Meron Mendel: Jüdische Jugendliche in Deutschland
Rezensiert von Alina Gromova, 30.08.2012
Meron Mendel: Jüdische Jugendliche in Deutschland. Eine biographisch-narrative Analyse zur Identitätsfindung.
Fachbereich Erziehungswissen Goethe-Universität Frankfurt
(Frankfurt am Main) 2010.
308 Seiten.
ISBN 978-3-9813388-1-2.
19,90 EUR.
Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft, Reihe Monographien - 10.
Thema
Die junge Generation der Juden in Deutschland ist in der aktuellen Forschung stark unterbeleuchtet. Mit seiner Doktorarbeit „Jüdische Jugendliche in Deutschland. Eine biographisch-narrative Analyse zur Identitätsfindung“, die an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main im Bereich der Erziehungswissenschaften verfasst wurde, widmet sich Meron Mendel der Frage nach den Entwicklungsprozessen jüdischer Identität bei den jüngeren Juden, die heute in Deutschland leben. Mit Hilfe von 25 biographisch-narrativen Interviews mit Jugendlichen im Alter von 16 bis 19 Jahren werden ihre Eigenbilder und Eigendeutungen rekonstruiert und mit der Methode der „Rekonstruktion narrativer Identität“ analysiert. In der vorliegenden Studie werden sowohl die Jugendlichen berücksichtigt, die in Deutschland geboren wurden, als auch die Einwanderer, die seit den 1990er Jahren als Kinder zusammen mit ihren Familien aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind.
Aufbau und Inhalt
Die Monographie, die mit einem Vorwort von Micha Brumlik beginnt, besteht aus zwei Hauptteilen.
- Der erste Teil „Theorie“ liefert einerseits die theoretischen Forschungsgrundlagen, anderseits vermittelt er die soziologischen und historischen Hintergründe des Themas Identität jüdischer Jugendlicher in Deutschland.
- In dem zweiten, „Empirischen Teil“, werden die Ergebnisse der Interviewanalyse präsentiert und mit den theoretischen Grundlagen verknüpft.
Nach der Einleitung folgt der 2. Kapitel, der zunächst eine Einführung in die psychologischen Entwicklungsprozesse der Identität im Jugendalter gibt. Nach dem Ansatz des „symbolischen Interaktionismus“ wird die Identität als „die Fähigkeit des Subjekts verstanden, eine Balance herzustellen zwischen den widersprüchlichen Erwartungen unterschiedlicher Interaktionspartner und dem eigenen Bedürfnis, Kontinuität, Kohärenz und Konsistenz herzustellen.“ (S. 21) Im Mittelpunkt der Diskussion steht dabei die „Erzählung“ die als Basis für die Kommunikation verstanden wird. Es wird beschrieben, wie man anhand des Erzählens der eigenen Lebensgeschichte die narrative Identität rekonstruieren kann. In diesem Zusammenhang wird diskutiert, in welchem Verhältnis die individuelle Identität und die kollektive Identität zueinanderstehen und insbesondere deren permanente Veränderbarkeit vor dem Hintergrund geschichtlicher, politischer und gesellschaftlicher Praktiken hervorgehoben.
Der 3. Kapitel beschäftigt sich mit dem Begriff der jüdischen Identität. Der Autor erkennt, dass die jüdische Identität nicht mehr, wie in der Vor-Moderne, hermetisch ist, sondern sich im Laufe der Moderne und Post-Moderne zu einer mehrdimensionalen Identität entwickelte. Während es im Mittelalter klare Grenzen zwischen Juden und Nichtjuden gab, verschmelzten diese Grenzen zunehmend, so dass Juden oft nicht-jüdische Partner heirateten. Es werden die Entwicklungsprozesse der jüdischen Identität in Europa, Israel und Amerika aus historischer und soziologischer Perspektive nachgezeichnet. Dabei wird ein mehrdimensionales Verständnis des Begriffs vorgeschlagen, welches sowohl auf religiösen als auch ethnischen Merkmalen beruht und außerdem das Verhältnis zu Israel und Reaktionen auf Antisemitismus berücksichtigt.
Im 4. Kapitel widmet sich der Autor der Situation der Juden in der Bundesrepublik Deutschland. Besonders vor dem Hintergrund der Einwanderung der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre wird diskutiert, welche Formen des jüdischen Selbstverständnisses sich in Zukunft in Deutschland entwickeln. Am Ende des Kapitels wird das religiöse und kulturelle Gemeindeleben beschrieben und ein Überblick über die Bildungs- und Erziehungseinrichtungen im schulischen und außerschulischen Bereich gegeben.
Nachdem im 5. Kapitel die Erhebungs- und Auswertungsmethoden der Studie näher umrissen werden, stellt der 6. Kapitel die Ergebnisse der empirischen Analyse vor. Insgesamt werden drei Typologien um drei unterschiedliche Fragen entworfen. Als erstes wird gefragt, wie jugendliche Einwanderer ihre Migrationsgeschichte narrativ in ihre biographischen Erzählungen einbetten. Durch die Interviewanalyse stellt Mendel fest, dass die Jugendlichen in ihrem Umgang mit Migrationssituation drei typische Akkulturationsstrategien wie Assimilation, Integration und Isolation erkennen lassen. Diese äußeren sich u.a. in den Zukunftsvorstellungen der Befragten. So ist Isolation häufig mit Auswanderungswünschen verbunden, während Assimilation keine Auswanderungsabsichten erkennen lässt. Die Integrationsnarrative stellt einen Mittelweg da, bei dem eine Auswanderung nicht ausgeschlossen ist aber auch nicht forciert wird.
Die zweite Typologie, die Mendel aus seinem Interviewmaterial ableitet, bildet sich um die Frage, „in welcher Weise Jugendliche ihre eigene Selbstentwicklung im Hinblick auf ihre Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt retrospektiv beschreiben.“ (S. 22) Dafür wird das Verhältnis der Mitglieder einer Minderheit zur Mehrheitsgesellschaft analysiert und dabei vier typische Verhaltensmuster im Umgang mit Konflikten herausgearbeitet, welche die Grundeinstellungen der Befragten zu ihrem sozialen Umfeld zeigen: Hinwendung zu Instanzen, Vermeidung von Direktheit, Konfrontation und interpersonale Bewältigung.
Im Mittelpunkt der letzten Typologie der Studie steht die Frage, woran die Jugendlichen ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft festmachen und welche Identitätsentwürfe sich dabei erkennen lassen. An dieser Stelle unterscheidet Mendel drei typische Identifikations- und Prägungsformen: Prägung durch die religiöse Erfahrung, Prägung durch das familiäre Umfeld, Prägung durch die Gemeindeaktivität. Der Vergleich zwischen den „alteingesessenen“ und eingewanderten Jugendlichen zeigt, dass die „alteingesessenen“ Jugendlichen ihren Bezug zum Judentum viel Stärker mit der Sozialisation in der Familie als die einwanderten Jugendlichen verbinden. Die letzteren berufen sich hingegen häufig auf die Gemeinde oder den Jugendverband als Institutionen, die ihre jüdische Identität geprägt haben.
Diskussion und Fazit
Eine Studie über Identitätskonstruktionen von jüdischen Jugendlichen, wie Meron Mendel sie vorgelegt hat, wurde sowohl von der akademischen Öffentlichkeit als auch von den Akteuren der jüdischen Jugendarbeit bereits seit langem erwartet. Während sich die Forschung bisher hauptsächlich der älteren Generation der Juden in Deutschland gewidmet hat, blieb die junge Generation der in Deutschland lebenden Juden mit ihrem Verständnis der jüdischen Identität, der Einstellung zur nicht-jüdischen Umwelt und den Zukunftsvorstellungen unterbeleuchtet. Während die Gruppen der „alteingesessenen“ und der eingewanderten Juden meistens getrennt voneinander untersucht wird, gelingt es Mendel, durch einen Vergleich beider Gruppen einen dynamischen und mehrdimensionalen Begriff der jüdischen Identität zu entwickeln, der sowohl die ethnisch-nationalen, als auch kulturellen und religiösen Elemente des Jüdischseins berücksichtigt.
Ein besonderer Verdienst dieser Studie liegt darin, dass Mendel die Brücke zwischen der Wissenschaft und der praktischen Jugendarbeit schlägt, indem er am Ende der Monographie aus den Ergebnissen seiner Analyse mehrere Ratschläge für eine erfolgreiche Arbeit der Erziehungs- und Bildungseinrichtungen der jüdischen Gemeinden ableitet. Leider fehlt in der Arbeit der Bezug zu den jüdischen Jugendeinrichtungen, die unabhängig von der Institution der Jüdischen Gemeinde tätig sind und deren jüdisch-alternative Bildungsarbeit vor allem die mitgliederreiche Gruppe der nicht-halachischen Juden anzieht. Aufgrund ihrer sehr guten Strukturiertheit, prägnanten Zusammenfassungen und klarer Ausdrucksweise ist die Studie sowohl für die Fachleute als auch für interessiertes fachfremdes Publikum zu empfehlen.
Rezension von
Alina Gromova
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Zitiervorschlag
Alina Gromova. Rezension vom 30.08.2012 zu:
Meron Mendel: Jüdische Jugendliche in Deutschland. Eine biographisch-narrative Analyse zur Identitätsfindung. Fachbereich Erziehungswissen Goethe-Universität Frankfurt
(Frankfurt am Main) 2010.
ISBN 978-3-9813388-1-2.
Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft, Reihe Monographien - 10.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12890.php, Datum des Zugriffs 16.10.2024.
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