giovanni Bernardini, zeigt am politischen Wirken des italienischen Sozialisten Bettino Craxi die in den 1960er bis 1980er Jahren vollzogenen Hinwendungen der PSI zum reformorientierten Sozialismus auf, wie er von der SPD mit dem Godesberger Programm eingeleitet wurde. Craxis Politik, die ihn von 1983 bis 1987 auch das Amt des italienischen Ministerpräsidenten einbrachte, zeigt sich als ambivalent. Während er einerseits die politischen Einflüsse der kommunistischen Parteien Italiens eindämmen und gleichzeitig ein Gegengewicht gegen die Jahrzehnte lange Macht der Christdemokraten bilden konnte, trug er andererseits dazu bei, dass sich Italien zu einer Industrienation entwickelte.

Ulrich Lappenküper, Historiker von der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr, zeigt am Schlagwort „Eurosklerose“ die Krisensituationen auf, wie sie sich zu Beginn der 1980er Jahre in Europa darstellten und durch die Europa-Initiativen der beiden damaligen deutschen und italienischen Außenminister, Hans-Dietrich Genscher und Emilio Colombo, ein (vorläufiges) Ende fanden. Die damalige Alternative, wie sie sich für die beiden Politiker darstellte, nämlich entweder „Reparaturwerkstatt“ oder „Baustelle für ein größeres, stärkeres, einigeres Europa“ zu sein, hat durchaus aktuelle Bezüge. Die Initiativen, wie sie von Genscher und Colombo in die Wege geleitet wurden, können deshalb durchaus als „Meilenstein in Richtung auf die Einheitliche Europäische Akte und den Maastrichter Vertrag bezeichnet“ werden.

Luigi Vittorio Graf Ferraris entfaltet anhand von Aufzeichnungen aus italienischen diplomatischen Akten die deutsch-italienischen Beziehungen in den 1980er Jahren, indem er gewissermaßen das gängige Bild von der geringen Bedeutsamkeit Italiens als politische Macht korrigiert. Dabei holt er eine Reihe von Belegen aus den Einschätzungen der italienischen Botschaft in Bonn und den italienischen Konsulaten in Deutschland ans Licht, die in der Lage sind, die negativen Annotationen über das Italienbild der Deutschen zu korrigieren und die Einschätzungen der Diplomaten zum deutsch-italienischen Verhältnis zur Diskussion zu stellen.

Der Politikwissenschaftler der Universität Innsbruck, Günther Pallaver, bewertet in seinem Beitrag die „Amtszeit von Silio Berlusconi (2001 – 2006) und ihre Bedeutung für die deutsch-italienischen Beziehungen“. Dabei berücksichtigt er besonders die italienische EU-Ratspräsidentschaft von 2003. Er setzt sich mit der Einschätzung auseinander, dass der „demokratische Populismus“ und die „Neuschöpfung einer Mediendemokratie“ durch Berlusconi und seiner Partei zu einer „schleichenden Entfremdung“ im Verhältnis Deutschlands, sowie Europas zu Italien geführt habe: Die „Doppiezza“, als Kennzeichen einer doppelbödigen politischen Kultur. Pallavers Hoffnungen, dass die gestörten, eher noch unbedeutender sich darstellenden deutsch-italienischen Beziehungen der „Schlechtwetterperiode des Populismus“ geschuldet und zu überwinden seien, bleibt bis heute!

Im Kapitel „Erinnerungen an Geschichte und Bewältigungen der Vergangenheit“ erinnert der am Center for European Studies der Harvard University tätige Historiker und Politikwissenschaftler Gerald Steinacher an eine der größten und in das italienische Geschichtsgedächtnis eingegangene Vergeltungsaktion der deutschen Wehrmacht gegen italienische Partisanen, dem „Massaker der Fosse Ardeatine“ bei dem 335 italienische Geiseln erschossen wurden, und die in der Nachkriegszeit in Italien erfolgten öffentlichen Diskussionen über Widerstands- und Vergeltungsrecht. Die Aburteilung der deutschen Kriegsverbrecher Herbert Kappler und Erich Priebke, bis hin zu den irritierenden Konspirationen unter Beteiligung von US-amerikanischen, italienischen und deutschen Geheimdiensten, etwa im Fall Karl Hass‘, verleiten zu der zynischen Einschätzung, dass die verbrecherischen Aktivitäten heute „offenbar endgültig von deutsch-italienischen, zu rein inneritalienischen Störfälle(n) geworden“ sind.

Der Berliner Journalist und Autor Joachim Staron zeigt mit seinem Text „Marzabotto oder der Fall Reder“ ein weiteres Massaker der deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg in Italien auf. Er weist darauf hin, dass, anders als beim Massaker der Fosse Ardeatine, die militärische Aktion der Tötung von mehr als 700 Zivilisten als Kampf gegen die Partisanengruppe „Stella Rossa“ weitgehend bei der deutsch-italienischen Vergangenheitsbewältigung vergessen wurde. In Italien wurden lediglich zwei der Verantwortlichen für das Verbrechen vor Gericht gestellt: Der Kommandeur der 16. SS-Panzergrenadier-Division Max Simon, der im Juni 1947 zum Tode verurteilt, die Strafe jedoch im Januar 1948 in lebenslange Haft umgewandelt, das Urteil im Februar 1950 zu 21 Jahren Gefängnis geändert und schließlich 1955 aus britischer Haft entlassen wurde; und der österreichisch-deutsche SS-Sturmbannführer Walter Reder, der am 10. Mai 1945 von den Amerikanern in Salzburg gefangen genommen, 1947 an die britischen Untersuchungsbehörden in Kärnten ausgeliefert und im Mai 1948 von einem Militärtribunal in Bologna zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Ist eine endgültige Klärung mittlerweile obsolet, überholt, oder dient sie „einer wirklichen Klärung der historischen Fakten“?

Der Sozial- und Gesellschaftswissenschaftler der Pädagogischen Hochschule Salzburg, Christoph Kühberger, unternimmt eine Schulbuchanalyse, indem er die Darstellung des Faschismus und des Nationalsozialismus in deutschen, österreichischen und italienischen Schulbüchern für die Sekundarstufe I untersucht. Angesichts der politischen und didaktischen Erwartung, dass Lehrbücher für Geschichte Faktenwissen für historisches Lernen bereit legen und historische, ja sogar offizielle und gesellschaftlich sanktionierte (und verordnete?) Erzählungen sein sollen, stellt sich das Ergebnis der Analyse als ernüchternd dar: „Es ist zu beobachten, dass die derzeitigen Konzeptionen der untersuchten Schulbücher primär auf die inhaltliche Reproduktion der Verfassungstexte setzen, was zur Folge hat, dass dadurch ein Einsichtslernen im Sinn der modernen Geschichtsdidaktik bzw. des kompetenzorientierten historischen Lernens vom Buch nicht gefördert wird“; und zwar weder an deutschen, noch an österreichischen und italienischen Schulen.

Oswald Überegger vom Institut für Geschichte der Universität Hildesheim berichtet über seinen Forschungsschwerpunkt „Militärische Normübertretungen und Kriegsführung im Ersten Weltkrieg“, indem er über „Krieg in den Köpfen“ resümiert und die öffentliche Deutung der Folgen des Ersten Weltkriegs im österreichisch-italienischen Vergleich darstellt. Dabei identifiziert er einerseits eine mentale, sogar mythologisierte Distanz und Trägheit bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte; andererseits aber auch ein in den letzten Jahren gestiegenes Forschungsinteresse, mit dem Ziel, „die Erforschung der Geschichte dieses Krieges als gemeinsames, grenzüberschreitendes Projekt im europäischen Kontext zu sehen“.

Christoph Cornelissen, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, fragt nach „Erinnerungskulturen in Deutschland, Österreich und Italien seit 1945“. Dabei stellt er fest, dass die sich in der Nachkriegszeit entwickelten, überwiegend regional und national fixierten Erinnerungskulturen mit dem Zusammenbruch des Ost-West-Konflikts sich gewissermaßen als „Europäizität der Erinnerungen“ darstellen; allerdings mit einem nicht zu verniedlichenden und vernachlässigenden Problem einer Enthistorisierung von geschichtlichen Ereignissen.

Im Kapitel „Gewalt und Politik“ (vgl. in dem Zusammenhang auch die philosophische Abhandlung von Byung-Chul Han, Topologie der Gewalt, 2011, in: www.socialnet.de/rezensionen/12785.php) stellt der wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin und Privatdozent an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, Johannes Hürter, einen Vergleich von zwei Entführungs-/Terrorismusfällen in Deutschland und Italien an: „Von deutscher ‚Härte‘ und italienischer ‚fermezza‘, die staatlichen Reaktionen auf die Entführungsfälle Schleyer und Moro 1977/78“. Die terroristischen Ereignisse, die beide mit der Ermordung der Opfer endeten, haben sich als „Ikonen der ‚bleiernen Zeit‘“ in das deutsche und als „anni di piombo“ in das italienische historische Gedächtnis eingegraben. Obwohl es unterschiedliche Nuancen beim staatlichen Abwehrverhalten in beiden Ländern gab, überwogen die Übereinstimmungen bei den Strategien der Unnachgiebigkeit und der politischen, demokratischen Absicherung der Abwehrmaßnahmen, was, trotz einiger Irritationen und Fehlentscheidungen, eine durchaus erfolgreiche Anti-Terror-Politik auf der Grundlage eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates ermöglichte.

Tobias Hof, Mitarbeiter der deutsch-italienischen Historikerkommission und am Deutschen Historischen Institut in Washington, setzt sich mit der Entwicklung der linksterroristischen Gruppe Brigata Rosse in den Jahren von 1969 bis 1987 auseinander: „Vom italienischen ‚Robin Hood‘ zum ‚Staatsfeind Nr. 1‘“. Die Terrorgruppe verübte in der Zeit zahlreiche Attentate und verbreitete Angst und Schrecken bei den Mächtigen des Staates. Sie gipfelte in der als „Aktion Fritz“ bezeichnete Entführung und Ermordung von Aldo Moro 1978. Die Entwicklung der BR, die das Symbol des asymmetrischen Sterns mit fünf Spitzen als Kennzeichen hatte, ist bis heute an ihrem Ursprungsort, in Trient, zu sehen. Es verdeutlicht, dass die BR, anders als die RAF in Deutschland, sich als proletarische Kampfgruppe verstand, deren Ziel es war, die patriarchalischen und kapitalistischen Verhältnisse in den Industriestädten durch eine revolutionäre Bewegung der Arbeiterschaft abzuschaffen.

Der Südtiroler Journalist und Regisseur Christoph Franceschini reflektiert die Geschichte der Südtirol-Attentate in den 1960er Jahren und betrachtet dabei auch die Rolle der italienischen und amerikanischen Nachrichtendienste rund um den „Befreiungsausschuss Südtirol“ (BAS): „Zwischen Rom, Wien und Langley“. Er stellt erst einmal fest, dass der aktuelle Umgang mit den Begrifflichkeiten, mit denen die Attentäter jener Widerstandsperiode in Südtirol heute, vor allem in Österreich (beschönigend und verharmlosend) belegt werden, den tatsächlichen Zielsetzungen der BAS-Leute und die Benennung ihrer Taten in keiner Weise gerecht werden. Der Autor unternimmt den Versuch, einen kleinen Spalt des Geheimdienstvorhangs zu lüften und einen Blick darauf zu richten, welche Strategien und Einflüsse die Geheimdienste, vor allem des CIA, bei der Entwicklung der Südtiroler Widerstandsbewegung ausübten. Die Wahrheit freilich liegt noch in den hermetisch abgeriegelten Aktenschränken in den USA.

„Das Jahr 1989 und die Folgen“ wird im nächsten Kapitel betitelt. Der österreichische Botschafter in Großbritannien, Emil Brix, thematisiert „die Mitteleuropapolitik von Österreich und Italien im Revolutionsjahr 1989“. Er registriert erst einmal für die beiden Nachbarländer eine Aufbruchstimmung, die in der kulturellen und politischen Zusammenarbeit eine neue Form des Dialogs einführte, der nicht überschattet wurde von der Südtirolfrage und vor allem Österreich eine gewisse Schlüsselposition hin zu den osteuropäischen Staaten zuwies; allerdings auch, durch die innenpolitischen Entwicklungen in Italien, etwa der „Lega Nord“ und dem Berlusconismus, den Einfluss Italiens in dieser Phase der Öffnung hin zu Osteuropa weitgehend bedeutungslos werden ließ. Für Österreich allerdings bedeutete der EU-Beitritt auch, dass das Land ein stärkeres Gewicht gewann.

Der Wiener Hofrat und Leiter des Fachbereichs Zeitgeschichte an der österreichischen Landesverteidigungsakademie, Erwin A. Schmidl, referiert über sicherheitspolitische Aspekte im Alpenraum: „Vom ‚Kalten Krieg‘ zum ‚heißen Frieden‘“. Der „Eiserne Vorhang“ und sein Fall, die geostrategische Ausrichtung Österreichs als „neutraler Staat“, gleichzeitig aber die Einbindung von Italien und Österreich in das westliche Verteidigungsbündnis, bis hin zur Beteiligung an internationalen Friedenseinsätzen, vom ehemaligen Jugoslawien bis Afghanistan, betonen die politischen und wirtschaftlichen Gemeinsamkeiten in der Region.

David Burigana vom International Studies Department der Universität von Padua fragt: „A European ‚intergovernmental‘ Defence?“, indem er, in englischer Sprache, die Entwicklung und Bedeutung der Rüstungszusammenarbeit von Italien und Deutschland als einen bedeutsamen Aspekt der europäischen politischen Kooperation darstellt. Die beiden Länder bilden damit, zusammen mit Frankreich und England, „this sort of ‚Euro-Atlantic plane‘ on the route of a European defence attitude“.

Das letzte Kapitel in dieser Vielfalt der differenzierten Betrachtungsweise der Bedeutung des Dreiecksverhältnisses bei den internationalen Beziehungen von Italien, Österreich und Deutschland zueinander und im Zusammenhang mit der europäischen Einigung, wird mit „EU-Kontext“ getitelt. Dabei werden die Initiativen und Projekte dargestellt, die von den jeweiligen Regierungen während der EU-Ratspräsidentschaften veranlasst und durchgeführt wurden. Der Politikwissenschaftler und Leiter des Referats für Internationale Sicherheit am Wiener Institut für Strategie und Sicherheitspolitik, Gunther Hauser, diskutiert die Aktivitäten bei den österreichischen Ratspräsidentschaften von 1998 und 2006. Dabei bilanziert er eine Reihe von Anlässen, bei denen die österreichische Regierung durch geschicktes Verhandeln und klugem Dialogverhalten schwierige Passagen des Europa-Tankers mit manövriert hat. Natürlich sind EU-Ratspräsidentschaften niemals Alleingänge und Einzelveranstaltungen; aber im Vergleich zeigt sich, dass oft kleinere Länder Klippen umschiffen können, die für größere und „wichtigere“ Mitgliedsstaaten Havariegefahr bedeuten.

Die Historikerin Patrizia Kern von der Universität Heidelberg analysiert die italienische Ratspräsidentschaft 2003, zu einer Zeit, in der (erneut) sich in vielfacher Hinsicht Krisensituationen zeigten; etwa die konstitutionellen Schwierigkeiten, die durch die Diskussion des Vertragsentwurfs zur Europäischen Verfassung auftraten. Während die in der Periode zu leistenden Vorbereitungs-, Vermittlungs-, Abstimmungs- und Koordinierungsarbeiten durch den Beamtenapparat tadellos geleistet wurden, stellten die eigenwilligen und unkontrollierten Verhaltensweisen des italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi ein Ärgernis und Hemmnis dar, vor allem durch die hochgespielte Konkurrenzsituation zwischen dem EU-Kommissionspräsidenten Prodi und Ratspräsidenten Berlusconi, die zu einer neuen Form der Politisierung in der EU, gewissermaßen als Verlängerung der Innenpolitik eines Landes, führte.

Der Politikwissenschaftler Matthias Belafi, u. a. Lehrbeauftragter am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen an der Universität Köln, stellt die deutschen EU-Ratspräsidentschaften von 1999 und 2007 im Vergleich mit der Frage dar: „Politische Führung durch den Ratsvorsitz?“. Damit verweist er auf die Situation, dass zwar durch den Vertrag von Lissabon 2009 die politische Bedeutung der EU-Ratspräsidentschaft politische Einflussmöglichkeiten eingebüßt hat, gleichzeitig aber innerhalb der Europäischen Gemeinschaft der Ruf nach politischer Führung lauter geworden ist. Während wiederum der Ratsvorsitz in beiden Perioden vor schwierigen Entscheidungen und zu meisternden Koordinierungs- und Vermittlungsaufgaben stand, wird durch den Vergleich des Agierens der beiden deutschen Regierungschefs, Bundeskanzler Gerhard Schröder für 1999 und Bundeskanzlerin Angela Merkel für 2007, erkennbar. Es sind die jeweils persönlichen Stile, die nicht unwesentlich Erfolge und Misserfolge, Bestätigungen und Irritationen verursachen.

Fazit

Wenn der Historiker der Universität Padua, Antonio Varsori, in seinem Resümee des Konferenzverlaufs und des Gehalts der Vorträge und Diskussionen zum Ausdruck bringt, dass „even in this bright picture that appears to highlight cooperation and friendship, it would be possible to find out a degree of ambivalence“ – wird deutlich, dass es der Hildesheimer Konferenz gelungen ist, den Anspruch zu realisieren, das „Dreiecksverhältnis auf verschiedenen Ebenen zu beleuchten“ und insbesondere mit vergleichenden Analysen die Themenfelder zu diskutieren, die bisher in der Forschung wie im politischen Alltag weniger stark beachtet oder sich kaum im Blickfeld des europäischen Einigungsprozesses befinden.ofHH

Zwar dürfte es unwahrscheinlich sein, dass der Tagungsband – schon wegen des Verkaufspreises – in den Büchereien von Schulen bereit liegt; aber für die Schulbuch- und didaktische Arbeit sollte er zur Verfügung stehen. Unverzichtbar ist die Bereitstellung des Buches in Hochschul- und öffentlichen Bibliotheken – und es ist hoffentlich auch in den Handapparaten von (Europa-)Politikern zu finden.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 17.02.2012 zu: Michael Gehler, Maddalena Guiotto (Hrsg.): Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland in Europa. Ein Dreiecksverhältnis in seinen wechselseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen von 1945/49 bis zur Gegenwart. Böhlau Verlag (Wien Köln Weimar) 2011. ISBN 978-3-205-78545-3. Reihe: Arbeitskreis Europäische Integration. Historische Forschungen. Veröffentlichungen - 8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12803.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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