Peter Dudek: "Liebevolle Züchtigung"
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 28.06.2012
Peter Dudek: "Liebevolle Züchtigung". Ein Mißbrauch der Autorität im Namen der Reformpädagogik. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2012. 213 Seiten. ISBN 978-3-7815-1843-8. D: 17,90 EUR, A: 18,40 EUR.
Fatale Grenzüberschreitungen im Namen der Ideologie des „pädagogischen Eros“
Die skandalträchtigen Enthüllungen über pädosexuelles Verhalten von Erzieherinnen, Erziehern, Pädagoginnen und Pädagogen an der bis dahin hochgelobten und vorbildhaft beschriebenen, reformpädagogischen Odenwaldschule – „und sicher nicht nur hier“ – haben eine neue öffentliche Aufmerksamkeit auf die Irrungen und Wirrungen im pädagogischem, erziehlichem Verhältnis zwischen Educandor und Educandus bewirkt. Der „pädagogische Eros“, als institutionalisierte wie initiierte Form von ideologisierten und irregeleiteten Auffassungen zum pädagogischen Verhältnis hat eine lange Geschichte, die sowohl unter dem Teppich von gängiger sexueller Gewalt von Erwachsenen an Kindern und Jugendlichen gekehrt, als auch im Zeichen der Aufklärung und Emanzipation ans Tageslicht gebracht wurde (vgl. dazu z. B.: Thijs Maasen, u.a., Pädagogischer Eros: Gustav Wynekens pädagogische Freundschaften in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, 1995; Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, 2011; Magdalena Klinger, Pädagogischer Eros. Erotik in Lehr-/Lernbeziehungen aus kontextanalytischer und ideengeschichtlicher Perspektive, 2011). Philosophische, moraltheologische, psychologische, pädagogische und historische Deutungen des Phänomens liegen zur Thematik in Fülle vor. Die dabei benutzten Erklärungsmuster reichen von analytisch-erklärenden bis zu Formen der Schuldzuweisung.
Entstehungshintergrund und Autor
Es sind die mittlerweile zahlreich vorliegenden Offenlegungen von sexueller Gewalt – und zwar nicht nur in reformpädagogischen und kirchlichen pädagogischen Einrichtungen – die nicht zuletzt durch die Medien in das öffentliche, gesellschaftliche Bewusstsein gelangt sind und Zusammenhänge zwischen Reformpädagogik und Pädophilie verdeutlichen, bis hin zu medialen Skandalisierungen und (unangemessenen) Pauschalisierungen. Für eine objektive, analytische Betrachtung der pädosexuellen Situationen in Schulen sind historische Fallanalysen hilfreich, wie sie der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Peter Dudek als bildungshistorische, distanzierte Forschungsarbeiten bereits vorgelegt hat, etwa zu Herman Nohl, zum Psychoanalytiker und Pädagogen Siegfried Bernfeld, u.a. Denn Verwerfungen, Abwege und Fehlentwicklungen beim Rollenverständnis und Verhältnis von Lehrenden und Lernenden in familienähnlichen Systemen und Verständnis, wie sie sich über Jahrzehnte hinweg an einigen Landerziehungsheimen, Internaten und Reformschulen gewissermaßen unangefochten und unhinterfragt, gleichsam jeder kritischen Betrachtung und „Augenkontrolle“ entzogen, gebildet haben, wurden im Verständnis und in der Rezeption der reformpädagogischen Bestrebungen und Programme kaum hinterfragt. „Was nicht sein darf, das nicht sein kann“, als ideologische, traditionsbesetzte, unkritische Einstellung? Selbst in den erziehungswissenschaftlichen Forschungen waren Fragen zu sexuellem Missbrauch, pädosexueller Gewalt und sadistischen Züchtigungsneigungen bei Pädagogen und Erziehern nicht im Blick; und diejenigen, die an dem Tabus zu rütteln versuchten, galten als „Nestbeschmutzer“.
Aufbau und Inhalt
Peter Dudek setzt sich mit seiner Studie mit dem „Fall Lützow“ in der Weimarer Republik auseinander: Dr. Kurt Lüder Freiherr von Lützow (1883 – 1944) wurde am 22. Februar 1926 vor dem Erweiterten Schöffengericht in Berlin-Moabit angeklagt, in seinem privat geführten Internat „zahlreiche Schüler … körperlich sadistisch misshandelt und sich ihnen übergriffig in sexueller Absicht genähert“ zu haben. Die Anklage lautete: Gefährliche Körperverletzung und Vornahme unzüchtiger Handlungen an Kindern unter 14 Jahren in dem von ihm geleiteten Landerziehungsheim. Der Angeklagte bestritt die Vorwürfe und rechtfertigte sein umfassendes körperliches Strafsystem „als pädagogisch notwendig und angemessen“. Aufgrund der damaligen Rechtslage und der strafrechtlichen Auffassungen über Homosexualität und sexueller Gewalt bei und unter Erwachsenen war es äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich, sexuelle Gewalt von Erwachsenen gegenüber Kindern nachzuweisen, weil die Beweislast ausschließlich bei den Opfern lag. Der Angeklagte konnte sich bei den Klagefällen zudem darauf berufen, dass das körperliche Züchtigungsrecht der Lehrer üblich und anerkannt war.
Von Lützow unterrichtete, obwohl er keinerlei pädagogische Ausbildung hatte, an verschiedenen Schulen, u. a. der landwirtschaftlichen Winterschule in Schwiebus und am Johannäum in Moers am Rhein. Er engagierte sich in der evangelischen Jugendbewegung der sogenannten „Bibelkränzler“ und war mehrere Jahre im Landerziehungsheim Haubinda bei Hermann Lietz (1868 – 1919) tätig. 1919 wechselte er als Oberlehrer für Naturwissenschaften an die Odenwaldschule, blieb dort aber nur einige Monate, weil es zu Differenzen mit Edith und Paul Geheeb wegen der schlechten Bezahlung und unzureichenden Ausstattung mit naturwissenschaftlichen Lehrmaterialien an der Schule kam. Mittlerweile verheiratet, ging das Ehepaar von Lützow dann an das Waldpädagogium Bad Berka, um einige Monate später im märkischen Buckow eine eigene „Höhere Lehranstalt“ zu eröffnen und sie im Sinne der Reformpädagogik von Hermann Lietz zu führen. Es kam bald zu Auseinandersetzungen mit der von der Stadt unterstützten Schule wegen mangelnder finanzieller Förderung, so dass er schließlich das Landerziehungsheim für Jungen in Zossen erwarb und nach reformpädagogischen Prinzipien entwickelte. Bürgerliche Tugenden, wie: Ordnung, Zucht, Verlässlichkeit, Zuverlässigkeit, völkische Treue und die sportlich-nationalistische Auffassung „In einem gesunden Körper steckt ein gesunder Geist“ gehörten zu den Erziehungszielen der Schule.
Diese stringenten Auffassungen und Wertevorstellungen waren auch in den anderen reformpädagogischen Einrichtungen zu finden. Der Autor zeigt dies an den Schulreformern und ihren Einrichtungen – Andreas Dippold, Gustav Wynken und von Lützow – auf und diskutiert die Problematik anhand der kontroversen Auffassungen über Recht und Unrecht der Prügelstrafe. Die strafprozessualen Umstände und die öffentliche Aufmerksamkeit, die der Prozess gegen von Lützow verursachte, die Finten und Querverbindungen, die Ankläger, Verteidiger und Gutachter ausübten, zeigen ein Gesellschaftsbild auf, das den Autor zu dem Ergebnis bringt: Nicht die Reformpädagogik steht vor Gericht, sondern einzelne, irregeleitete und ideologisierte Täter.
Der Freispruch von Lützows, Entschädigungszahlungen des Staates und das Recht, seine Schule weiter führen zu dürfen, hat allerdings in der juristischen, schulpolitischen und pädagogischen Rezeption des Falles Auswirkungen gezeigt, die sich bis heute verfolgen lassen: „Wie glaubhaft sind Aussagen von Kindern und Jugendlichen, die wirkliche oder vermeintliche Opfer körperlicher und/oder sexueller Gewalt geworden sind, vor Gericht?“ Das Problem der „False Memory“, das auch in den Auseinandersetzungen um sexuelle Gewalt an der Odenwaldschule und anderswo ins Feld geführt wird und notwendig macht, dass wir Hier und Heute Schulreform anders bewerten und handhaben: Nicht ideologisierten und institutionell festgemauerten Bildungs- und Erziehungsmodellen gilt es das Wort reden, sondern der Fähigkeit und Bereitschaft zur permanenten Veränderungskompetenz – um schließlich einen Perspektivenwechsel hin zu einem Schul- und Bildungssystem leisten zu können, das allen Schülerinnen und Schülern Gerechtigkeit und Chancengleichheit ermöglicht.
Fazit
Die Einbettung des Fallbeispiels in die historischen Zeitläufte, die politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Gemengelagen, wie sie sich zu den Themenkomplexen pädosexueller Gewalt, pädophilenen Neigungen und sadomasochistischen Prügelstrafen ergeben, tragen ohne Zweifel dazu bei, im erziehungswissenschaftlichen Diskurs die Merkmale des pädagogischen Verhältnisses, wie es etwa von Klafki formuliert, mit der Forderung nach Autonomie im Bildungs- und Erziehungsgeschehen von Paulo Freire (Paulo Freire, Pädagogik der Autonomie. Notwendiges Wissen für die Bildungspraxis, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/6090.php) und in der Auseinandersetzung zum Verhältnis von Subjektivität und Relationalität in Lernprozessen reflektiert werden (Tobias Künkler, Lernen in Beziehung, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12017.php), erneut auf die Agenda des theoretischen Nachdenkens und praktischen Vollzugs beim Akt der Erziehung zu bringen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 28.06.2012 zu:
Peter Dudek: "Liebevolle Züchtigung". Ein Mißbrauch der Autorität im Namen der Reformpädagogik. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2012.
ISBN 978-3-7815-1843-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12807.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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