Ahmet Derecik: Der Schulhof als bewegungsorientierter Sozialraum
Rezensiert von Dipl. Sozialpädagoge Holger Seidel, 20.06.2012

Ahmet Derecik: Der Schulhof als bewegungsorientierter Sozialraum. Eine sportpädagogische Untersuchung zum informellen Lernen in Ganztagsschulen.
Meyer & Meyer
(Aachen) 2011.
350 Seiten.
ISBN 978-3-89899-712-6.
D: 24,95 EUR,
A: 25,70 EUR.
Sportforum. Dissertations- und Habilitationsschriftenreihe - 28.
Thema
Kinder und Jugendliche verbleiben durch verschiedene Veränderungen im Schulsystem täglich immer länger in der „Institution“ Schule. Bewegung wurde neben dem Lernstoff als wichtige Ausgleichsmöglichkeit erkannt. Somit rückt der Schulhof als bewegungsorientierter Sozialraum in den Focus und bietet ein hoch aktuelles Thema. Zum Untersuchungsschwerpunkt, dem informellen Lernen in Ganztagsschulen, gibt es bisher kaum vergleichbare Erhebungen. Die Untersuchung schließt somit eine bestehende Lücke im Forschungsstand.
Autor
Ahmet Derecik, der Autor des Buches, forscht und lehrt im Arbeitsbereich Bildung und Unterricht im Sport am Institut für Sportwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Für die Veröffentlichung seiner Dissertation, welche in Form dieses Buches vorliegt, erhielt er den Ommo-Gruppe-Preis 2011 der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft.
Entstehungshintergrund
Dass Lernen sich in unserer schnelllebigen Zeit grundlegend verändert hat mussten wir in Deutschland spätestens bei der Bekanntgabe der PISA Ergebnisse mit Erschrecken feststellen. Für eine nachhaltige Verbesserung der Ergebnisse wurden u.a. Ganztagsschulkonzepte in ihrer Umsetzung forciert. Durch den täglich längeren Verbleib im Schulsystem muss Schule heute auch andere Bildungsausgaben erfüllen. Neben dem klassischen, dem Formalen Lernen ist dies mit Nicht-formalem und informellem Lernen verbunden. Informelles Lernen wird als Lernen im Alltag, im Familienkreis oder auch in der Freizeit bezeichnet. Der Schulhof kann als bewegungsorientierter Sozialraum enormes Potential für informelles Lernen bieten. Dabei werden die Theorien des informellen Lernens, des Raumbegriffs und des Aneignungskonzepts verknüpft und auf Ganztagsschulen bezogen.
Aufbau und Inhalt
Der Aufbau des Buches spiegelt das Forschungsdesign und die Herangehensweise an die Untersuchung wider. In den Kapiteln 1-6 wird grundlegendes Wissen über den Arbeitsschwerpunkt vermittelt sowie Ziele und Vorgehen der Forschung erläutert. Hauptinhalt sind die Untersuchungsergebnisse im Kapitel 7.
In Kapitel 1 stellt der Autor die Problemstellung der Arbeit in den Vordergrund. Mit sehr fundierten Kenntnissen und Verweisen kann Derecik dabei die Wichtigkeit der Arbeit erläutern. In diesem Kapitel wird auch deutlich, dass so gut wie keine Forschungsergebnisse über dieses Thema vorliegen.
Kapitel 2 erläutert die Hintergründe von Informellem Lernen in der Ganztagsschule. Der Bogen wird dabei vom Informellen Lernen in der Schule allgemein bis hin zur Funktion des Schulhofs im Lernkontext gespannt.
Kapitel 3 erläutert die prinzipiell gegensätzlichen Betrachtungsweisen des Raumbegriffes und definiert den gelebten Raum für die vorliegende Arbeit. Wiederum werden danach Bewegung und Raum auf zwei verschiedenen Ebenen betrachtet. Durch Bewegung als Mittler zwischen Raum und gesellschaftlichen Strukturen wird aus diesem Raum ein Sozialraum und hat damit enorm große Bedeutung für den Kontext Schule.
Das Kapitel 4 erläutert die das Zustandekommen von informellen Lernmöglichkeiten im Sozialraum und erklärt dies mit dem Aneignungskonzept.
In Kapitel 5 fasst der Autor seine Erkenntnisse zusammen und formuliert zwei zentrale Fragestellung:
- Welche informellen Tätigkeiten werden von Schülern auf Schulhöfen von Ganztagsschulen ausgeübt?
- Wie hängen diese mit den alters- und geschlechtstypischen Formen der Aneignung von Räumen zusammen?
Kapitel 6 beschreibt die komplexe Untersuchungskonzeption. Dabei werden in der Erhebung die Methoden Gruppendiskussion, teilnehmende Beobachtung und Leitfadeninterview verwendet. Hier wird auch noch einmal die Verortung der Arbeit im Kontext der „Studie zur Entwicklung von Bewegung, Spiel und Sport in der Ganztagsschule“ erkennbar. Allein die Rohdaten lassen mit 4.150 Seiten den enormen Umfang der Untersuchung erkennen.
In Kapitel 7 werden die Untersuchungsergebnisse präsentiert. Derecik unterteilt die Tätigkeiten der Schüler dabei in 10 Nutzungsbereiche und diese wiederum in drei verschiedene Nutzungsgruppen. Die einzelnen Betätigungen werden auf die drei Nutzungsgruppen aufgeteilt und die entsprechenden Ergebnisse vorgestellt.
Kapitel 8 fasst die Untersuchungsergebnisse zusammen und der Autor gibt einen Ausblick auf Folgerungen für die Schulhofgestaltung.
Diskussion
Dem Autor gelingt eine ausgezeichnete Grundlagenarbeit, welche für das Thema informelles Lernen in Ganztagschulen und vor allem die Bedeutung der Raumgestaltung in diesem Kontext sensibilisiert. Derecik geht sehr strukturiert zu Werke, und so kann man den Verlauf der Untersuchung optimal nachvollziehen. In der Argumentationslinie des Autors entstehen keine Lücken, der Aufbau ist logisch und folgt einem roten Faden bis zum Schluss. Das Buch ist durchgehend auf einem sehr hohen Niveau geschrieben. Diese Eigenschaft macht das Buch an einigen Stellen etwas schwieriger zu lesen, die „Kost“ ist nicht immer direkt verdaubar. Um inhaltlich am Ball bleiben zu können, empfiehlt sich die eine oder andere Lesepause. Was dem Buch fehlt, was eine wissenschaftliche Grundlagenarbeit aber nicht leisten kann, sind Empfehlungen für die Praxis. Diese müsste man in einem zweiten Schritt noch erarbeiten.
Fazit
Das Buch ist vor allem für (Hochschul-) Lehrer sehr empfehlenswert, welche sich mit informellem Lernen und der Gestaltung des Sozialraums Schule befassen.
Rezension von
Dipl. Sozialpädagoge Holger Seidel
M.S.M.
Lehrkraft für besondere Aufgaben
Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften
- Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel -
Fakultät Soziale Arbeit
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