Christian Goeschel: Selbstmord im Dritten Reich
Rezensiert von Prof. Dr. Richard Utz, 11.10.2012

Christian Goeschel: Selbstmord im Dritten Reich. Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M) 2011. 337 Seiten. ISBN 978-3-518-42269-4. 21,90 EUR.
Thema
Der Anspruch des 2009 in englischer Sprache beim renommierten Oxford University Press erschienen „Suicide in Nazi Germany“ und 2011 beim Suhrkamp Verlag unter dem Titel: „Selbstmord im Dritten Reich“ erschienen Buches von Christian Goeschel ist ein hoher: „Insgesamt sehe ich mein Buch als ein Beispiel einer neuen integrierten Sozial- und Kulturgeschichte des Dritten Reiches, die selbstverständlich fest mit dem politischen Kontext verzahnt ist, sowohl auf Theorien und gesellschaftliche Strukturen eingeht und zugleich einzelne Schicksale und Handlungen stärker in den Vordergrund stellt. (Goeschel 2011:7f)
Tatsächlich zielt der Autor nicht alleine auf die Nazi-Ära, sondern auf eine „Untersuchung des Phänomens Selbstmord in Deutschland zwischen 1918 und 1945, also in der Zeit vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.“ (ebd.: 11) Diese Suizidographie des nachwilhelminischen Deutschland bis 1945 will den Suizid unter verschiedenen Dimensionen behandeln: Zum einen als einen gesellschaftlichen Sachverhalt im Anschluss an Untersuchungen mit einem eher soziologischen oder soziographischen Charakter, die sich seit der paradigmatischen Studie „Le Suicide“ von Emile Durkheim vergebens an ähnlich komplexen Typologien und makrosoziologisch sorgfältigen Erklärungen versuchen; zum zweiten will sie Suizid als ein „kulturelles Konstrukt“ (14) auffassen, was soviel heißt wie die innerhalb einer geschichtlichen Periode zur Deutung verfügbaren Semantiken, welche die normalen Wahrnehmung-, Deutungs- und Bewertungsselbstverständlichkeiten plausibel machen wollen, den Suizid zu denken. Diese „Macht der Diskurse“ über den Selbstmord oder den Freitod oder die Selbstentleibung oder Selbstauslöschung oder Selbsttötung liegt nach Meinung des Autors den öffentlichen und inoffiziellen Statistiken als unbewusst wirksames Regulativ zum Suizid zu Grunde, wie sie auch die einzelnen Personen beeinflussen, die in so genannten „Abschiedsbriefen“ sich und ihren Hinterbliebenen ihre extreme Handlung von ihren Motiven her verständlich machen wollen. Schließlich will der Autor die individuellen Suizidanten selbst soweit als möglich in ihren persönlichen Äußerungen zu Wort kommen lassen und damit die „persönliche Dimension des Selbstmords“(15) akzentuieren: „Dieses Buch“, so der Autor in dem ihm eigenen selbstbewussten Ton, „bringt mit seinem Vorgehen das Individuum in die Darstellung von Geschichte zurück.“(16)
Schauen wir also zu, wie „dieses Buch (…) die ältere Geschichtsschreibung mit Hilfe einer großen Anzahl von Quellen (überwindet)“ (20) und ob es diese Ambition einlöst, insofern als „dieses Buch (…) eine einzigartige Sammlung von Abschiedsbriefen und polizeilichen Ermittlungen (präsentiert)“ (21). Dabei verspricht „dieses Buch“ über die Auslegung der Abschiedsbriefe von Suizidanten eine Prüfung und Beantwortung der Forschungsfrage, „…bis zu welchem Grad die deutsche Gesellschaft insgesamt ein ideologisches Engagement für die Nationalsozialisten entwickelt hatte.“(23)
Aufbau und Inhalt
Tatsächlich ist auch „dieses Buch“ in Kapitel gegliedert, und zwar in fünf:
- „Hintergrund: Die Weimarer Zeit“, sodann
- „Selbstmord unter dem Hakenkreuz, 1933-1939“,
- „Selbstmorde deutscher Juden, 1933-1945“,
- „Selbstmorde im Krieg, 1939-1944“ und schließlich
- „Zusammenbruch“.
Nach dem „Schluß“, also dem Fazit des Buches, gibt es einen Anhang mit Häufigkeitstabellen, die zu den einzelnen Kapiteln als statistische Illustrationen gelesen werden können und die Tatsachen im Hellfeld der Suizidalität quantitativ darstellen. Das scheint wichtig für die Anlage der Untersuchung, die doch analytisch zwischen Fakten, Diskursen über die Fakten und faktischen Selbstmordhandlungen und ihren Motiven unterscheiden will. Diese Statistiken beruhen nicht auf selbstständigen Berechnungen und kritischen Überarbeitungen wie sie etwa Jürgen Falter für die Wahlen zum Reichstag in dieser Zeit vorgelegt hat, sondern gehen, sofern ausgewiesen, auf amtliche Statistiken des Deutschen Reiches, Berliner Stadtstatistiken oder Angaben in anderen Studien zum Thema zurück.
Am Tabellenmaterial lässt sich so ablesen, dass der Suizid zwischen 1918 und 1933, nach dem 1. Weltkrieg bis zum Ende der Republik von Weimar, also von 1919 bei etwa 16 Suiziden durchschnittlich bis 1933 auf ca. 28-29 pro Hunderttausend kontinuierlich angestiegen war, sich dann auf diesem Niveau während der Blüte der Nazi-Herrschaft im damaligen Kerngebiet Deutschlands also bis zum Kriegsbeginn 1939 hielt, während es für die Zeit des 2. Weltkrieges keine präsentablen Zahlen zu geben scheint. Zahlen für die Kriegsjahre kann Goeschel nur für Berlin präsentieren, die als Kapitale Nazi-Deutschlands sicherlich für die deutsche Nazigesellschaft repräsentativen Charakter beanspruchen kann, nicht aber für die deutsche Bevölkerung mit ihren doch sehr verschiedenartigen Milieuausprägungen insgesamt. So stechen besonders die Berliner Zahlen für das Kriegsende in die Augen: Lag die absolute Suizidzahl großstadttypisch hoch, nämlich bei durchschnittlich 46/47 -50 Suizidanten auf 100.000 EW bis 1944, so schnellen sie 1945 noch einmal auf knapp 250 hoch: Im April 1945 suizidierten sich in Berlin ca. 3800-3900 und im Mai knapp tausend Menschen im Kontext des von Joachim Fest pathetisch als „Untergang“ bezeichneten totalen Niederlage des System „Hitler“. Zahlen für jüdische Deutsche legt Goeschel für die Jahre 1941-44 in Berlin vor und auch hier ist eine dramatische Steigerung in den Jahren zu erkennen, in denen sich die Deportationen der jüdischen Deutschen in die nazistischen Lager der Massenmorde und der todbringenden Zwangsausbeutung zwischen 1942 und 1943 intensivierten.
Aber betrachten wir uns die Ergebnisse, die Goeschel zu den Diskursen über und den Motiven für Suizid für Weimar, Vorkriegsnazideutschland und Kriegsnazideutschland präsentiert, also die Art und Weise, wie der Suizid gedacht und somit gedeutet worden ist, und warum er ausgeführt worden ist.
Für die Weimarer Republik identifiziert Goeschel als diskursbestimmende Akteure die öffentlichen Stellen, die Selbstmordstatistiken herausgaben, die Massenmedien oder die Presse, in Sonderheit die Sensationspresse, die Kirchen und die Parteien, die sie kommentierten.
Der Suizid war (und ist) als Geste der Verneinung des Lebens unüberbietbar. Insofern war (und ist) er leicht von den genannten Institutionen als Negation derjenigen Eigenschaften der Gegenwart deutend zu besetzen, die sie aus dem System ihrer Wertungen heraus verneinten und ablehnten und deshalb gemäß ihrer jeweiligen ideologischen Logik als Ursache für die sozialen Probleme ihrer Zeit reklamierten (vgl. 87ff). Die Kirchen sahen den Suizid als Symptom sittenverderblicher Säkularisierung, die Massenmedien verstanden ihn als Symptom für Wertezerfall nach dem Untergang des Wilhelminismus als Lebensform, die Kommunisten z.B. in ihrem Sprachrohr „Rote Fahne“ sahen in ihm das Symptom für proletarische Verelendung unter dem sozialdemokratisch tolerierten Kapitalismus Weimars und die Nazis z.B. im „Angriff“ oder im „Völkischen Beobachter“ nahmen Suizide für „moralische Schwäche“(47) oder aber als Folge der deutschen Reparationszahlungen an die Alliierten oder direkt als Konsequenz des „Weimarer-Systems“ (50). Einzig die liberale Presse ging gemäß ihrer Stellung zur Weimarer Demokratie differenzierter und realitätsnäher auf die individuellen Motivlagen der Suizidanten ein.
Die Inflation und die Wirtschaftskrisen, die politische Instabilität und die kulturellen Orientierungsunsicherheiten spiegeln sich auch in den Abschiedsbriefen der Suizidanten wider und verbinden sich mit den genuin persönlichen Motiven wie Verzweiflung oder Liebeskummer, deren Anlässe, nicht aber Gründe direkter oder indirekter in den desaströsen Verhältnissen liegen mochten: Die Kosten, Nachteile und Schäden, welche makrosoziale Katastrophen im Gefolge haben, gehen immer zu Lasten der konkreten, einzelnen Menschen, die sie entweder tragen und überwinden oder unter ihnen zusammenbrechen und an ihnen scheitern, und als Reaktion auf dieses Scheitern im einzelnen Fall aus eigenem Entschluss auch ihrem Leben ein Ende bereiten.
Wie aus der vorgenannten Statistik zu ersehen, brachte der zur politischen Herrschaft gelangte Nazismus keinen Rückgang der Suizidzahlen: Im Gegenteil unter dem Terrorstaat und seiner gezielten Exklusionspolitik hielt sich die Suizidquote auf dem Niveau, die sie am Ende Weimars erreicht hatte. Die Nazis, sofern sie diesen Sachverhalt nicht leugneten, deuteten sich und der Öffentlichkeit gemäß ihrer pseudowissenschaftlichen Rassenlehre den Suizid im Wesentlichen als erbliche Degenerationserscheinung, unterstützt von einer Medizin und Psychiatrie ohne Menschlichkeit, wie sie etwa in solchen auch nach 1945 einflussreichen Psychiatern wie dem Hamburger „Nervenarzt“ Bürger-Prinz oder dem Mitbegründer des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg K.H.Bauer und vielen anderen verkörpert wurden. Der „Idee“ der Volksgemeinschaft zufolge unterschieden die Nazis und die ihnen – oft – aus Karrieregründen willfährigen Natur- und Geisteswissenschaftler zynisch zwischen unerwünschten oder „schädlichen“ und erwünschten oder „nützlichen“ Suiziden, insofern als der Suizid „wertvoller“ Menschen als ein Verlust an nutzbarer Humanressource für das vorgestellte Volkskörperkollektiv begriffen wurde. Suizide dieser „wertvollen Menschen“ sollten nach dem Willen solcher Nazis wie dem späteren, gnadenlosen Volksgerichtshofpräsident Freisler unter Strafandrohung gestellt werden, während die so genannter „minderwertiger“ Menschen als ein Gewinn an „Volksgesundheit“ aktiv gefördert werden sollte, was allerdings wegen der bekannten Protestwellen einzelner, mutiger Kirchenmänner nicht offiziell realisiert wurde.
Wie Goeschels statistischer Anhang zeigt, stiegen die Suizidzahlen unter denjenigen Menschen an, die von den Nazis als politische Gegner und also als Feinde definiert und verfolgt, traumatisiert und also desperat wurden. Repressalien und Benachteiligungen aller Art stürzten die nicht zum so genannten „Volkskörper“ gerechneten, die exkludierten und folglich drangsalierten und diskriminierten Menschen in eine existenzbedrohliche Lage, aus der heraus viele politisch begründete Freitode mit motiviert waren. Insofern vermutet Goeschel, dass als eine Folge des Naziterrors während der Konsolidierungsphase des Systems „Hitler“ politische gegenüber den sozioökonomischen Suizidmotiven der Weimarer Zeit motivationsdominant wurden. Suizide politischer Gegner werteten die Nazis offiziell als persönliche Feigheit der Suizidanten, und so ist es vermutlich auch zu verstehen, dass die Nazis, menschenverachtend wie sie sich selbst verstanden und faktisch auch handelten, viele ihrer Ermordungen politischer Gegner oder überhaupt von Menschen, die in irgendeiner Hinsicht als Bedrohung wahrgenommen und deshalb ermordet wurden, offiziell als Selbstmorde deklarierten. Diese Deklarierungs- oder Lügenpraxis für die selbst verübten Morde nannte das Hitler-Nazi-System nach der ihm eigenen Sprachregelung, die Viktor Klemperer als „LTI“ ( Lingua Tertii Imperii, also Sprache des Dritten Reiches) identifizierte: „selbstmorden“.
Eindeutig als Reaktion auf die rassenpolitisch motivierte Verfolgung und Diskriminierungen sind laut Goeschel die Suizide jüdischer Deutscher zu verstehen, deren Anzahl die der Protestanten und Katholiken seit dem Ersten Weltkrieg überstiegen. Goeschel verwendet in seinem dritten Kapitel „vernachlässigte archivalische Quellen, eingeschlossen auch Abschiedsbriefe deutsch-jüdischer Selbstmörder.“ (150) Den Autor interessiert dabei die Frage, „ob jüdische Selbstmorde als eine Form des Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu betrachten sind oder ob und inwiefern wir darin Akte der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit sehen müssen.“ (ebd.)
SA-Terror, Boykott und Arisierung von Geschäften, Ausschluss von Menschen aus der Beamtenschaft, Entzug der Gerichtszulassung von Rechtsanwälten und Entlassung von Professoren oder Boykott von Ärzten bis hin zu den berüchtigten Nürnberger Gesetzen von 1935 und zu den Massenpogromen des 9. November 1938 mit ihren fatalen Wirkungen auf die zivile Rechtsstellung und das seelische Befinden derjenigen Menschen, die die Nazis als „Juden“ in ihrem aggressiv-rassistischen Sinne definierten, stigmatisierten und verfolgten – diese Drangsalierungen hatten unter den derart Getroffenen signifikante Suizidhäufungen zur Folge. Nirgends aber ist die direkte Auswirkung des offiziellen Naziterrors auf Deutsche mit jüdischem Selbstverständnis oder mit keinem jüdischen Selbstverständnis aber von den Nazis als „jüdisch“ etikettierte Menschen deutlicher abzulesen als in Österreich nach dem so genannten „Anschluss“, wie Goeschel ausführt (155ff). Eine weitere Ursache für die Häufung der Suizide in diesem Zusammenhang stellen die schrecklichen Umstände des Gettolebens, der Deportationen und die täglichen Erfahrungen in den Vernichtungs- und Zwangsarbeitslagern dar, denen die Menschen dort ausgesetzt waren.
Goeschel beantwortet seine eingangs des Kapitels gestellte Frage so, dass „die Selbstmorde von Juden im Dritten Reich (…) meist keine spontanen Akte der Verzweiflung (waren); vielmehr wurden sie, als die Deportationen begannen, häufig sorgfältig geplant. Das Motiv, die Würde zu wahren, wird also entscheidender gewesen sein als reine Verzweiflung.“ (182) Aber unter den Bedingungen der Lager wie Treblinka gab es selbst für den Suizid aus Würde nach Meinung Goeschels keine Chance mehr, zu schutzlos waren die Menschen dem unmittelbaren Terror der „absoluten Macht“ (Wolfgang Sofsky) in der totalitären Situation ausgeliefert: „Die Nationalsozialsten ließen den Juden keine Freiheit – ausgenommen den Selbstmord. Das ist zuletzt sehr viel bedeutsamer als die Frage, ob die Selbstmorde deutscher Juden während des Dritten Reichs bewußte Akte der Herausforderung oder der politischen Opposition gegen die mörderische Politik der Nationalsozialisten gewesen sind. Selbstmord konnte in der völligen Ausnahmesituation, in der sich die Juden des Dritten Reichs befanden, kein klares Muster haben.“ (183)
Im Krieg spricht einiges dafür, dass der Kriegsverlauf, ausgedrückt in Siegen und Niederlagen der eigenen und der feindlichen Armeen, sich auch auf Anstieg oder Abnahme der Suizidzahlen auswirkten: „In Zeiten deutscher Siege also nahmen sich weniger Menschen das Leben… Ab 1942 stieg die Selbstmordrate in Berlin wieder.“ (184) Goeschel führt das plausiblerweise auf die Folgen der Ausbombungen, der kriegsbedingten Todesfälle in den Familien, die scharfen Einschnitte in der Versorgung und der Lebenslage zurück, denen die Menschen hier ausgeliefert waren. Dazu kommt eine sich mit Häufung militärischer Niederlagen einstellende Sanktionsverschärfung, die durch den „Reichsjustizminister“ Thierack initiiert wurde, der die Verhängung von Todesstrafen drastisch erhöhte, was laut Goeschel ebenso zum Anstieg der Suizidzahlen beitrug wie die Einrichtung von Standgerichten gegen Ende des Krieges.
Anhand von Einzelfällen versucht Goeschel sodann eine Falsifikation des in der Goldhagen-These ausgesprochenen stillen Einverständnisses und der darauf aufruhenden Kollaboration der „ganz normalen Deutschen“: „Entschieden verübte individuelle Selbstmorde ziehen dieses Argument in Zweifel und lassen stattdessen hervortreten, wie mächtig der NS-Terror war, mit dem die deutsche Bevölkerung in Zaum gehalten wurde.“ (185)
Auch hier wirkten sich Nazi-Unrecht wie das so genannte „Heimtücke-Gesetz“ von 1934 aus, mit dessen Hilfe praktisch jede Äußerung über irgendetwas Beliebiges als Regime-Kritik und damit als Defaitismus und im Krieg als „Wehrkraftzersetzung“ ausgelegt werden konnte. „Homosexuelle“, durch den Bomberkrieg depressiv gewordene Zivilpersonen oder durch die Beteiligung an den Gräueltaten nazifizierter Militärkräfte traumatisierte Soldaten verübten in signifikant höherem Maße Suizid. Widerstandskämpfer gleich welcher Couleur begingen Suizid, sofern sie das noch konnten, sobald sie gefangen genommen worden waren oder ihnen eine Gefangennahme unausweichlich schien. Goeschel macht hier resümierend wieder stärker ökonomische Motive aus, sowie Freitod aus Wahrung persönlicher Würde oder solche, die im Nazi-Diskurs als Opfer für den „Volkskörper“ oder als „Heldentod“ glorifiziert wurden.
Im letzten inhaltlichen Kapitel schildert Goeschel die Suizidalität, die den Kollaps Nazi-Deutschlands begleitete. Er unterscheidet dabei drei Wellen, durch die Suizide ausgelöst wurden. Die erste Suizid-Welle datiert er auf die Invasionsbewegung der Roten Armee im Osten Januar 1945, die vor allem Zivilbevölkerung im Osten erfasste; die zweite kam April/Mai 1945 und lichtete die Reihen der Nazis-Funktionäre, die selbst Hand an sich legten; schließlich macht der Autor eine dritte Welle aus, die durch den Einmarsch der Alliierten ausgelöst wurde. Der Aussage Goeschels wird mensch allerdings weniger zustimmen, der meint, dass „…schon die Mächtigkeit dieser Wellen (zeigten), daß es die gleichen Gründe gewesen sein müssen, die so viele Deutsche bewegten, sich umzubringen.“ (253). So zählt der Autor gleich auf den nächsten beiden Seiten „diverse Motive“ (254) auf, die gerade die Einheitlichkeit der Suizidmotive widerlegen.
Diskussion
Mit seinem eingangs formulierten Anspruch die Geschichte des Dritten Reiches neu schreiben zu können, ist der Autor m.E. gescheitert. Zwar leiht er sich aus den Kultur- und Sozialwissenschaften eine analytische Ansatzweise, die Sozialstruktur, Diskurs und individuelles Handeln in den Blick nehmen will, bleibt aber – wie könnte es auch anders sein – Historiker in der Durchführung seiner Absichten und entwickelt sich nicht zu dem Kultur- und Sozialwissenschaftler, der er hätte werden müssen, um diese auch einlösen zu können. Goeschel gelingt es m.E. nicht, die drei analytischen Dimensionen systematisch so miteinander in Wechselbeziehung zu setzen, dass von ihren möglichen Ergebnissen her, die eingangs in Anspruch genommene Neuperspektivierung der Nazi-Epoche tatsächlich auch nur in Umrissen erreicht worden wäre. Auch was die Motive angeht, die zum Suizid geführt haben mögen, entwickelt der Autor keinerlei begriffliche Vorschläge oder gar typologische Sensibilität, die dem Reichtum des von ihm präsentierten Materials angemessen wären.
So bleibt „dieses Buch“ sowohl der Geschichtsschreibung als auch der kulturwissenschaftlichen Analyse sein Versprechen schuldig, etwas veritables Neues an Deutungen beigebracht zu haben. Sein Verdienst liegt in den vielen dargebotenen Abschiedsbriefen und Informationen über das Verhalten institutioneller Akteure und ihrer Repräsentanten von der Kriminalpolizei bis hin zu Kirchenleuten und den Klinikern der Medizin und Psychiatrie, die bis dato nicht in dieser Breite entfaltet worden ist. Tiefere Einblicke allerdings, feinsinnigere Deutungen, die das dargebotene Material hätten zum Sprechen bringen und die Seelenlage vor dem „Absprung“ (Jean Amery) hätten typologisch ordnen oder gar auf konkretere Sozialstrukturen beziehen und in relevante Diskurse einschreiben können, eröffnet „dieses Buch“ nicht. So hätte zum Beispiel in der Dimension der individuellen Motivation begrifflich zwischen „Freitod“, also Suizid aus dem Motiv der Bewahrung der persönlichen Würde, „Selbsttötung“, also Suizid aus dem Motiv der persönlichen Verzweiflung, und „Selbstmord“, also Suizid aus Reaktion auf den nazistischen Terrorisierungsdruck, unterschieden werden können.
Als „gesellschaftliche Erklärungen“ zieht „dieses Buch“ entweder die in der Geschichtsschreibung zur Naziepoche und Vornaziepoche als Interpretamente von einiger Plausibilität bereitliegenden Muster zur Deutung der Suizide heran, ohne dass es diese mit den dominanten Diskursen über den Suizid kontrastiert und systematisch korreliert und in ihrer Wirkungsreichweite auf die individuellen Selbstmorderklärungen in den Abschiedsbriefen durch subtile sinndeutende Verfahren auch nur annähernd aufgeklärt hätte. Gerade in Hinsicht auf die Abschiedsbriefe, in deren Präsentation das Verdienst der Studie liegt, hätte ein Griff in das große Arsenal textanalytischer Verfahren hilfreich sein können, wie sie z.B. die objektive Hermeneutik oder andere Ansätze in der so genannten qualitativen Sozialforschung entwickelt haben. Insofern leisten die kontextbezogenen „Deutungen“ der Abschiedsbriefe, die Goeschel in meist kurzen Absätzen anhängt, meist nicht viel mehr als das, was jeder mit gesundem Menschenverstand und ohne größere historische Bildung Ausgestattete auch hätte aus ihnen herauslesen können. In dieser Hinsicht bleibt „dieses Buch“ oberflächlich.
Dennoch ist die Arbeit des Historikers eine beträchtliche und bietet neuartige Materialien zur Geschichte des Nazismus und seiner Wirkung auf die Menschen. Das ist – wie mehrfach gesagt – der Verdienst dieser Studie, die sich auf ihre im engeren Sinne historische Kompetenz der deskriptiven Vergangenheitsdokumentation hätte beschränken sollen, wenn ihr schon die nötige Kraft und die Heuristik zur Deutung des Beschriebenen und Dokumentierten abgeht. Und so „neuartig“, wie ebenfalls eingangs reklamiert, ist auch der Ansatz nicht, Diskurse zu identifizieren, um Denken und Fühlen, Tun und Lassen der Menschen besser verstehen zu können – das ist alter Wein in neuen Schläuchen, denn das hat gute Geschichtsschreibung doch immer schon getan: Das Handeln der Menschen aus den Sinnhorizonten ihrer Zeit heraus verstehbar zu machen. Und auch die Widerlegung oder Kritik der Goldhagen-These zur Verstrickung der deutschen Bevölkerung in den Nazismus, zu ihrer stillen Zustimmung und zu ihrer Mitläufermentalität kann wegen der methodisch bedingten Deutungsschwäche durch „dieses Buch“ nicht gestemmt werden. So bleibt die Untersuchung der Suizide doch z.B. in ihrer Repräsentativität – um nur ein schlichtes Kriterium empirischer Sozialgeschichtsschreibung zu nennen – völlig unzureichend, um die m.E. aus guten Gründen kritisierbare Goldhagen-These falsifizieren zu können, wie das etwa der amerikanische Historiker Christopher Browning so überzeugend getan hat; dafür sind die gelieferten Deutungen Goeschels einfach zu aussageschwach. Das unsägliche Leiden der gesamten Bevölkerungen, also aller vom deutschen Nazismus verfolgten Menschen drückte sich doch „nur“ zu einem vergleichsweise geringen Prozentsatz im Suizid und doch in weitaus höherem, ja, in weltgeschichtlich zuvor ungekannten Maße, im Genozid aus.
Fazit
In summa leistet Goeschels Buch die angekündigte neue Historiographie des Nazi-System durch eine integrierte Gesellschafts-, Diskurs- und Individualgeschichte am Beispiel des „Selbstmord im Dritten Reich“ nicht. Insofern hält „dieses Buch“ nicht, was es verspricht. Es hätte weniger versprechen sollen, dann hätte es mehr halten können. Es hätte sich auf seine historiographische Solidität bescheiden und sich mit seinen Deutungsansprüchen zurückhalten sollen.
Rezension von
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen
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