Martin Hartmann: Die Praxis des Vertrauens
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 12.03.2012

Martin Hartmann: Die Praxis des Vertrauens.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2011.
541 Seiten.
ISBN 978-3-518-29594-6.
D: 18,00 EUR,
A: 16,50 EUR,
CH: 24,50 sFr.
Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 1994.
Die Komplexität des Vertrauens
Es ist ein Zauberwort, das eingesetzt wird, wenn scheinbar Gespräche, Situationen und Verhaltensweisen aus dem Ruder zu laufen drohen, wenn Konflikte Kommunikationen erschweren oder gar unmöglich machen. „Vertrauen haben“, als ethische und moralische Charaktereigenschaft hat deshalb im philosophischen, gesellschaftlichen und individuell-alltäglichen Denken und Handeln einen hohen Stellenwert. Der Mensch, so eine biologische Interpretation, entwickelt von sich aus ein Grundvertrauen, insbesondere wenn es um Beziehungen zu anderen Menschen, um Kontakte und Kommunikation geht. Damit Vertrauen aber mehr sein kann als die Abwesenheit von Misstrauen, bedarf es eines Sozialverhaltens, das auf den Grundlagen des Logos wie des Pathos (Aristoteles) beruht. Niklas Luhmann etwa geht davon aus, dass Vertrauen ein elementarer Tatbestand des sozialen Lebens ist. Und in den Sprichwörtern wird die Bedeutsamkeit, Vertrauen zu entwickeln, in vielfältigen Ausdrücken deutlich: „Vertrauen ist das Gefühl, einem Menschen sogar dann glauben zu können, wenn man weiß, dass man an seiner Stelle lügen würde" (Henry Louis Mencken), "Vertrauen ist Mut, und Treue ist Kraft" (Marie von Ebner-Eschenbach), bis hin zur einschränkenden Habacht: "Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser", was angeblich von Lenin gesagt wurde. Bereits damit wird deutlich, dass Vertrauen nicht nur des eigenen Willens und der Fähigkeit bedarf, human zu leben, sondern vor allem auch bedingt ist durch die Bereitschaft des Gegenübers, Vertrauen entgegen zu nehmen und zu geben. Demnach ist die Frage danach, was Vertrauen ist und sich auswirkt, nicht einfach damit zu beantworten, dass Vertrauensfähigkeit eine „weiche“ Einstellung und Verhaltensweise ist; vielmehr, das zeigen die vielfältigen Formen und Erfahrungen des Alltagslebens, dass Unvertrauen und Vertrauensverlust eng zusammenhängen mit den gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen, wie mit den Werten, Normen, kulturellen und interkulturellen Identitäten des menschlichen Daseins.
Entstehungshintergrund und Autor
„Vertrauen ist ein Phänomen, das… Komplexität reduzieren kann und Kooperation erleichtert oder überhaupt erst möglich macht“ – diese Lesart steckt in den Gewissheiten, mit denen wir eine vertrauensvolle Einstellung verbinden und einfordern für alle individuellen, lokalen und globalen Lebensbedingungen der Menschen auf der Erde. In der Charta der Vereinten Nationen (1945) wird an die Völker der Erde appelliert, „unseren Glauben an die Grundrechte der Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau…, nach Treu und Glauben…“ zu entwickeln und auszuüben. Ohne Zweifel steckt in dieser Aufforderung und Hoffnung die Erwartung, dass es der Menschheit gelingen möge, Vertrauen zueinander aufzubauen, „durch Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Völkern auf den Gebieten der Erziehung, Wissenschaft und Kultur zur Wahrung des Friedens und Sicherheit beizutragen, um in der ganzen Welt die Achtung vor Recht und Gerechtigkeit, vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten zu stärken, die den Völkern der Welt ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder Religion durch die Charta der Vereinten Nationen bestätigt worden sind“, wie es in der Verfassung der UNESCO vom 16. 11. 1945 heißt.
Dass freilich diese Erwartungen sich nur schwer realisieren lassen, ist eine Binsenweisheit, die die Menschheitsgeschichte durchzieht und immer wieder auch in Frage stellt. Der Mensch als „Lamm“ oder „Wolf“, das bleibt weiterhin die Frage, genauso wie die Erkenntnis, „dass Vertrauen ein komplexes Phänomen ist“. In einer Studie geht der Luzerner Philosoph Martin Hartmann dem Phänomen nach, indem er begrifflich, kulturell und historisch klärt, was Vertrauen ist, wie es entstehen und zerstört werden kann und in welchen Zusammenhängen Menschen sich vertrauenswürdig oder misstrauisch begegnen. Der Autor unternimmt dabei den Versuch zu erklären, dass „die Komplexität des Vertrauens… nicht darauf beruht, dass eine neue Komplexität freigesetzt wird, weil zuvor andere Komplexitäten reduziert werden konnten“; weil es „Gründe des Vertrauens und Gründe des Misstrauens“ gibt, die Interaktionsprozesse bei Menschen bestimmen, rational und emotional. Wenn nämlich Vertrauenseinstellungen moralisiert und als Sollens- und Forderungskataloge formuliert werden, ohne dabei die „härteren“ Variablen, wie etwa Macht, Einfluss und Konvention zu berücksichtigen, realisiert sich Vertrauen nur unzulänglich und versagt nicht selten bei den „raueren“ Wirklichkeiten des Lebens.
Aufbau und Inhalt
Es geht um die „Praxis des Vertrauens“, das sich entwickelt in intakten und guten Vertrauenspraktiken und aufgehoben ist in einem rationalem Bewusstsein, dass der Vertrauenserwerb ein aktives, soziales Verhalten bedingt, das sich in „dichten Interaktionsprozessen häufig in einem praktischen Rahmen vollzieht, der als solcher einen Teil der Gründe generiert, die das Vertrauen, das die Subjekte zueinander haben“. Betrachtet man die vielfach benutzten Synonyme zum Vertrauensbegriff – Freundschaft, Nähe, Sympathie, Anerkennung, Würde, Gleichheit, Selbständigkeit, Urteilskraft, Unabhängigkeit, Wechselseitigkeit… – so wird deutlich, dass diese „weichen“ Begrifflichkeiten und Eigenschaften zwar im individuellen Bereich tragfähig sein können, etwa, wenn Aristoteles in seiner Ethik davon spricht, dass es unter Freunden nicht der Gerechtigkeit bedürfe, weil wahre Freunde einander kein Unrecht täten (Ottfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 446), jedoch die Ankerfähigkeit verlieren (können) bei der Frage, wie Vertrauen mit dem Fremden, den Andersartigen, erworben werden kann: „Praktiken bedürfen, um stabil zu bleiben, übereinstimmender Urteile, die sich auf das Selbstverständnis der an der Praxis beteiligten Akteure beziehen“.
In der Einleitung diskutiert der Autor die „Komplexität des Vertrauens“, indem er anhand einer Geschichte aus einem Kinderbuch die Bedeutung des „Praxisvertrauens“ erläutert und das Phänomen des Vertrauens von anderen Phänomenen differenziert. Danach gliedert er die Studie, die er als „systematische Theorie des Vertrauens“ versteht, in 18 Kapitel, die er mit einem Schlussteil beendet.
Die Frage „Was ist Vertrauen?“ wird im ersten Teil mit dem ersten Kapitel durch Begriffsanalyse eingeleitet, mit der Hartmann eine abstrakte Kernbedeutung des Vertrauensbegriffs herausarbeitet, bei der er „Vertrauen … (als) eine relationale, praktisch-rationale Einstellung“ definiert, „die uns in kooperativer Orientierung und bei gleichzeitiger Akzeptanz der durch Vertrauen entstehenden Verletzbarkeiten davon ausgehen lässt, dass ein für uns wichtiges Ereignis oder eine für uns wichtige Handlung in Übereinstimmung mit unseren Wünschen und Absichten eintritt, ohne dass wir das Eintreten oder Ausführen dieses Ereignisses oder dieser Handlung mit Gewissheit vorhersagen oder intentional herbeiführen können…“.
Es sind die Varianten des Grundvertrauens, wie Urvertrauen, primitives Vertrauen, Weltvertrauen, die sich in der jeweiligen Bedeutung und Wirkung zeigen, also beschrieben, sich bewusst gemacht werden müssen, um durch die verschiedenen Handlungsoptionen realisiert und bewertet zu werden. Wenn also Vertrauen, wie in der genannten Definition, als eine „relationale Einstellung“ verstanden wird, müssen verschiedene Elemente der Beschreibung des Zustandes wirksam werden können, wie z. B. die Relationalität, der Optionalität und der akzeptierten Verletzbarkeit.
Weil aber dem „Urvertrauen“ in gleicher Weise ein „Urmisstrauen“ (Erikson) als „zerstörtes Ur- oder Weltvertrauen“ entgegen steht, bedarf es der Wachsamkeit und der Suche nach vertrauensbildenden Maßnahmen, also der Suche nach dem „handlungsermöglichenden Charakter des Vertrauens“. Ins Spiel kommt dabei die Bedeutung des „kommunikativen Vertrauens“, denn „solange wir bestimmte Interessen haben, die wir durch Kommunikation verwirklichen wollen, müssen wir mehr oder weniger konsistent wahrhaftig sein und können auch anderen ein Interesse an Wahrhaftigkeit unterstellen, das uns vertrauen lässt“.
Selbstverständlich kommt in diesem Kontext die Bedeutung von „Charakter, Proposition, Proeinstellung“ zum Tragen und es stellen sich Fragen, wie: Ist Vertrauen eine Einstellung?, eine Emotion?, ein sich Verlassen-Können auf den anderen? Es ist einsichtig, dass Unterschiede vorliegen, ob vertrauensvolle Verhältnisse aus eigener Absicht, also intrinsisch, oder von Außen veranlasst werden. Wie darauf explizit eingegangen werden kann, ob mit den Vorstellungen und Mächten des Sollens oder Müssens, oder des Wollens und der Selbstentscheidung, hängt entscheidend davon ab, wie Vertrauen akquiriert, also praktisch geworden ist.
Die Gegenstandsbereiche, denen Vertrauen entgegen gebracht wird, ob Menschen, Tieren, Sachen, Prozessen und Entwicklungsverläufen, differenzieren wiederum in unterschiedlicher Weise: Da ist zum einen das notwendige und für Vertrauensbildung hilfreiche Selbstvertrauen, das in der englischen Semantik unterschiedlich als „self-confidence“ und „self-trust“ zeigt.
„Praxisvertrauen“, als die anzustrebende Einstellung zu einem „Vertrauensklima“, ist abhängig von Variablen, die sich zum einen darin zeigen, dass bei einem Klima des Vertrauens zwischen Individuen auch Ungewissheiten, Unsicherheiten und Unbestimmtheiten vorhanden sind, auf die die Beteiligten keinen Einfluss haben; zum anderen es sich um ein komplexes Phänomen handelt, bei dem vielfältige Faktoren wirksam sind, die im einzelnen nicht durchschaut und beherrscht werden können; zum dritten ein Kommunikationsbedürfnis vorhanden ist, das Klärungen avoziert; schließlich neben rationalen auch affektive und emotionale Aspekte wirken. Exemplarisch wird der Fragenkomplex am Akt des Versprechens in den vielfältigen Formen und Wirkungsweisen verdeutlicht.
Im zweiten Teil werden „Praktiken des Vertrauens“ anhand der (nicht transzendentalisierten und verabsolutierten) Annahme thematisiert, dass „es nur Gesellschaften geben kann, wenn eine hinreichend große Anzahl von Subjekten Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit als intrinsisch wertvolle Tugenden betrachten“. Dies, bei durchaus angebrachtem Zweifel zu verifizieren, bedarf es der Nachschau nach den Mustern und Rechtfertigungsordnungen, die Gesellschaften generieren. Eines der Elemente ist „Gottvertrauen“, wie es sich in den christlichen Religionen und Kulturen etabliert hat und als aktives und passives Vertrauen darstellt und herleiten lässt aus der römischen Fides-Kultur als Moral-, Treue- und Vertrauenswürdigkeits-Begrifflichkeit, der Hobbesschen Naturlehre, der Misstrauensmetapher und der Akzeptanz von Hierarchien als Grundlage des menschlichen Naturzustandes; John Lockes Loslösung hin zur natürlichen Prägung des Menschen zur Sozialität beruht ja auf der Auffassung, dass Vertrauen ein von Natur aus vorhandenes Gut ist, das lediglich durch die belohnende Geste oder strafende Hand Gottes verändert werden kann. Der konsequente, erweiterte Schritt wäre zu tun, wenn es um die „Demokratisierung des Vertrauens“ geht, die auf der Gemeinwohlhoffnung und des Staatsbürgertums beruht. Hier freilich gewinnen die Absichten, Aktivitäten und Einstellungen Bedeutung, in welcher Weise, eigen- oder uneigennützig, Menschen sich Vertrauen zugestehen. Wir sind auf dem Feld des wirtschaftlichen Denkens und Handelns und der Frage, wie der homo oeconomicus sein Verhalten, seine Wünsche und Vorstellungen regelt: Entweder im Sinne des nationalökonomischen Denkens, wie es von Adam Smith als „Theorie der rationalen Entscheidung“ (Rational choice) entwickelt wurde, oder als Kooperationspraktiken von ökonomischen Tauschprozessen…, in denen es den daran beteiligten Subjekten nicht nur darum geht, ihren unmittelbaren Interessen nachzugehen, sondern auch darum, einander als Freie und Gleiche anzuerkennen“.
In diesen Diskurs passen auch die Aufforderungen, vom homo oeconomicus zum homo empathicus zu werden (Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9048.php) und der Perspektivenwechsel, der davon ausgeht, die Welt als Gemeingut zu betrachten und Gemeingüter als gesellschaftliche Werte zu verstehen, wie dies die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom postuliert (Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php).
Fazit
Vertrauenspraxis lässt sich weder verordnen; sie liegt nicht in den Genen und kommt nicht zufällig daher. Sie ist auch nicht selbstverständlich, „sondern selbst Gegenstand eines Vertrauens…, das unterstellt wird, wenn mit anderen vertrauensvoll interagiert werden soll“. Die Quintessenz der Studie ist: „Wir müssen nicht vertrauen… und können Vertrauen oft durch Kontrolle oder vermehrte Überwachung ersetzen. Aber es gibt Dinge, die wir nur tun können, wenn wir vertrauen, und es gibt Dinge, die wir tun, weil wir vertrauen und das Vertrauen für intrinsisch wertvoll halten, selbst wenn wir sie anders tun könnten“. Das ist Dilemma und Chance zugleich. Martin Hartmann analysiert in seinem Buch die vielfältigen, individuellen, egoistischen, kollektiven, sozialen und dialogischen Bedingungen, wie eine Praxis des Vertrauens entstehen kann. Dabei stellt er sowohl gängige Theorien und Konzepte in Frage, wie er auch den historischen, wissenschaftlichen Diskurs danach befragt, welche Ansätze und Lösungsversprechen sich bewährt haben oder gescheitert sind, und welche möglicherweise für die gegenwärtige und zukünftige Weltentwicklung taugen. Er formuliert keine Versprechen, sondern zeigt auf, dass Vertrauenspraxis nur im ständigen Mühen und Nachdenken zu finden ist.
Die Studie „Die Praxis des Vertrauens“ des an der Universität Luzern lehrenden Philosophen Martin Hartmann, greift eine Thematik auf, die im individuellen und gesellschaftlichen, lokalen und globalen Umgang der Menschen miteinander eher selbstverständlich und konsensual vorgegeben betrachtet und selten in der Komplexität und Vielfalt der Ausprägungen wahrgenommen wird. Nicht zuletzt deshalb stellen sich bei der Handhabung Illusionen und Enttäuschungen ein, die zu vermeiden wären, würde man der Bedeutung des Begriffs auf den Grund gehen; denn in die Auseinandersetzung mit den Begriffen erschließen sich Wirklichkeiten und Praxis!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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