Kurt Imhof: Die Krise der Öffentlichkeit
Rezensiert von Prof. Dr. Frank Überall, 15.08.2012
Kurt Imhof: Die Krise der Öffentlichkeit. Kommunikation und Medien als Faktoren des sozialen Wandels. Campus Verlag (Frankfurt) 2011. 319 Seiten. ISBN 978-3-593-39522-7. D: 36,90 EUR, A: 38,00 EUR, CH: 49,90 sFr.
Thema
Dass sich die öffentliche Kommunikation in einem rasanten Wandel befindet, wird wohl kaum jemand bestreiten. Von einem erneuten „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ ist die Rede, und das bezieht sich nicht nur auf die zunehmende Bedeutung des Internets. Auch die etablierten Medien verändern ihre Inhalte, was Kurt Imhof in seinem Werk grundlegend analysiert. Er zeigt, welche Gesetzmäßigkeiten gelten, um mit einem Thema in der gesellschaftlichen wie politischen Diskussion Aufmerksamkeit zu bekommen. Detailliert beschäftigt er sich mit den Chancen und Risiken dieser Entwicklung, wobei seine Sicht durchaus als pessimistisch beschrieben werden kann. Im „neoliberalen Gesellschaftsmodell“ jedenfalls sieht er abschließend keine realistische Möglichkeit einer demokratischen Entwicklung der Öffentlichkeit in Deutschland und Europa.
Autor
Kurt Imhof ist Professor für Publizistik und Soziologie am „Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich (IPMZ)“ und am „Soziologischen Institut der Universität Zürich (SUZ)“ sowie Leiter des „Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög)“.
Aufbau und Inhalt
Durch den Wandel der Medien haben sich nach Schilderung von Kurt Imhof neue Logiken der Selektion, Interpretation und Inszenierung etabliert. Akteure müssen sich danach richten, um Aufmerksamkeit und Resonanz für ihre Anliegen zu erhalten, schreibt der Medien- und Soziologie-Fachmann. Um seine Thesen zu belegen, greift er weitreichend auf die historische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens zurück: Er unterscheidet eine ursprünglich religiös gerechtfertigte „Vorsehung“ von einer durch die Aufklärung etablierte „Vernunft“ – wobei letztere seiner Ansicht nach inzwischen von zu vielen Anforderungen überlastet ist.
Der Anreiz Gutes zu tun und die Rechtfertigung des gesellschaftlichen Problems von Ungleichheit konnten Imhof zufolge in der Vergangenheit mit der Vorsehung legitimiert werden. Weil das in der Demokratie so nicht mehr möglich sei, verändere sich auch das Orientierungswissen der Menschen und die fortgesetzte Suche danach in Zeiten des sozialen Wandels sowie vor allem in einer Krise. Die Kategorie der Öffentlichkeit sieht Kurt Imhof bei der soziologischen Untersuchung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse bisher als zu wenig beachtet. Für Bürgerinnen und Bürgern in der Demokratie sei ein Glaube an die Gemeinschaft wichtig, welcher faktisch nur über eine gemeinsam geteilte Öffentlichkeit produziert werden könne. Der Selektionsprozess der Kommunikation und damit die Grundlage von Entscheidungsprozessen würden durch bestimmte Strukturen der Aufmerksamkeit bestimmt, wobei der Autor vor allem Bilder, Symbole und Debatten als Wegmarken sieht.
Ausgehend von der aufklärerischen Grundbedingung einer freien öffentlichen Deliberation werden in dem Werk die unterschiedlichen Ansätze vorwiegend politisch links stehender Wissenschaftler in Bezug auf Öffentlichkeit erläutert. Letztlich zieht Imhof das Resümee, die umfassende Ökonomisierung der Medien führe zu einer Konformität sowie zu einer Standardisierung und Trivialisierung der medienvermittelten Massenkultur. Unter Rückgriff auf die kritische Theorie der „Frankfurter Schule“ beschreibt der Autor einen medialen „Verblendungszusammenhang“, der durch Effekte der Symbolisierung, Inszenierung, Emotionalisierung und Personalisierung öffentlicher Kommunikation gekennzeichnet sei. Das Publikum werde von den Medienmachern nicht mehr als Gruppe von Staatsbürgern geschätzt, sondern als bloße Ansammlung von Konsumenten. Dadurch wachsen nach Imhof die Chancen nicht etablierter politischer Akteure, während die politischen Institutionen ihre legitimierende Öffentlichkeit zunehmend verlieren.
Der Autor beschreibt, wie sich vor dem Hintergrund von Krisen die Strukturen der Erwartung, Aufmerksamkeit und Gesellschaft verändern. Ein besonders Augenmerk legt er dabei auf die Sonderform der „aktivierten Öffentlichkeit“, die sich durch einen politischen Konflikt ergibt. Diese Perioden unterscheiden sich demnach fundamental von der passiven bzw. ritualisierten Öffentlichkeit. Konflikte sind demnach Inputs für das politische Handlungssystem, die eine Unterbrechung der Prozessroutinen verlangen. Die Rolle der Medien hat sich nach Darstellung von Imhof dabei seit der Aufklärung vor allem verändert, weil sie in der Vergangenheit frei von kommerziellen Interessen und entsprechenden Publikumsadressierungen waren. Gleichzeitig unterstellt der Autor eine Ablösung des sozialmarktwirtschaftlichen durch ein neoliberales Gesellschaftsmodell und eine Verlagerung von Entscheidungen auf transnationale Ebenen.
Als Folge dieser Entwicklungen sieht Kurt Imhof eine „alarmistische Empörungsbewirtschaftung“, die den Medien Aufmerksamkeit vermitteln soll. Die Bedeutung von Public Relations steige demnach an, die Politik gerate unter „Reaktionsstress“ gegenüber dem medialen Aktualitätsmodus, und in einer art „horse-race-journalism“ gehe es vor allem um eine Personalisierung von Streit-Beziehungen. Medien für tiefe Einkommens- und Bildungsschichten würden sich zudem auf Softnews konzentrieren und an der ritualisierten Öffentlichkeit der Beobachtung des politischen Systems nicht mehr teilnehmen. Politik und Ökonomie würden zunehmend „ausschließlich im Betroffenheitsmodus“ thematisiert.
Nach einem inhaltlichen Ausflug in die Entwicklung der Konfliktforschung unterscheidet Imhof wesentlich zwischen Routine- und Fundamentalkonflikten, um vor allem letztere intensiver zu betrachten. Mehr-oder-Weniger-Konflikte würden hier zu Entweder-oder-Konflikten, die zu einer Popularisierung führen. Kompromisse als Konfliktlösung würden dadurch verhindert. Fundamentalkonflikte würden öffentliche Kommunikation komplett in ihren Bann ziehen, ihre Verdichtung bedeute zugleich eine Reduzierung der Komplexität. In solchen Krisen- oder Umbruchzeiten komme es auch immer wieder zu einer Problematisierung des Fremden.
Die Ausdifferenzierung des Religiösen als Privatsache bei gleichzeitig intensiverer moralisch-subjektiver Charakterisierung von Konflikten führt laut Imhof zu gesellschaftlichen Problemen. Krisen und Katastrophen würden Begründungszusammenhänge vermissen lassen, die vor allem unter Rückgriff auf kollektiv verfügbare Leitbilder gesucht würden. Letzter fänden sich am ehesten in der Geschichte. Soziale Bewegungen und Protestparteien hätten hier einen Anknüpfungspunkt, der Öffentlichkeit aktivieren könne. Der Autor beschreibt verschiedene Kategorien der krisenhaften Gesellschaftsentwicklung, um zu dem Schluss zu kommen, dass der Nationalstaat derzeit vor enormen Problem steht. Zwingend sei die Genese einer über die nationalen Arenen hinauswachsenden politisch-kulturellen Öffentlichkeit – zum Beispiel in der EU – notwendig. Bisher sei deren Entstehung aber nicht zu beobachten.
Diskussion
Die Rolle der Religion im Gegensatz zur Aufklärung derart in den Mittelpunkt zu stellen, ist eine gewagte Ausgangsbasis. Trotzdem gelingt es Kurt Imhof, das Fehlen einer internationalen Öffentlichkeit und die Mängel der öffentlichen Kommunikation in Deutschland auf den Punkt zu bringen. Es ist sein Verdienst, ein Versagen der Medien im öffentlichen Diskurs nicht nur pauschal zu beklagen, sondern konkret zu beschreiben und zu analysieren. Trotzdem ist das Werk keine empirische Arbeit im eigentlichen Sinne, sondern eine allgemeine theoretische Annäherung. Somit dient es zumindest als gute Grundlage, die von interessierten Wissenschaftlern mit konkreten Studien gefüllt werden kann. Die Zusammenfassung von Konfliktmodellen und der Rolle von Medien und Öffentlichkeit ist in dem Buch gelungen. Zu Recht beklagt Imhof den weitgehenden Verlust abgewogener Berichterstattung und ruhiger Bewertung zu Gunsten jeweils aktueller Aufgeregtheiten. Sein Werk kann somit auch im medienpolitischen Diskurs als wissenschaftliches Kompendium zur Verortung eines allgegenwärtigen Phänomens dienen. Es ist ein Glückfall, dass der Autor die Fachbereiche Soziologie und Publizistik aufgrund seines persönlichen Hintergrunds zusammen zu bringen weiß. Als Kritikpunkt bleibt gleichwohl zu nennen, dass die einseitige Verknüpfung seiner Kritik mit dem neoliberalen Gesellschaftsmodell Imhof’s politischen Standort allzu klar erkennen lässt.
Fazit
Das Buch bietet eine durchdachte Analyse des öffentlichen Diskurses in der Bundesrepublik und von dessen Fehlen in der Europäischen Union. Kurt Imhof beschreibt, wie sich die Struktur der deliberativen Demokratie bzw. der Arenen von Öffentlichkeit aus historischer Sicht und aktuell gewandelt haben. Punktgenau beschreibt er, welche Themen (noch) von den Medien problematisiert werden und welche Folgen das für den politischen wie gesellschaftlichen Diskurs hat.
Rezension von
Prof. Dr. Frank Überall
Medien- und Politikwissenschaftler an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft; www.politikinstitut.de
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Zitiervorschlag
Frank Überall. Rezension vom 15.08.2012 zu:
Kurt Imhof: Die Krise der Öffentlichkeit. Kommunikation und Medien als Faktoren des sozialen Wandels. Campus Verlag
(Frankfurt) 2011.
ISBN 978-3-593-39522-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12862.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
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